Die systematische Zerstörung von Gazas Bildungseinrichtungen durch Israel zielt auf die Zukunft der Region. Der palästinensische Medienwissenschaftler Dr. Wesam Amer erklärt, warum es sich dabei um einen Scholastizid handelt.
Dr. Amer, können Sie erklären, was der Begriff Scholastizid bedeutet?
Der Begriff Scholastizid hat in letzter Zeit vor allem in akademischen und aktivistischen Kreisen an Bedeutung gewonnen. Er wurde jedoch bereits vor einiger Zeit geprägt. Die Professorin Karma Nabulsi von der Universität Oxford führte ihn erstmals ein, um die systematische Zerstörung von Bildungseinrichtungen im Gazastreifen durch Israel während der Militäroperationen im Jahr 2009 zu beschreiben.
Wenn das Phänomen nicht neu ist, warum wird es dann erst seit kurzem verstärkt wahrgenommen?
In jedem Krieg in Gaza wurden Universitäten und Bildungseinrichtungen zerstört. Doch erst seit Oktober 2023 beschäftigen sich die Menschen intensiver mit der Frage, was mit der Bildungsinfrastruktur in Gaza geschieht.
Zunächst lag der Schwerpunkt auf der humanitären Krise, was auch richtig war. Als die systematische Zerstörung von Universitäten und Schulen jedoch nicht mehr zu leugnen war, tauchte der Begriff Scholastizid wieder auf. Diesmal mit viel mehr Nachdruck. Er wird nun verwendet, um die gezielte Auslöschung des palästinensischen Bildungssystems zu beschreiben. Der Begriff wird unter anderem von Akademiker:innen, Aktivist:innen und sogar von UN-Beamt:innen vor Ort aufgegriffen.
Wie würden Sie die Bedeutung des Begriffs heute einschätzen?
Der Begriff Scholastizid schärft den Blick für die Realität in Gaza. Denn geht es nicht nur um einzelne Angriffe. Es geht um den absichtlichen Abbau von Bildung. Scholastizid macht also deutlich, dass die Zerstörung von Bildung keine Nebenwirkung des Krieges ist, sondern ein Ziel an sich. Die Zerstörung von Schulen und Universitäten ist somit ein Angriff auf die Zukunft Palästinas, auf seine Hoffnung und auf das Wissen, das die Palästinenser:innen aufbauen wollen. Als Wissenschaftler finde ich den Begriff daher sehr aussagekräftig, da er die Zerstörung durch die Brille der Bildung betrachtet. Zwar wird jeder Bereich angegriffen, doch erlaubt es uns der Begriff Scholastizid, speziell die Auslöschung des akademischen Lebens zu analysieren: der Institutionen, der Wissenssysteme sowie der Studierenden und Lehrenden.
625.000 Schüler:innen und 22.564 Lehrer:innen sind davon betroffen. Seit dem 7. Oktober sind die Schulen in Gaza geschlossen. Die Student:innen und Schüler:innen konnten keinen einzigen Tag normal lernen. Professor:innen können nicht unterrichten. Forscher:innen können nicht forschen. Die Infrastruktur ist zerstört. Und doch publizieren einige unter den Trümmern weiter und bitten Kolleg:innen im Ausland um Hilfe bei der Bearbeitung ihrer Arbeiten. Dies ist eine Form des intellektuellen Widerstands, eine Art zu sagen: „Wir sind noch da, wir glauben noch an das Wissen.“
Würden Sie sagen, dass der Begriff überwiegend im akademischen Bereich verwendet wird, oder ist er bereits in der breiten Öffentlichkeit angekommen?
Er wurde sicherlich zunächst in akademischen Kreisen verwendet, insbesondere von Wissenschaftler:innen und Institutionen, die sich mit akademischem Aktivismus beschäftigen. Doch inzwischen geht er über diesen Bereich hinaus. Wir beobachten, dass er zunehmend in politischen Diskussionen, in der Medienberichterstattung und sogar von humanitären Organisationen verwendet wird. Er wird zu einem wichtigen Begriff, um die Tiefe und Besonderheit der Geschehnisse in Gaza zu erfassen.
Dr. Wesam Amer ist Gastwissenschaftler, Mitglied des Council for At-Risk Academics (CARA) und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Cambridge. Foto: Filiz Yildirim. 2025
Angriffe auf Bildung gibt es auch in anderen Teilen der Welt, aber der Begriff Scholastizid scheint vor allem im Zusammenhang mit Gaza besonders präsent zu sein. Worin liegt Ihrer Meinung nach diese enge Verbindung?
Es gibt mehrere Faktoren, die den Fall Gazas besonders hervorheben. Da wäre zunächst das schiere Ausmaß der Verwüstung: Israels Krieg gegen den Gazastreifen hat zu einer fast vollständigen Zerstörung des Hochschulwesens geführt. Im Gazastreifen gab es zwölf Hochschuleinrichtungen (acht Universitäten und vier Colleges), die alle zerstört wurden.
Dabei sind Hunderte Akademiker:innen und Tausende Student:innen und Lehrer:innen ums Leben gekommen. Die gezielten Angriffe auf Schulen haben fast nichts übriggelassen. Es gibt keine Infrastruktur, keine Klassenräume und keine Ressourcen mehr. Es ist nichts mehr übrig, was irgendeine Art von Bildungsprozess ermöglichen würde.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Angriffen auf Universitäten und den eigentlichen militärischen Zielen?
Die gesamte Bildungsinfrastruktur in Gaza ist zerstört. Was hat das mit der Hamas zu tun? Es gibt keine Rechtfertigung für die Zerstörung einer Schule oder einer Universität, wenn das Ziel darin besteht, die Hamas zu stoppen. Es sei denn, das eigentliche Ziel ist die Vertreibung der Bevölkerung und die Auslöschung des Lebens in Gaza. Das hat keine militärische Logik, sondern nur eine politische, eine zerstörerische.
Geht dieses Ausmaß an Zerstörung über den Bildungssektor hinaus?
Ganz genau. In Gaza ist Bildung weit mehr als nur der Akt des Lernens. Sie ist eng mit Identität, Überleben und Widerstand verbunden. Für die Palästinenser:innen ist Bildung eine Form der Resilienz. Selbst unter der Blockade und im Krieg haben unsere Eltern und Großeltern immer betont, wie wichtig sie ist. Sie wird als einer der wenigen Wege zu Würde und Hoffnung gesehen.
In einem Land, in dem die Wirtschaft weitgehend gelähmt ist, in dem wir keinen Zugang zu natürlichen Ressourcen haben und die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt ist, ist Bildung der einzige gangbare Weg zu finanzieller Stabilität. Sie ist der einzige Weg, den viele Familien für ihre Kinder sehen, um sich eine Zukunft aufzubauen. Wenn also die Bildung zur Zielscheibe wird, trifft dies den Kern unserer Überlebensstrategie als Volk.
Bereits am zweiten Tag dieses Krieges, dem 8. Oktober 2023, begann Israel, Universitäten ins Visier zu nehmen. Die Islamische Universität und die Al-Azhar-Universität, die beiden größten wissenschaftlichen Einrichtungen in Gaza, gehörten zu den ersten, die getroffen wurden. Diese frühen und gezielten Angriffe gaben den Ton an für das, was folgen sollte. Im Süden, insbesondere in Khan Younis und Rafah, wurden Universitätsgelände vorübergehend in Notunterkünfte für Vertriebene umgewandelt. Doch auch diese wurden schließlich von Israel zerstört.
Wurden Sie speziell als Wissenschaftler ins Visier genommen?
Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich aufgrund meiner akademischen Rolle herausgegriffen wurde. Ich war in keine Widerstandsaktivitäten verwickelt. Aber ich fühlte mich extrem eingeschränkt darin, was ich sagen konnte. Sich zu äußern, ist gefährlich. Wir haben gesehen, was passiert ist: Ausgesprochene Akademiker:innen wie Dr. Refaat Alareer oder mein Vorgänger als CARA-Stipendiat in Cambridge, Wiesam Essa, wurden getötet. Journalist:innen sind zur Zielscheibe geworden. Es spielt keine Rolle, wer sie sind - wenn sie ihre Stimme erheben, sind sie in Gefahr.
