08.01.2024
Das Problem mit der IHRA-Arbeitsdefinition
Kunst bewegt sich immer auch in gesellschaftlichen Rahmen, wie eng diese gesteckt werden entscheidet über künstlerische Freiheit. Grafik: Claire DT/KI
Kunst bewegt sich immer auch in gesellschaftlichen Rahmen, wie eng diese gesteckt werden entscheidet über künstlerische Freiheit. Grafik: Claire DT/KI

Zensur und Selbstzensur zum Thema Palästina/Israel sind in der Kulturszene schon länger ein Problem. Dieses könnte mit der Adoption der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus durch den Berliner Kultursenator weiter verschärft werden.

„Kunst ist frei! Aber nicht regellos“ erklärte der Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) am Donnerstag in seiner Ankündigung, die Berliner Förderrichtlinien für Kunst- und Kulturförderung um die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus zu erweitern. Wer also in Zukunft staatliche Förderung für Kulturprojekte beantragt, muss diese Definition zur Grundlage der Bewertung von Antisemitismus akzeptieren. Die Änderung wurde kurz vor der Weihnachtspause ohne die Möglichkeit zur Debatte im Kulturausschuss oder einer Anhörung der betroffenen Kulturinstitutionen vorgenommen. Doch warum ist die IHRA-Definition so hoch umstritten und was bedeutet die Adoption für den Berliner Kulturbetrieb?

Die IHRA-Definition erklärt

IHRA steht für International Holocaust Remembrance Alliance (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken). Sie wurde im Jahr 2000 vom damaligen schwedischen Premierminister Göran Persson ins Leben gerufen. Ihr selbsternanntes Ziel ist es, Bildung über die Verbrechen des Holocaust und das Gedenken an diese zu fördern. Die Allianz besteht allerdings nicht – wie man vermuten könnte – aus jüdischen Interessensvertretungen, sondern aus über 40 Staaten. Darunter sind die USA, Deutschland, Australien und Irland, aber auch Länder mit offen rechten Regierungen wie etwa Ungarn. Die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus wurde 2016 veröffentlicht. Sie liest sich recht kurz: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

So ist es auch nicht die Definition selbst, die für Kritik sorgt, sondern manche der elf Beispiele für Antisemitismus, die ihr angehängt sind. Sieben der elf Beispiele beziehen sich auf den israelischen Staat – auch „Israel-bezogener Antisemitismus“ genannt. Etwa heißt es in Beispiel acht, „die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird“, sei antisemitisch.

Was bemängeln Kritiker:innen an der Definition?   

2018 veröffentlichten über 40 jüdische Organisationen aus aller Welt ein gemeinsames Statement, in dem sie bemängeln, dass die Definition der IHRA „legitime Kritik an Israel und das Eintreten für die Rechte der Palästinenser:innen […] unterdrückt, indem beides bewusst mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.“

Der zweite große Kritikpunkt an der IHRA-Definition ist, dass sie nicht als juristischer Text, sondern als Handreichung für das Monitoring von antisemitischen Vorfällen verfasst wurde. Sie in einem juristischen Kontext zu nutzen führe zu Rechtsunsicherheit und könne Verstöße gegen die Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Kunstfreiheit bedeuten, besagt eine Anfang Dezember veröffentlichte Stellungnahme mehrerer Anwält:innen, darunter Professor:innen für internationalen Menschenrechtsschutz, internationales Recht und ein Richter am Sondertribunal für den Kosovo.

Ebenso betonen die Jurist:innen darin, dass in der bisherigen Praxis die IHRA-Arbeitsdefinition zur Einschränkung von Grundrechten genutzt wird – eine Schlussfolgerung, zu der auch ein Bericht des European Legal Support Center (ELSC) vom Juni 2023 anhand von 53 Beispielen kommt. In all diesen Fällen sei die IHRA-Arbeitsdefinition genutzt worden, so ELSC, um vorwiegend palästinensische und jüdische Stimmen, die Israel kritisieren, zum Schweigen zu bringen. Bei den Fällen, die es vor Gericht schafften, konnte der Vorwurf des Antisemitismus nicht richterlich bestätigt werden.

In der praktischen Anwendung ist die IHRA-Arbeitsdefinition also zu unpräzise um rechtlich wirksam zu sein. Die Adoption der Definition durch den Berliner Senat könnte demnach dazu missbraucht werden, die deutsche Meinungs- und Kunstfreiheit in Bezug auf Israel und Palästina noch weiter einzuschränken als es ohnehin der Fall ist.

Noch mehr Repression gegen Palästina-Solidarität?

In den vergangenen drei Monaten wurden in Deutschland Dutzende Kulturveranstaltungen im Zusammenhang mit der Hamas-Attacke auf Israel am 7. Oktober und dem darauffolgenden israelischen Vergeltungsschlag auf Gaza abgesagt. Begründet wurde dies meist mit der angespannten politischen Lage, in den meisten Fällen standen palästina-solidarische Positionen von Teilnehmenden im Raum.

Die Fassade des Oyuns mit Protestbannern. Foto: Oyun

Die Foto-Biennale Rhein-Neckar, die im November 2023 stattfinden sollte, zeigte das beispielhaft. In den sozialen Netzwerken warf eine der Kurator:innen Israel einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza vor. Dies endete mit der Absage der gesamten Veranstaltung. In einem weiteren Fall wurde dem Kulturzentrum Oyoun die Förderung durch öffentliche Gelder komplett entzogen. Grund hierfür: Die Ausrichtung einer Trauer- und Gedenkfeier der mit dem Göttinger Friedenspreis ausgezeichneten Gruppe Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden. Dies sei „versteckter Antisemitismus“, behauptete der Berliner Kultursenator vor einigen Wochen in einer Sitzung des Kulturausschusses. Als verheerende Konsequenz der Einschätzung Chialos haben über zwanzig Mitarbeitende des Oyoun zu Beginn dieses Jahres ihren Job und damit ihre Lebensgrundlage verloren.

Das Beispiel Oyoun macht deutlich, wie der Vorwurf des Antisemitismus missbraucht werden kann, um Stimmen zum Schweigen zu bringen, die der Politik der israelischen Regierung und Deutschlands uneingeschränkter Solidarität mit Israel kritisch gegenüberstehen. Sollte die IHRA-Definition zur Voraussetzung für Kulturförderung werden, ist es zukünftig noch einfacher, Kulturschaffenden aufgrund einer kritischen Haltung gegenüber der israelischen Regierung die Förderung zu kürzen oder sie gar nicht erst zu genehmigen.

Von Zensur zu Selbstzensur

Nicht nur die Einschränkung der oben genannten Kunstfreiheit ist eine Folge der Implementierung der IHRA-Arbeitsdefinition, sondern auch die vorauseilende Selbstzensur – der sogenannte chilling effect. Das bedeutet, dass etwa Kulturschaffende von vorneherein vermeiden, bestimmte Perspektiven, Begriffe und Symboliken, die als pro-palästinensisch gewertet werden könnten, in ihre Arbeit einfließen zu lassen – und zensieren sich damit selbst.

Dass Selbstzensur innerhalb der deutschen Kunst- und Kulturszene zum Thema Palästina/Israel keine Neuheit ist, wissen politisch engagierte Künstler:innen nur zu gut. Schon 2020 sprachen einige im Zusammenhang mit der ein Jahr zuvor durch den Bundestag verabschiedeten nicht-bindenden BDS-Resolution von einem „Klima der Angst“ in der deutschen Kulturszene. Die Adoption der IHRA durch den Berliner Senat könnte das Phänomen der Selbstzensur unter Künstler:innen nun noch weiter ausdehnen.

Eine alternative Antisemitismusdefinition: Die Jerusalemer Erklärung

Eine sinnvolle Alternative zur IHRA-Definition könnte die Jerusalemer Erklärung zu Antisemitismus sein. 2021 veröffentlichten 210 Professor:innen für Jüdische Studien, Holocaust-, Israel-, Palästina- und Nahoststudien die Definition als Gegenentwurf zur IHRA-Arbeitsdefinition, die laut den Wissenschaftler:innen „in wichtigen Punkten unklar und für unterschiedlichste Interpretationen offen ist, […] Irritationen ausgelöst und zu Kontroversen geführt [hat], die den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt haben.“

Die Jerusalemer Erklärung soll dagegen die Grenze zwischen Antisemitismus und legitimer Israelkritik deutlicher ziehen um Missbrauch vorzubeugen. Im Gegensatz zur IHRA-Arbeitsdefinition benennt sie „faktenbasierte Kritik an Israel als Staat“ als nicht antisemitisch. „Dazu gehören seine Institutionen und Gründungsprinzipien, seine Politik und Praktiken im In- und Ausland, wie beispielsweise das Verhalten Israels im Westjordanland und im Gazastreifen, die Rolle, die Israel in der Region spielt, und jede andere Art und Weise, in der es als Staat Vorgänge in der Welt beeinflusst,“ heißt es in der Erklärung.

Zudem wird in darin ausgeführt, dass für eine Bewertung als Hassrede die Begründung einer Kritik des israelischen Staates maßgeblich sein sollte. Kritik, die ihren Ursprung in der Ablehnung gegenüber Juden und Jüdinnen hat, ist demnach als antisemitisch zu werten. Eine Kritik an der israelischen Besatzungs- und Apartheidpolitik sei aber beispielsweise nicht antisemitisch, weil ihr Ursprung im Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde liege.

Mit der Anwendung der Jerusalemer Erklärung wäre im Sinne der Kunstfreiheit gewährleistet, dass sich Kulturschaffende gegen die Politik jeder Regierung positionieren können – auch die israelische – ohne, dass tatsächliche Fälle von Antisemitismus bagatellisiert werden.

 

 

Jara Nassar ist deutsch-libanesische Schriftstellerin, Fotografin und Performerin. Sie schreibt auf Deutsch und Englisch Theatermonologe, Gedichte, Prosa und Kurzgeschichten. Sie ist Redaktionsmitglied bei Glitter - die Gala der Literaturmagazine.
Redigiert von Lissy Kleer, Iman Fritsch, Pauline Jäckels