19.02.2023
Sie waren Solingen, wir sind Hanau
In Gedenken an die Opfer rassistischer Gewalt, denen Gerechtigkeit verwehrt wurde, deren Angehörige vom Staat allein gelassen für Aufklärung kämpfen müssen. Grafik: Zaide Kutay
In Gedenken an die Opfer rassistischer Gewalt, denen Gerechtigkeit verwehrt wurde, deren Angehörige vom Staat allein gelassen für Aufklärung kämpfen müssen. Grafik: Zaide Kutay

Auch drei Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau bleiben Missstände unaufgedeckt. Sie entlarven das Muster des strukturellen Rassismus in Deutschland – von Solingen bis Hanau.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Der rassistische Anschlag von Hanau jährt sich heute zum dritten Mal. Ein rechtsradikaler deutscher Mann mittleren Alters ohne Migrationshintergrund hat am 19. Februar 2020 neun jungen Menschen das Leben genommen, weil er es wollte und konnte. Drei Jahre sind vergangen und es heißt von unserer Seite weiterhin: „kein Vergeben, kein Vergessen“. Wie denn auch? Tagtäglich werden wir daran erinnert, wer wir sind und vor allem daran, wer wir nicht sind.

Ich habe die vergangenen Tage damit verbracht, zu überlegen und zu recherchieren, ich habe viel gefragt, gelesen, geschrieben und wieder gestrichen. Was könnte ich sagen, was noch nicht gesagt, was kreieren, was noch nicht kreiert wurde? Richtig, nichts, weil sich nichts geändert hat. Ich werde äußern, was immer wieder geäußert werden muss. Wir werden uns wiederholen, bis sich solche Geschehnisse wie in Hanau nicht mehr ereignen können. Wir müssen weiterhin auf die Missstände hinweisen, uns organisiert für die Opfer und ihre Familien einsetzen und uns eine Zukunft zuschreiben, sie uns aneignen, in der rassistische Gewalt keinen Platz mehr einnehmen kann. Auch wenn es sich meistens anfühlt wie ein aussichtsloses Unterfangen.

Geistige Brandstiftung

Wieder wurde eine Generation migrantisierter, rassifizierter Menschen geprägt durch ein schreckliches, gewaltvolles, tödliches Ereignis, das sie in ihrer Lebensrealität maßgeblich beeinflusst. Es spiegelt ein institutionell rassistisches Deutschland akkurat wider, wenn die Familien der Opfer des Anschlags gezwungen sind, für die Kosten der Aufarbeitung selbst aufzukommen. Während der Staat sich in anderen Angelegenheiten bereitwillig engagiert, ist er im Fall Hanau nicht interessiert. Durch Spendengelder konnte die Arbeit von Forensic Architecture finanziert werden, die mit ihrer Expertise und ihren forensischen Methoden die komplexen Zusammenhänge und Verbindungen in enger Zusammenarbeit mit den Angehörigen aufdecken konnten, die für die Ermittlungen und die Aufklärung von entscheidender Bedeutung sind.

Die Familien der Todesopfer leisten weiterhin unermüdlich Bildungsarbeit, stellen sich immer wieder der Retraumatisierung, dem Schweigen und den Ausreden der Zuständigen. Während die Politik davon spricht, den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung zu stärken, steigt die Anzahl rechtsextremistischer Angriffe stetig, die CDU holt sich die Mehrheit in Berlin – einer Stadt, in der ~37 Prozent der Bewohner:innen ein sogenannter Migrationshintergrund zugeschrieben wird – und es werden Anlässe geschaffen, um weiter und noch stärker gegen Minderheiten zu hetzen. Es wird nicht davor zurückgeschreckt, jegliche Silvesterdebatten auf Migration zurückzuführen und sogar Naturkatastrophen und Zehntausende verunglückter Menschen zu instrumentalisieren, um das ohnehin hochsensible Thema der Zuwanderung zusätzlich zu verteufeln. Diese Art geistiger Brandstiftung ist uns leider nicht fremd, das Muster zieht sich durch die Geschichte dieses auf Rassismus bauenden Landes. Nicht ohne Grund konnten die Anschläge in Hoyerswerda, Rostock -Lichtenhagen, Mölln, Solingen, Halle - um nur einige zu nennen – geschehen, nicht umsonst bleibt der NSU weiterhin unaufgedeckt.

Nicht zu vergessen ist die steigende Polizeipräsenz und daraus resultierende Gewalt, die staatlich zunehmend gefördert wird. Das ist derselbe Apparat, der in der Tatnacht am 19. Februar keine Präsenz zeigen konnte. Weder als es darum ging, die Opfer zu schützen, noch den Täter zu fassen. Auch jetzt ist es den betroffenen Familien nicht möglich, aufzuatmen ganz abgesehen davon, dass sie für die Gerechtigkeit kämpfen, die ihnen der Staat schuldet. Erst vor einigen Tagen wurde von Alena Jabarine im Reportageformat von STRG_F darüber berichtet, wie der Vater des Attentäters trotz Bekanntheit bei der Polizei eindeutig beunruhigendes und bedrohliches Verhalten gegenüber den betroffenen Familien zeigt. Serpil Unvar fragt darin, ob er erst dann als gefährlich anerkannt werden würde, wenn er auch noch beschließt, zu töten. Eine legitime Frage nach drei Jahren des Justizversagens. Am Nachmittag des 17.02., keine ganzen zwei Tage vor dem dritten Jahrestag, wurde verkündet, dass die Staatsanwaltschaft den Vater wegen des Vorwurfs der Bedrohung und Beleidigung anklagt. Immerhin.

Politisierung als Teil unserer Identität

Uns allen ist klar, dass es an jenem Abend jede:r von uns hätte sein können und sollen. Wie ist es uns möglich, etwas zu verarbeiten, bei dem wir wissen, es könnte jeden Moment wieder passieren und uns und unsere Liebsten treffen? Müssen wir mit der omnipräsenten Angst leben und die Realität unverändert akzeptieren? Soll es das gewesen sein? Nein, wir verzichten. Wir wissen, wie es sich anfühlt, Orte, die einst dem Rückzug und Austausch dienten, nun mit Ausgrenzung, Gewalt, Tod zu verknüpfen. Tod aufgrund von Herkunftsgeschichte, Aussehen, bloßer Existenz. Hanau hat uns politisiert, Rassismusdebatten aus dem akademisierten Milieu mit komplizierter Sprache in Kreise befördert, in denen sie sich in der Praxis vermehrt abspielen und wo wir uns nicht mehr in intellektuelle Formulierungen und Diskurse fliehen können, sondern der harten, gewaltvollen Realität stellen müssen. Durch die Untätigkeit der Justiz und den dadurch ausgeübten Druck auf Betroffene sind wir lauter geworden, stärker im Kollektiv, jedoch müde, rastlos.

Ich habe vor ein paar Tagen eine kurze Umfrage mit von Rassismus betroffenen Erwachsenen durchgeführt, an der sich 101 Personen beteiligten. Darin berichteten 85 Prozent davon, weiße Personen in ihrem Umfeld hätten ihnen in der Zeit nach dem Anschlag weder Mitgefühl noch Interesse gezeigt. Klingt plausibel, wenn wir bedenken, wie nach dem Anschlag konsequent und unbefangen Karneval gefeiert wurde – Prioritäten eben. Auf die nächste Frage, auf welche Weise sie das Ereignis bis hierhin verarbeitet haben, antworteten die meisten, dass ihre Energie, ihre Wut und Trauer in die eigene und in die Politisierung anderer floss. Viele andere meinen aber auch, sie hätten es gar nicht verarbeiten können. Was sich seit dem 19.02.2020 für sie geändert habe? Die meisten sind der Dominanzgesellschaft und dem Staat gegenüber misstrauischer, vorsichtiger, wachsamer und kritischer geworden. Auf die schmerzliche Enttäuschung folgt die Distanz, und mit dem Bewusstsein wächst die Angst. Unsere Gefühle können uns lähmen, aber auch dazu bewegen, Trauer und Wut in Tatendrang zu umzuwandeln; Arbeit, die nicht unsere sein sollte, die uns aber niemand abnimmt, nicht einmal die Gewalten, die dafür zuständig sind.

Vor ein paar Tagen erzählte mir ein Freund, dass sein Onkel ihm sagte „Wir waren Solingen, ihr seid Hanau.” Brennende, tief in uns eindringende und leider wahre Worte. Doch wenn sie Solingen waren und wir Hanau sind, wer werden die Generationen nach uns sein? Und wer kann uns wann und wie versichern, dass es aufhört?

 

In Gedenken an

Ferhat Unvar

Hamza Kurtović

Said Nesar Hashemi

Vili Viorel Păun

Mercedes Kierpacz

Kaloyan Velkov

Fatih Saraçoğlu

Sedat Gürbüz

Gökhan Gültekin

Und alle von rassistischer Gewalt Betroffenen; all jene, denen Gerechtigkeit verwehrt wurde und auch jene, deren Namen sich nicht in unser Gedächtnis eingebrannt haben.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

Zara Momand ist angehende Psychotherapeutin, freie Autorin und arbeitet seit 2016 primär mit geflüchteten Menschen zusammen. Seit Anfang 2021 widmet sie sich der Bildungsarbeit über ungleiche Strukturen in der psychologischen Versorgung und klärt über Störungsbilder und Einflüsse aus intersektionaler Perspektive auf.
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich