Seit Ende Juni demonstrieren Palästinenser:innen im Westjordanland gegen ihre Regierung. Dis:orient sprach mit einer Aktivistin über den Ursprung und die Ziele der Proteste.
In den letzten Monaten dauerten die Proteste gegen drohende Zwangsräumungen in Ostjerusalem an, insbesondere gegen die Hauszerstörungen in Silwan vergangene Woche. Die allgemeine Lage beruhigte sich im Vergleich zum Mai, doch auch unter dem neuen israelischen Premierminister Naftali Bennett bleiben viele Auslöser der Proteste bestehen. Während in den letzten Monaten die Lage innerhalb der palästinensischen Städte vergleichsweise ruhig blieb, brachen Ende Juni dort größere Proteste gegen die palästinensische Regierung aus. Dis:orient sprach mit Leyla*, einer Aktivistin, die sich im Westjordanland an den Protesten beteiligt, über die Situation, das Verhältnis der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zur breiteren Gesellschaft und die Rolle des Osloer Friedenprozesses.
Was ist der Auslöser für die jüngsten Proteste? Was fordern die Menschen?
Nizar Banat, der für seine öffentlichen Äußerungen und Kritik gegen die Palästinensische Autonomiebehörde bekannt war, wurde am Donnerstag, dem 24. Juni, von palästinensischen Sicherheitskräften ermordet. Sie sind in sein Haus in Hebron eingedrungen und haben ihn auf eine extreme und qualvolle Weise zusammengeschlagen. Die Sicherheitskräfte haben Banat in ihr Auto geschleppt, nur um ihn zwei Stunden später für tot zu erklären.
Für die Palästinenser:innen hat der Mord das Fass zum Überlaufen gebracht. Wir haben unser ganzes Leben lang Attentate und Polizeigewalt toleriert. Die PA führt die Sicherheitskoordination mit Israel und hilft ihnen, Palästinenser:innen zu verhaften. Wir hatten unser ganzes Leben lang kein Gefühl von Sicherheit oder Schutz. Für uns geht es bei diesen Protesten nicht nur um Nizar Banat. Wir sind auf der Straße, um die Auflösung der PA, aber eben auch Gerechtigkeit für Nizar Banat zu fordern.
Wenn es nicht nur um Nizar Banat geht, was sind die zugrundeliegenden Gründe für die Unzufriedenheit mit der PA?
Die Gründung der PA berücksichtigte nicht die gesamte palästinensische Bevölkerung, sondern formte eher eine Klasse. Palästinenser:innen, die für die PA im öffentlichen Sektor oder im Sicherheitssektor arbeiten, gehören oft der Partei Fatah an, insbesondere diejenigen mit viel Macht. Dazu zählen etwa Majed Faraj, der Leiter des Geheimdienstes, Mahmoud Abbas, der Präsident der PA, und die meisten anderen Leiter:innen von Institutionen.
Die Marginalisierung anderer Fraktionen, insbesondere islamischer und linker, ist ein wesentlicher Grund für die sinkende Unterstützung der Bevölkerung für die PA. Natürlich steht die Fatah – die größte Fraktion in Palästina – immer noch hinter ihr. Zur Fatah zu gehören bedeutet, dass einem eine Reihe von Privilegien garantiert werden, sei es auf dem Arbeitsmarkt oder in der Politik. Das schafft eine Art von politischer Ökonomie und materieller Realität, völlig unterschiedlich im Vergleich zu Menschen außerhalb der Fatah. Die PA besteht natürlich nicht nur aus der Fatah, aber sie spielt eine entscheidende Rolle. Die aktuellen Proteste gegen die PA richten sich eher gegen die Hegemonie der Fatah innerhalb der PA.
Im Mai sprachen Aktivist:innen von einer Wiedervereinigung der Palästinenser:innen aus unterschiedlichen Orten, von Haifa über Jerusalem bis nach Ramallah. Jetzt sind Palästinenser:innen in Ost-Jerusalem mit drohenden Zwangsräumungen und Hauszerstörungen konfrontiert, während Palästinenser:innen im Westjordanland Polizeigewalt durch die PA ausgesetzt sind. Was bleibt von dieser gefühlten „Wiedervereinigung“?
