Die Anti-AfD-Proteste lösen bei unserer Autorin auch Unwohlsein aus, denn das hier proklamierte Demokratieverständnis widerspricht dem versäumten Schutz von Betroffenen rechter Gewalt und deutschen Positionen im Israel-Palästina-Konflikt.
Nachdem die Massendeportationspläne von Rechtsextremen, AfD-Mitgliedern und zwei CDU-Vertretern auf einem Geheimtreffen in Potsdam publik wurden, sitzt der Schock in Deutschland tief. Viele nehmen die Correctiv-Enthüllungen als Weckruf wahr: In ganz Deutschland gehen Menschen zu Tausenden auf die Straße, gegen die AfD und gegen Rechtsextremismus, der nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa erheblich zunimmt. Die Menschen sprechen sich in den sozialen Medien für die Demokratie und gegen Faschismus aus und teilen Petitionen, die ein Verbot der AfD oder die Grundrechtsverwirkung des Thüringer AfD-Vorsitzenden fordern.
Das laute Bekenntnis unserer Bundesrepublik gegen rechts empfinde ich durchaus als wichtiges Zeichen. Ergriffen bin ich jedoch nicht von Plakatslogans wie „Wir sind mehr“ oder „Nein zur AfD“ und den Menschenmengen in den Großstädten. Auch wenn die Zahlen der aktuellen Mobilisierung neue Register ziehen, kennen wir eine medienwirksame Symbolik bereits von Hanau, Halle, Kassel und München. All diese Ereignisse waren bereits eindringliche und schmerzhafte Beweise für die rechtsextreme Bedrohung in unserem Land. All diese Ereignisse brachten Versprechen hervor, die dann den aktuellen Krisen und Problemen der Tagesordnung weichen mussten. Konkrete Handlungen zum Schutze Betroffener von rechter Gewalt und der Demokratie blieben weitestgehend aus.
Übergangen in meinem Verständnis von Demokratie
Ich möchte gerne glauben, dass nun wirklich alle aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht sind. Aber wo waren die lauten, solidarischen Stimmen, als Hanau-Angehörige die Entwaffnung von Rechtsextremisten forderten? Wo waren sie, als Schutz für Menschen auf rechtsextremen Feindeslisten oder Antidiskriminierungsbeauftrage in Sicherheitsbehörden gefordert wurden?
Und auch der private Raum ist politisch: Wo sind die aufmerksamen Stimmen, wenn Menschen ihre Erfahrungen mit Rassismus im Freund:innen- oder Kolleg:innenkreis teilen? Die Ignoranz gegenüber den „kleinen, unscheinbaren“ Alltagssituationen, in denen Menschen mit Rassismus konfrontiert werden, ist Teil des Ausmaßes, dem wir nun gegenüberstehen.
Warum braucht es diesen medialen und politischen Aufschrei, damit Menschen um mich herum laut werden? Warum reicht es nicht aus, Unrecht zu sehen um Unrecht zu denunzieren? Oder anders gefragt: Wieso blieben so viele in diesem Land so lange stumm, trotz einer akuten und wachsenden Bedrohungslage?
Bis vor einigen Tagen konnte ich das bedrückende Gefühl, das sich zwischen bekanntgewordenen Deportationsfantasien Rechtsextremer und Demonstrationen dagegen, in mir ausbreitete, nicht wirklich beschreiben. Es fiel mir schwer in den Demonstrationen etwas Schlechtes zu sehen, aber dennoch fühlte ich etwas wie Unrecht.
Dann merkte ich durch meinen Bekanntenkreis aber auch Gleichgesinnten auf Social Media, dass ich nicht allein mit diesem Gefühl war und nun kann ich es zuordnen: Ich fühle mich übergangen und betrogen in meinem Verständnis von Demokratie, Menschenrechten und Freiheit, das über Selbstbeweihräucherung und Worthülsen hinausgeht. Während sich weiße Menschen gerade glücklich in die Arme fallen und vom Gemeinschaftsgefühl schwärmen, ist es für Betroffene von rechtsextremer Bedrohung wie mich schwer, sich diesem Elan anzuschließen und die bundesweiten Gegendemos plötzlich zum Inbegriff von Friedlichkeit hochzustilisieren und zu verklären.