Es geht nicht nur um Widerstand, sondern auch darum, die Wahrheit zu sagen. Und das ist gefährlich. Deshalb mache ich mir große Sorgen - nicht nur um mich selbst, sondern auch um meine Familie, Freund:innen und Kolleg:innen, die noch in Gaza sind. Jeder, der sich äußert, bringt sein gesamtes Umfeld in Gefahr. Wir haben nicht das Gefühl, dass dies ein Krieg gegen die Hamas ist. Es fühlt sich an wie ein Krieg gegen alle in Gaza, um die Existenz Gazas auszulöschen.
Vorhin haben Sie Bildung als eine Form des Widerstands beschrieben. Ist angesichts all dieser Zerstörung noch Widerstand möglich?
Ja, absolut. Das Wort an sich ist Widerstand, al-kalima muqawama. Sich zu äußern ist Widerstand. Schreiben ist Widerstand. Und auch die Feder ist Widerstand, al-qalam muqawama. Sie können mächtiger sein als jede andere Form des Widerstands. Deshalb müssen wir unsere Stimmen erheben. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir zum Schweigen gebracht oder ausgelöscht werden - vor allem nicht, wenn wir lediglich Verbrechen aufdecken und unser Recht auf freie Meinungsäußerung einfordern.
Einige Wissenschaftler:innen bezeichnen diesen Prozess als De-Entwicklung oder Ent-Zivilisierung. Sehen Sie hier einen Zusammenhang?
Ja, und sogar einen sehr starken. Meine Mentorin in Harvard, Dr. Sara Roy, hat ausführlich über die De-Entwicklung im Gazastreifen geschrieben und darüber, wie Israel jeden Aspekt des nachhaltigen Lebens untergräbt. Die Zerstörung von Universitäten ist ein Teil davon. Bei der Bildung geht es nicht nur um das Lernen; sie ist ein Weg zur Beschäftigung und finanziellen Stabilität. Wenn man sie zerstört, wird die Armut vertieft. Den Menschen wird eine Falle gestellt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die israelischen Anschuldigungen gegen das palästinensische Bildungswesen. Diese besagen, dass Schulbücher und kulturelle Materialien anti-israelische Aufwiegelung oder Indoktrination fördern würden. Diese Vorwürfe haben sich auf das palästinensische Bildungssystem ausgewirkt, insbesondere auf die vom UNRWA verwaltete Grundschulbildung, die ihrerseits von den wichtigsten Gebern mit erheblichen finanziellen Einschnitten konfrontiert ist.
Gibt es angesichts all dessen Lehren für Wissenschaftler:innen, die diese Entwicklung beobachten?
Wir müssen unser Verständnis von moralischer Verantwortung überdenken. Welche Rolle kommt den Wissenschaftler:innen zu? Und welche Rolle kommt den Universitäten zu? Im Westen herrscht eine Art Lähmung. Einige wollen wirklich helfen, andere verstecken sich hinter Fragen wie „Was können wir tun?” Aber ich glaube, jede Professorin, jeder Professor, jede Universität weiß genau, was sie tun können. Sie können palästinensischen Gelehrten Raum geben. Sie können Druck auf Verwaltungen ausüben, damit diese eine moralische Haltung einnehmen. Die Universitäten können Druck auf die Regierungen ausüben. Wir haben das in Spanien, im Vereinigten Königreich und in den USA gesehen. Die Studierendenproteste waren sehr wirkungsvoll. Das Gleiche gilt für Norwegen, Schweden und Australien. Wissenschaftler:innen und Student:innen können etwas bewirken. Bei Solidarität geht es nicht nur um Empathie oder symbolische Gesten. Es geht um Taten.
Um künftige Verbrechen zu verhindern, ist es unerlässlich, Israel für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen.
Da sich Israel jedoch weitgehend der Rechenschaftspflicht entzogen hat, setzt es seine Belagerung, Besetzung und militärischen Operationen seit 17 Jahren fort, einschließlich wiederholter Kriege. Hätte es echte Konsequenzen gegeben, hätte die anhaltende Gewalt, die wir heute erleben, vielleicht vermieden werden können. Ohne ernsthaften und anhaltenden Druck seitens der internationalen Gemeinschaft wird der Konflikt jedoch wahrscheinlich nicht aufhören.