03.10.2022
Deutungshoheit über BDS in Deutschland
Es gibt mehr Perspektiven auf BDS als die, die in den deutschen Debatten dominant sind. Grafik: dis:orient
Es gibt mehr Perspektiven auf BDS als die, die in den deutschen Debatten dominant sind. Grafik: dis:orient

Die deutsche Debatte zur BDS-Bewegung ist stark polarisiert. Wichtiger wäre es, über den deutschen Diskurstellerrand zu schauen und eine größere Vielfalt an Lebensumständen anzuerkennen, findet Dominik Winkler.

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers „BDS im deutschsprachigen Raum“. Mit den Beiträgen wollen wir verschiedenen Zugängen zur Debatte um BDS in Deutschland Raum geben. Im Editorial gehen wir auf den Hintergrund des Dossiers ein und stellen euch die Beiträge vor.

Die Lager sind oft klar getrennt: Palästinasolidarität gegen Israelsolidarität. Anti-Imperialist:innen streiten mit Anti-Deutschen. Vorwürfe von anti-palästinensischem Rassismus stehen gegen die von israelbezogenem Antisemitismus. Bei vielen Fragen sind die Argumente so unvereinbar, als stammten sie aus unterschiedlichen Welten.

Das liegt auch daran, dass fundamental unterschiedliche Lebensumstände mitdiskutiert werden, von denen die meisten außerhalb des Vorstellungsvermögens der deutschen Dominanzgesellschaft[1] liegen. Im Diskurs zur BDS-Bewegung treffen verschiedene Realtäten aufeinander – welche davon als legitim anerkannt, und welche delegitimiert oder schlicht nicht mit einbezogen werden, entscheidet mit den Verlauf der Debatte.

Was trennt, was verbindet?

Eine dieser Realtäten ist der Ursprungskontext der BDS-Bewegung. Diese entstand nicht im luftleeren Raum, sondern entwickelte sich gegen Ende der zweiten Intifada aus einem zivilgesellschaftlichen Bündnis im Kontext gescheiterter Friedensverhandlungen und einer heftigen Gewalteskalation. Auch vor dem Hintergrund der südafrikanischen Anti-Apartheitsbewegung und dem Civil Rights Movement in den USA sieht sich die BDS-Bewegung als gewaltfreie Alternative zu bewaffneten Konfrontationen und gescheiterter Diplomatie.

Die unterschiedlichen Erfahrungsräume und Referenzen führen zu einem Spannungsverhältnis. Einerseits müssen die Unterschiede anerkannt werden: Unter Gewalt von Siedler:innen und des israelischen Militärs aufzuwachsen, oder von klein auf Prävention gegen Terroranschläge zu lernen ist etwas anderes, als in einem nie komplett denazifiziertem Deutschland groß zu werden und sich mit den Verbrechen der Großeltern zu beschäftigen. Die Spannung, die sich aus den unterschiedlichen Lebenswelten ergibt, muss erst einmal ausgehalten werden.

Auf der anderen Seite greift die Vorstellung völlig getrennter Räume zu kurz. Deutschland ist kein homogener weißer[2] Raum, sondern hat eine jahrhundertelange Geschichte, die Migrant:innen, Juden und Jüdinnen und Palästinenser:innen einschließt. Auch ist Deutschland im Konflikt vor Ort kein neutraler Staat, sondern verfolgt eigene geopolitische Interessen während deutsche Unternehmen und Institutionen von dem Konflikt profitieren.

Wie mit den Unterschieden umgehen?

Aus diesem Spannungsverhältnis folgt nicht die Frage, welche Seite Recht hat – was in Deutschland meist die einzige relevante Frage zu sein scheint. Viel wichtiger ist, wie sich diese unterschiedlichen Erfahrungen zueinander verhalten, und welche vermeintlichen Wahrheiten sich in der Debatte herausbilden.

Michael Rothberg brachte den Begriff „Multidirektionale Erinnerung“ in die Debatte um das Verhältnis von Holocaustgedenken und Umgang mit kolonialer Vergangenheit ein. Er zeigt auf, wie Erinnerung nicht linear verläuft, sondern durch viele Perspektiven und Lebensrealitäten geprägt wird, die sich gegenseitig beeinflussen und ergänzen. Die deutsche Debatte zur BDS-Bewegung ist offensichtlich nicht von einem multidirektionalen Verständnis geprägt. Die eingangs beschriebenen Konfliktlinien im deutschsprachigen Diskurs schaffen vielmehr ein schwarz-weiß Bild konkurrierender Positionen.  

Dabei ist das Verständnis der „Lage vor Ort“ meistens ähnlich vereinfacht: Auf der einen Seite stehen die israelische Regierung, Siedler:innen und einige israelische Menschenrechtsorganisationen, auf der anderen Seite die Palästinensische Autonomiebehörde und manchmal palästinensische Menschenrechtsorganisationen. Debatten und Proteste, die sich beispielsweise gegen die Autonomiebehörde richten oder an den NGOs Kritik üben, sind vor Ort relevant, dringen aber selten bis nach Deutschland.

Gerade diese ausgeblendete Vielzahl an Erfahrungen und Perspektiven außerhalb der weißen deutschen Deutungshoheit könnte den entscheidenden Beitrag zur Debatte um die BDS-Bewegung leisten. Multidirektionale Solidarität existiert und wird immer wieder neu verhandelt: Wie verhalten sich beispielsweise Solidaritätsbewegungen aus Kurdistan und Palästina zueinander, aktuell und historisch inmitten von pan-arabischer Solidarität? Wie verhält sich BDS zu der syrischen Opposition? Diesen Perspektiven Raum zu geben, wäre wertvoller, als altbekannte Grabenkämpfe in der deutschsprachigen Debatte zu BDS auszufechten.

Spannungen aushalten

Es geht bei der Anerkennung anderer Lebensrealitäten und Bezüge nicht um eine Relativierung, in der kein Richtig oder Falsch mehr möglich ist. Vielmehr muss das beschriebene Spannungsverhältnis analysiert werden, aus dem heraus erst eine ernsthafte Debatte um BDS möglich ist. Der Autor Nathan Sznaider plädiert als Gegenentwurf zu einem europäischen Universalismus, aus einer explizit jüdischen Denktradition, für eine Praxis des „Sowohl- als Auch“, das sich nicht harmonisch zueinander verhält, sondern um das in einem ständigen Konflikt gerungen werden muss.

Die Anerkennung fundamental abweichender Lebensrealitäten bedeutet im Kontext von Israel/Palästina für Sznaider, dass der Staat Israel für ihn die legitime Heimatstätte und notwendiger Schutzraum für Jüdinnen und Juden ist, während er gleichzeitig anerkennt, dass Israel für viele Palästinenser:innen ein Siedlerkolonialstaat ist – eine Analyse, der manche Teile der israelischen Gesellschaft in der Debatte zustimmten, die in Deutschland aber gerne ignoriert wird.

Aus diesem Ansatz heraus kann die partikulare deutsche Erfahrung benannt und anerkannt werden. Das heißt für den hiesigen Diskurs, dass ein entschiedenes Entgegentreten gegen Antisemitismus Handlungsmaxime bleibt. Dass „Don’t buy“ Sticker von BDS in einem deutschen Kontext Assoziationen mit dem Nazi-Slogan „Kauft nicht bei Juden“ weckt, ist nicht wegzudiskutieren. Gleichzeitig kann dies nicht als die einzig relevante Position für eine global organisierte und heterogene Bewegung gelten.

Entsprechend der Maxime der postkolonialen Theorie, muss die Existenz der einen universellen Referenz ohnehin infrage gestellt werden. Von diesem Punkt aus kann dann die Multiperspektivität aufgegriffen werden, in der Verflechtungen, Ambivalenzen und Widersprüche innerhalb der Debatte verstanden werden.

Israel vs. Palästina – damit ist es nicht getan

Abseits des medialen Bildes von Israel/Palästina ist die Lebenswelt vor Ort ambivalenter, als es Berichte der Tagesschau oder endlosen Debatten auf Facebook darstellen. Dazu gehören palästinensische Freund:innen, die BDS unterstützen aber manche israelische Produkte kaufen, weil sie „nicht so scheiße schmecken“ oder es die einzigen sind, die es gibt. Ebenso wie palästinensische Beduin:innen, die den Rassismus innerhalb ihrer Community gravierender finden als Militär- und Siedlergewalt. Und Jerusalemer liberale Professor:innen, die die palästinensische Studentin darin bestärken, von Siedler-Kolonialismus zu reden, und nicht von einem Konflikt.