„Importierter Antisemitismus“
Denn ich weiß nicht nur, dass die breite Bevölkerung in der Vergangenheit versäumt hat, im Kampf gegen Rechtsextremismus Forderungen zu stellen. Ich wurde im Zuge der Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 auch jüngst daran erinnert, wie schnell die Stimmung gegen rechts umschlägt, wie schnell die Politik in populistischer Manier die weiße Mehrheitsgesellschaft davon überzeugt, dass „die, die nicht von hier sind“ offenbar doch der Ursprung des Übels sind.
Denn nach dem Hamas-Angriff auf Israel und dem andauernden militärische Gegenschlag durch die israelische Armee hatten Populist:innen, ohne jegliche Geschichtskenntnis des israelisch-palästinensischen Konflikts, aber auch Politiker:innen aus der „demokratischen Mitte“, bereits einen Sündenbock für den aufkeimenden Antisemitismus in Deutschland gefunden: Muslim:innen und arabischstämmige Menschen.
Indem das Thema des „importierten Antisemitismus“ auf die Agenda gesetzt wurde, war die weiße Mehrheitsgesellschaft fein raus. Nach dem Motto „Das sind nicht wir, die antisemitisch sind - das sind die“ war das politische und gesellschaftliche Problem des Antisemitismus mithilfe von Rassismus gelöst. Denn keineswegs wurde konkret über Hamas-Sympathisanten oder Antisemiten aller Couleur gesprochen, wieder wurde gegen Muslim:innen und arabischstämmige Menschen im Allgemeinen gehetzt, denen es vermeintlich an der Fähigkeit des Abstrahierens mangele.
Es fällt mir schwer dieser Tage, nicht zynisch zu werden. Nur allzu gerne würde ich das Gefühl teilen, meine Werte seien in Einklang mit denen der anderen. Nur zu gerne würde ich mit vom Gemeinschaftsgefühl schwärmen, aber dafür fühle ich mich mit meinem Demokratieverständnis viel zu weit entfernt vom öffentlichen Konsens.
„Bedingungslose Unterstützung“ für eine rechtsextreme Regierung?
Denn während sich derzeit Annalena Baerbock und Olaf Scholz auf deutschen Straßen gegen rechts bekennen, sichert unsere Bundesregierung zeitgleich der israelischen Regierung, die Rechtsextreme in ihren Reihen duldet, bedingungslose Unterstützung zu und hält nach wie vor das Narrativ der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ aufrecht. Und das, während ein Krieg anhält, der mit über 26.000 Toten in Gaza, 1.9 Millionen Vertriebenen und 93 Prozent Hungerleidenden jegliche Verhältnismäßigkeit verloren hat.
Die Demonstrationen gegen rechts in Deutschland werden für mich ad absurdum geführt, wenn pro-palästinensische Aktivist:innen auf den Anti-AfD-Demonstrationen angefeindet und als Hamas-Anhänger diffamiert werden, obwohl sie mit ihrer Stimme das in Deutschland gelehrte Demokratieverständnis einfordern und dafür eintreten, Menschenrechte aller Zivilist:innen weltweit zu achten und zu schützen.
Gelebte Demokratie als Grundlage für den Kampf gegen rechts
Unser Demokratieverständnis darf niemals selektiv sein. Es muss innenpolitisch und außenpolitisch deckungsgleich sein, kompromisslos unsere Werte widerspiegeln und für alle gleichermaßen gelten. Der Kampf für Freiheit und Gleichberechtigung, für Menschenrechte und freie Meinungsäußerung darf nicht zur Floskel unserer Selbstdarstellung verkommen. Niemand sollte sich auf seinem Demokratieverständnis ausruhen. Denn Demokratie muss jeden Tag verhandelt und aktiv gelebt werden. Dabei müssen politische Debatten und Prozesse kontinuierlich verfolgt und kritisch hinterfragt werden, besonders dann, wenn es unbequem wird.
Dass die Demos gegen die AfD sehr gut besucht sind, ist wichtig. Aber es ist kein Grund zum Feiern oder zur Freude. Der Rechtsruck ist die vorhersehbare Folge von jahrelanger deutscher Politikverdrossenheit, Abstumpfung und Resignation. Wenn wir dies nun erkannt haben, ist das ein erster Schritt. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns.