14.09.2024
Was wir längst wissen
Der Elefant im Raum. Grafik: Zaide Kutay.
Der Elefant im Raum. Grafik: Zaide Kutay.

Es ist Zeit, uns die Wahrheit einzugestehen: Sowohl die Forderungen an die US-Regierung als auch an die deutsche Politik, Israel mit Sanktionen zu belegen, sind zwecklos. Eine Lösung wird nur von Innen kommen.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Es gab Tage in diesem letzten Jahr, da sah es so aus, als müsste etwas, das gefühlt schon immer so war, nicht auch für immer so bleiben. Als der UN-Sicherheitsrat im März eine sofortige Waffenruhe sowie eine Freilassung aller Geiseln forderte und die USA sich bei der Abstimmung enthielten und auf ein Veto verzichteten, war beispielsweise so ein Tag. Oder als der jüdische US-Senator Chuck Schumer im gleichen Monat öffentlich Neuwahlen in Israel forderte und damit einen Skandal auslöste.

Oder als Joe Biden nach dem Tod von sieben Mitarbeiter:innen der Hilfsorganisation World Central Kitchen im Gazastreifen durch einen Luftschlag des israelischen Militärs bei einem Telefonat mit Netanjahu im April den Ton verschärfte. Die künftige Unterstützung für Israels Militäreinsatz im Gazastreifen, sagte er damals, wolle er von neuen Maßnahmen zum Schutz von Zivilist:innen abhängig machen. Da scheint es kurz, als würden die USA es ernst meinen. Nur Stunden später erlaubte Israel zusätzliche humanitäre Hilfe für den Gazastreifen.

Monate später wirkt es so, als seien all diese Drohungen eine große Farce gewesen.

Warum wird jedes Druckmittel gegen Israel ignoriert?

Gemeinsam stellen die USA und Deutschland die meisten Waffenlieferungen an Israel, wobei die USA 66 Prozent liefern, Deutschland knapp 30 Prozent und Italien ca. fünf Prozent. Seit Jahren erhält Israel jährlich Militärhilfe im Wert von 3,8 Milliarden Dollar von den USA. Seit dem 7.Oktober 2023 sendete das Land zusätzlich zehntausende Waffen. Manchmal, so ein Report der „Foundation for Defense of Democracies”, waren es so viele, dass das US-Verteidigungsministerium Mühe hatte, genügend Frachtflugzeuge aufzutreiben, um sie alle zu liefern. Mitte August genehmigte das Auswärtige Amt in Washington DC wieder Waffenverkäufe im Wert von 20 Milliarden Dollar. Auch Deutschland exportierte im vergangenen Jahr Kriegswaffen im Wert von 20 Millionen Euro nach Israel.

Zum Vergleich: Weil Israel nicht genug tue, um das Leben von Zivilist:innen zu schützen, hat das Vereinigte Königreich mittlerweile 30 Exportlizenzen für Militärausrüstung nach Israel suspendiert.

Immer wieder war die Rede davon, Finanzhilfen und Waffenlieferungen an politische Bedingungen zu knüpfen, um das Sterben im Gazastreifen zu beenden und eine Freilassung der Geiseln zu erzwingen. Nichts davon ist eingetreten. Man entschied sich, das effektivste Druckmittel gegen Israels Verbrechen zu ignorieren und weiter zu hoffen, dass das Land irgendwann selbst zur Vernunft kommt, wenn man die extremistische Regierung um Premierminister Netanjahu einfach oft genug darum bittet und ermahnt.

Verzahnte militärische und wirtschaftliche Beziehungen

Nun ist davon auszugehen, dass weder amerikanische noch deutsche Politiker:innen so doof sind, zu glauben, dass dies tatsächlich funktionieren könnte.

Wie kann es sein, dass gerade die Länder, die im Falle des Angriffskrieges der Ukraine mit Werten wie Demokratie und Völkerrecht argumentieren, im Fall Israel den Bruch dieses Völkerrechts so bereitwillig finanzieren und schönreden?

Die Wahrheit, so banal sie auch klingen mag: Weder die USA noch Deutschland werden jemals glaubwürdig politisch handeln, um Israel unter Druck zu setzen. Der Verdacht liegt nahe, dass die reelle Möglichkeit davon einfach eine Illusion ist. Zu verzahnt sind die militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Länder miteinander, zu einflussreich die proisraelische Lobby – die geschichtlichen Zusammenhänge dieser Beziehungen beschreibt der Historiker Daniel Marwiecki in seinem Buch „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson”. Könnte es sein, dass es schlichtweg irrelevant ist, was einzelne Politiker:innen oder gar Regierungen denken oder androhen?

Als Außenministerin Annalena Baerbock kürzlich bei ihrem neunten Nahostbesuch seit dem 7.Oktober davon sprach, dass die Region „nur einen Wimpernschlag von der Katastrophe entfernt“ sei, tönte das fast zynisch. Welcher Wimpernschlag? Ist die Katastrophe nicht längst eingetreten? Sind über 40.000 tote Zivilist:innen und Dutzende tote Geiseln und Soldat:innen nicht genug Katastrophe, um mit maximalem Druck auf allen Ebenen diesem ein Ende zu schaffen? Ist es nicht genug, dass Deutschland seinen internationalen Ruf als Verfechter des Völkerrechts durch seine Unterstützung für diesen grausamen Krieg, durch Repressionen und Polizeigewalt, längst verloren hat?

Müde, traurige Pflichtzeilen von Harris

Ja, bisher konnten internationale Gespräche eine regionale Eskalation möglicherweise verhindern. Aber den palästinensischen Kindern, die Stunde um Stunde in Gaza sterben, hilft das wenig. Auch den Familien der Geiseln und den Müttern der Soldaten, deren Söhne täglich sterben, hilft das nicht.

Auf dem Parteitag der Demokraten Ende August beschloss man trotz tagelangen pro-palästinensischen Protesten, das Thema Gazakrieg weitestgehend totzuschweigen –  doch während die Eltern des mittlerweile ermordeten Hersh Goldberg-Polin die Bühne betreten durften, wurde kein Palästinenser und keine Palästinenserin eingeladen. Als Kamala Harris in der Präsidentschaftsdebatte am Dienstagabend das viele Leiden unschuldiger Menschen beklagte, einen Waffenstillstand und eine Zweistaatenlösung forderte, wirkte das wie eine müde, traurige Pflichtzeile, ein kaum zu ertragendes Lippenbekenntnis. Als ob die armen Menschen ganz von allein gestorben und nicht etwa auch durch amerikanische Waffen ermordet worden seien.

Vielleicht sollten wir uns das eingestehen, was wir eigentlich längst wissen: Druck auf die US-Regierung als auch auf die Bundesregierung auszuüben, ist ineffektiv. Die Unterstützung Israels, selbst eines illiberalen rechtsextremistischen Israels, ist Teil des Selbstverständnisses und der Wirtschaft beider Staaten. Selbst die mutigsten Politiker:innen werden daran nicht rütteln können. Sie können Teil einer diplomatischen Lösung sein, aber sie werden diese Lösung nicht einleiten. Die einzigen, die das im Moment können, sind die Israelis selbst – mit ihrer Willenskraft.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich