27.06.2023
Das Erdbeben traumatisiert auch aus der Ferne
Aufräumarbeiten in Adıyaman, Türkei, nach den Erdbeben. Foto: Hasan Açan IG: hasanacan
Aufräumarbeiten in Adıyaman, Türkei, nach den Erdbeben. Foto: Hasan Açan IG: hasanacan

Fünf Monate nach dem Erdbeben in Kurdistan, der Türkei und Syrien kämpfen Angehörige in Deutschland weiter mit den psychischen Folgen. Psychiater Jihad Alabdullah bietet Beratung in Berlin und spricht im Interview über seine Arbeit.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 8,8 Millionen Menschen allein in Syrien von Folgen des Erdbebens vom 6. Februar 2023 betroffen. Jihad Alabdullah kennt ihre Situation und die ihrer Angehörigen in Berlin gut: Der 45-Jährige ist Psychiater im Vivantes Humboldt-Klinikum in Berlin. In den vergangenen vier Monaten hat Alabdullah mit seinen Kolleg:innen im Zentrum für Transkulturelle Psychiatrie Beratungen für Angehörige von Betroffenen des Erdbebens in der Türkei und Syrien angeboten.

Der Berliner Psychiater Jihad Alabdullah stammt aus der zentralgelegenen Stadt Al-Qaryatain in Syrien. Foto: Privat

Jihad Alabdullah, wie ist Ihr Eindruck, wie erging es den Deutsch-Syrer:innen und anderen, die Angehörige verloren haben, seit dem Beben?

Direkt nach dem Erdbeben waren viele Patient:innen in einem akuten, traumatischen Zustand. Etwa sechs Wochen später habe ich gemerkt, dass die Leute sich neu orientieren. Die Patient:innen haben ab da versucht das Problem logisch zu lösen. Wie genau ist unterschiedlich von Mensch zu Mensch. Es gab eine Frau aus Aleppo, die mir erzählt hat, dass sie Spenden gesammelt hat – allein und ohne Organisation. Sie hat die Spenden an hilfsbedürftige Personen in Aleppo verteilt, hat es geschafft, das Geld über Bekannte dorthin zu bringen. Es eine Erleichterung für sie, dass sie etwas tun konnte, auch wenn es eine kleine Sache war. Aber kleine Sachen sind für die Menschen dort sehr wichtig.

Wie haben sich die Folgen des Erdbebens bei Ihren Patient:innen bemerkbar gemacht?

Angstsymptome sind vermehrt aufgetreten. Schlafstörungen, Unruhe, Sorgen. Und vor allem die Angst, dass es ein erneutes Erdbeben geben wird.  Alle waren unruhig und haben sich Gedanken darüber gemacht, wie sie Hilfe leisten können. Und wie sie die Symptome, die sie selbst haben, besser beherrschen können.

Wie konnten Sie Ihren Patient:innen helfen?

In einigen Therapien haben wir mit einer medikamentösen Behandlung angefangen, die Medikamente aufdosiert oder geändert, damit es den Patient:innen besser geht. Ich habe außerdem Informationen vermittel, zum Beispiel darüber, was mit den Menschen vor Ort nach dem Erdbeben passiert. Es war hilfreich, etwas an die Hand zu geben.

Kommen auch heute noch Angehörige der Erdbebenopfer zu Ihnen in die Sprechstunde?

Die Nachfrage ist im April und insbesondere im Mai stark zurückgegangen und momentan gibt es gar keine neuen Anfragen. Die Sprechstunde bieten wir deswegen seit Anfang Juni nicht mehr an. Wir dürfen jedoch die Stammpatient:innen nicht vergessen. Ich habe drei Patient:innen, deren Kinder leben im Erdbebengebiet. Bei anderen leben die Eltern dort. Der Bruder von einer Patientin, die ich betreue, war direkt betroffen. Ihre Therapie läuft wie immer weiter. Die neuen Belastungsfaktoren werden nun dazu behandelt.

Sie sehen also noch Bedarf bei den Angehörigen in der syrischen Community in Berlin?

Ja, die Belastung durch das Erdbeben ist eher ein zusätzlicher Faktor. Ich bin bei dem Verein Manzoul aktiv. Wir wollen zusammen mit dem House of Ressources Berlin an einem Projekt für die syrische Community arbeiten, noch ist die Förderung leider nicht bewilligt. Die Idee für das Projekt hatten wir schon vor dem Erdbeben, es hat die Unterstützung aber noch dringender gemacht. In diesem Projekt, „Wasel“ – Arabisch für Verbindung, sollen vor allem Kinder und ältere Personen zusammenkommen und durch bestimmte Aktivitäten ihre Belastungen mindern. Als Pilotprojekt soll es sechs Monate laufen, mit einem wöchentlichen Treffen hier in Berlin.

Der Verein unterstützt auch Menschen im Erdbebengebiet. Wie genau?

Wir sind als Partner bei einem Projekt dabei, bei dem es um die Betreuung von Waisenkindern geht, die durch das Erdbeben ihre Eltern verloren haben. Laut der Zahl, die im Förderungsantrag steht, sind es etwa hundert Kinder. Aktuell werden sie in einer Unterkunft in der Nähe von Idlib in Nordsyrien untergebracht und betreut. Wir tragen als Psycholog:innen und als psychosozialer Unterstützungs-Verein zu dem Projekt bei.

Wie konnte Ihr Verein in der Zeit direkt nach dem Erdbeben helfen?

Es hat mindestens fünf bis sechs Tage gedauert, bis irgendeine internationale Hilfe in Nordsyrien angekommen ist. Das hat viele Leben gekostet. In dieser Zeit hätten Leute aus den Trümmern befreit werden können. Von Deutschland aus haben wir erstmal einen Spendenaufruf zum Erdbeben gemacht. Dabei haben wir mehr Geld bekommen, als erwartet. Es ist nicht viel im Vergleich zu anderen großen Organisationen, aber wir konnten mit diesen Spenden etwas bewegen, vor allem in den Orten, an denen sonst noch gar keine Unterstützung ankam. Das Problem der internationalen Akteure wie zum Beispiel der WHO war, dass ihre Unterstützung vor Ort sehr verzögert ankam. Wir haben Kontakte aus unserem schon vorher laufenden Projekt im Erdbebengebiet und konnten dadurch schnell etwas erreichen. Wir haben zum Beispiel Benzin für die Menschen vor Ort gekauft, damit sie mit ihren Maschinen Verschüttete aus den Trümmern befreien können.

Dauert diese Hilfe noch an?

Diese Aktion war als direkte Antwort auf die Krise gedacht. Etwa hundert Familien haben von den Spenden profitiert. Viel Zeit ist vergangen. Nun können wir hoffentlich bald die zuvor erwähnten Projekte umsetzen. Den Leuten vor Ort zu helfen ist momentan sehr wichtig, der Schulaufbau zum Beispiel. Wir arbeiten daran, eine Alternative für die beschädigte Schule zu finden. Deswegen reise ich nächste Woche in die Türkei, nach Gaziantep und das Umland.

Was passiert aktuell mit dem Menschen im Erdbebengebiet?

Ich selbst war seither nicht mehr vor Ort. In einem Telefonat hat mir ein Kollege jedoch von seiner Fahrt von Reyhanlı an der türkischen Grenze zu Syrien nach Gaziantep erzählt. Zwischen den beiden Städten wurden Leute in Zelten untergebracht. Es gibt türkisch- und arabischsprachige Psycholog:innen vor Ort, die psychosoziale Unterstützung anbieten. Durch die Situation mit der Wahl in der Türkei ist wahrscheinlich wenig passiert in den vergangenen Wochen. Und auch in Syrien sind die Entwicklungen aktuell sehr ungewiss. Ich reise bald selbst in das Gebiet. Dabei wollte ich eigentlich auch nach Syrien, aber ich habe Angst, dass die Grenze wieder geschlossen wird und man nicht mehr rauskommt.

Was erhoffen Sie sich für die Menschen in Syrien und auch die syrische Community hier in Deutschland?

Mein Wunsch ist es, dass die versprochenen Hilfsangebote kommen. Ich war am Brandenburger Tor, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Februar seine Rede gehalten hat. Die Regierung wollte helfen und unterstützen. Sie sollte das besser mit den Betroffenen koordinieren und die Vereine, die vor Ort arbeiten, unterstützen. Nicht, dass das Geld durch einen bürokratischen Dschungel geht und man nachher nicht weiß, wo es ist.

Wie geht es Ihnen selbst mit der Situation und auch mit ihrer Arbeit?

Als Psychiater behandle ich andere Menschen, aber bin letztendlich auch ein Mensch. In den ersten Stunden und Tagen brachte das, was ich mitbekommen habe, auch mir viel Leid. Gott sei Dank ist niemand aus meiner engeren Familie betroffen. Eine Strategie ist, mich abzugrenzen, indem ich Zeit mit meiner Familie verbringe, mich ablenke und auf andere Sachen konzentriere. Meine Vision, und auch ein Appell an andere ist jedoch, mit meinen Ressourcen dort zu helfen, wo ich kann. Dadurch, dass ich helfe, fühle ich mich besser, auch erleichtert.

 

 

Clarissa studiert aktuell den Transnationalen Journalismus Master in Mainz und Paris. Zuvor hat sie ihren Bachelor in Französisch und Sozialwissenschaften an der HU in Berlin abgeschlossen. Ihre Interessen sind Sprache, Gesellschaft und Kultur. In ihrem Studium, Schreiben und Handeln versucht sie ihre eigene eurozentristische Denkweise zu...
Redigiert von Jana Treffler, Clara Taxis