Dazu gehört auch der palästinensische Geschäftsmann Bashar Masri, der unter anderem für ein aus Katar finanziertes Luxuswohnprojekt im Westjordanland palästinensische Familien enteignen und dort anschließend Bäume durch den Jewish National Fund pflanzen ließ. Letzterer spielt seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle in der israelischen Siedler:innenbewegung. Genauso sind es junge Palästinenser:innen, die neue Perspektiven für palästinensische Selbstbestimmung entwickeln, und zwar außerhalb eines Polizeistaates unter der Palästinensische Autonomiebehörde (PA).

Diese Beispiele sind ein kleiner Spiegel der Komplexität, die hinter der vereinfachenden Konfliktlinie Israel vs. Palästina steht. Dimensionen wie Klasse, Religion, Geschlecht, Zuordnungen zu Mizrachim oder Aschkenazim, oder ein Status als Geflüchtete:r, Landwirt:in oder Beduin:in spielen eine Rolle. Eine Komplexität, die sich schwer mit den Begriffen und Debatten eines deutschen Antirassismus-oder Antisemitismusdiskurses fassen lässt.

Zur differenzierten Analyse gehört auch, die BDS-Bewegung im Kontext palästinensischer Machtstrukturen zu sehen. Die eng in der Zivilgesellschaft verankerte Bewegung hat eine ambivalente Beziehung zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Diese nimmt in internationaler Politik und Medien die Rolle der Vertreterin Palästinas ein, obwohl sie kaum Rückhalt in der eigenen Bevölkerung hat.

Dies zeigt sich unter anderem daran, dass die Autonomiebehörde in der Vergangenheit vergeblich versuchte, Kontrolle über die palästinensische Zivilgesellschaft auszuüben und bis heute repressiv gegen Teile dieser vorgeht. Die BDS-Bewegung hat zwar ein globales Netzwerk an Unterstützer:innen, bewegt sich aber gleichzeitig außerhalb der oft staatlich dominierenden Leitlinien in der Debatte zu Israel/Palästina. Während letztere noch immer auf die Verhandlung einer Zwei-Staatenlösung setzen, bewegt sich die BDS-Bewegung stärker entlang global und dekolonial denkender Perspektiven.

Internationalistische Perspektiven

Letztlich gibt es keine neutrale oder universelle Position, die ein einfaches Bild oder die eine Lösung anbietet – auch wenn wir es noch so gerne wollen. Die eigene Position darf nicht als absolut betrachtet werden und – in einer eng verflochtenen Geschichte und Gegenwart – auch nicht als losgelöst von der Lebensrealität anderer.

Die Idee internationaler Solidarität setzt hier an. Nicht aus einem Verantwortungsgefühl oder moralischen Überlegenheit heraus argumentierend, sondern aus dem Anerkennen, dass deutsche Bürger:innen Teil einer globalisierten und ungleichen Welt sind, die komplexer ist, als die eigene Perspektive.

Im Sinne eines Internationalismus folgt aus Komplexität oder unterschiedlichen Lebenswelten keine Resignation, sondern eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Positionalität. In Sznaiders Worten: Es muss ein „Sowohl- als Auch“ möglich werden. Eine offene und differenzierte Debatte mit Raum für andere Referenzen wäre ein Fortschritt. Nur so können die Ursachen und Ziele der heterogenen BDS-Bewegung verstanden werden, und wichtige Kritik an der Bewegung thematisiert werden.

Denn auch BDS nimmt nicht jede Komplexität wahr, ebenso wie es im Umfeld der Bewegung Positionen gibt, die weder progressiv sind, noch frei von Antisemitismus. Genauso ist der deutsche Diskurs nicht frei von doppelten Standards in seinen Anforderungen an Solidaritätsbewegungen. Ein offen kritischer Umgang mit der BDS-Bewegung und der Deutungshoheit innerhalb der deutschsprachigen Debatte steht noch aus.

 

[1] Der Begriff Dominanzgesellschaft beschreibt die Normen und Werte, die in der deutschen Gesellschaft vorherrschen. Perspektiven die abweichen, werden dabei ausgeblendet, oder abgewertet.

[2] weiß ist klein und kursiv geschrieben, denn es handelt sich nicht um eine ermächtigende Selbstbezeichnung, sondern um eine privilegierte Position innerhalb eines rassistischen Systems. Mehr dazu hier.

 

 

Dominik ist politischer Geograph und setzt sich mit der Verhandlung von Identitäten in Räumen und an Grenzen auseinander. Aktuell arbeitet er in der politischen Kommunikation in Berlin.
Redigiert von dis:orient