Für mich hat die Fragmentierung der Palästinenser:innen zwei Ebenen: Die eine ist die geografische Aufteilung in vier Räume – das Westjordanland, Gaza, '48 [Gebiete des Staates Israel seit 1948, Anm. d. Red.] und Jerusalem. Jeder Raum ist mit eigenen Gesetzen, Regeln und Unterdrückungsformen konfrontiert. Die andere Fragmentierung ist die Spaltung zwischen Hamas und Fatah.
Wenn wir von Einheit sprechen, meinen wir nicht unbedingt eine simple Einheit zwischen Fatah und Hamas. Denn die politische Situation, die durch die Fatah und die PA geschaffen wurde, ist die Ursache für die Spaltung. Eine Einheit der Palästinenser:innen bedeutet für uns eine Einheit an der Basis zwischen den Menschen im Gazastreifen, in der Westbank, in Jerusalem, '48 und in der Diaspora. Einheit bedeutet für uns die Aufrechterhaltung eines antikolonialen Nationalismus, der durch diese Zersplitterung bedroht ist.
Die Proteste im Mai haben gezeigt, dass der palästinensische Nationalismus lebendig ist, und dass es eine Art von Einheit gibt. Das Mandat der PA gilt nur für die Westbank – in vielerlei Hinsicht ist ihre Legitimität und ihr politisches System auf der Spaltung der Palästinenser:innen aufgebaut. Was diese Art der Spaltung verursacht, ist im Grunde die Kontrolle des palästinensischen Volkes durch die PA. Wir wollen die Ursache für diese Art der Spaltung beseitigen.
Welche Forderungen folgen darauf – die Abschaffung der PA?
Die Palästinenser:innen sind sich nicht einig, ob wir aktuell mögliche Zugeständnisse lieber akzeptieren, oder ob unsere Forderungen weiter gehen sollen. Es gibt Menschen, die die Entlassung bestimmter Leute in der PA oder des Präsidenten möchten. Andere fordern die Auflösung der gesamten PA. Das Ende der Sicherheitskoordination ist immer eine der Hauptforderungen, ebenso wie die Aufdeckung der Korruption in der PA. Die Straßen sind ziemlich gespalten, aber im Moment würde ich sagen, dass Gerechtigkeit für Nizar Banat eine Priorität ist. Und die Bewegung hört nicht auf, wenn die größeren Forderungen an diesem Zeitpunkt nicht erfüllt werden. Zumindest wissen wir jetzt, dass eine aktive Bewegung gegen Korruption und gegen die PA gibt.
Die PA wurde im Rahmen der Osloer-Friedensabkommens gegründet und ist seitdem eine zentrale Institution, die mit Staaten, internationalen Organisationen und NGOs, aber auch mit Israel, beispielsweise im Rahmen der Sicherheitskooperation, zusammenarbeitet. Sind die Proteste und ihre Forderungen in gewisser Weise ein Erbe von Oslo? Wenn ja, inwiefern?
Die öffentliche Meinung über Oslo ist unter den Palästinenser:innen seit langem umstritten. Viele haben nie an den Friedensprozess geglaubt. Er hat nicht den Siedlungsbau gestoppt, er hat weder das Töten und Inhaftieren von Palästinenser:innen beendet, noch die Attentate oder die Belagerung des Gazastreifens. Für uns ist der Friedensprozess seit langem tot. Es sind überwiegend diejenigen, die von Oslo materielle Vorteile haben, die noch daran glauben.
Dazu kommt, dass die Israelis und die internationale Gemeinschaft wollen, dass der Friedensprozess bestehen bleibt. Der Osloer-Friedensprozess ist ein Mikrokosmos der internationalen Bemühungen, den Palästinenser:innen Friedensbemühungen aufzuzwingen. Ganz nach dem Motto: ‚Hier, ihr müsst Frieden schließen. Ihr müsst euch auf Frieden konzentrieren. Kein Widerstand. Wir finanzieren eure NGOs, wir finanzieren eure Institutionen, aber stellt sicher, dass ihr keinen Widerstand leistet. Tut ja nichts Gewaltvolles.‘ Es ist ein System, das versucht, das palästinensische Unabhängigkeitsbestreben innerhalb von Friedensbemühungen zu ersticken.
Seit den Osloer Verträgen folgt die Internationale Gemeinschaft dem Ansatz Friedensförderung durch Staatsaufbau. Auch Deutschland hat in den letzten Monaten wieder die Notwendigkeit einer Zwei-Staaten-Lösung, wie in Oslo vorgeschlagen, betont. Es flossen viele Gelder in die PA und ihre Institutionen. Wie erklärst du dir dieses Festhalten der internationalen Gemeinschaft an diesen Ansatz?
Wenn es um das Verständnis von Palästina und Israel geht, würde ich sagen, dass die internationale Gemeinschaft ziemlich naiv ist. Ich will damit nicht sagen, dass sie nicht genügend Berichte und Daten haben, um eine Position zu haben. Ihr Verständnis von unlösbaren Konflikten ist offensichtlich seit Jahren das gleiche. Unlösbare Konflikte lassen sich nicht auf Einstaatenlösungen oder Zweistaatenlösungen übertragen. Es ist eine Situation ohne Lösung. All diese Versuche, alle Arten von Friedensprozessen oder Konfliktlösungsmethoden zu exportieren sind, in unserem Kontext nicht anwendbar. Nicht weil dieser besonders ist, sondern weil unsere Situation ein unlösbarer asymmetrischer internationaler Konflikt ist. Es ist ein Kampf gegen Siedlerkolonialismus. Für das palästinensische Volk gibt es kein anderes Framing.
Aber es gibt auch Palästinenser:innen, die genau diese Art von Friedensschaffung durch Staatsaufbau unterstützen, allen voran die PA selbst.
Ja, eine ihrer Strategien des Staatsaufbaus nennt sich Fayyadismus. Salam Fayyad, ehemaliger Minister der PA, schlug vor, NGOs vor allem in den ländlichen Gebieten der Westbank zu stärken, um die Lebensgrundlage der lokalen Gemeinden zu verbessern. Die Unterstützung der NGOs helfen der palästinensischen Bevölkerung, in ihren lokalen Gemeinden und oberhalb der Armutsgrenze zu bleiben. Das hat dazu geführt, dass die Menschen aufgehört haben, sich zu wehren, weil sie Nahrung, Arbeit und andere Prioritäten haben. Aber wegen dieser Entpolitisierung und dem Vergessen der andauernden Unterdrückung ist diese Art des Staatsaufbaues, selbst wenn sie von Palästinenser:innen initiiert wird, gefährlich. Staatsaufbau ist nicht nur einfach eine Sache, die uns die internationale Gemeinschaft, sondern auch die PA aufzwingen will.
Da du das Thema NGOs ansprichst: In den Jahren nach Oslo ist die Zahl der NGOs enorm gestiegen und hat die Zivilgesellschaft in vielerlei Hinsicht verändert, ein Prozess, der manchmal auch NGOisierung genannt wird. Welche Rolle spielen NGOs in der aktuellen Protestbewegung?
Viele Menschenrechtsorganisationen kritisierten lautstark den gewaltsamen Umgang mit Demonstrant:innen. Die palästinensische Polizei benutzt Tränengas und Blendgranaten und schlagen Menschen mit Stöcken zusammen. Sie setzten Einschüchterungstaktiken ein, beispielsweise zerschlagen sie die Telefone der Leute, die die Proteste dokumentierten. Auch stehlen sie Telefone und veröffentlichten private Fotos im Internet. NGOs wie Al-Haq und Al-Dameer berichten von Menschen, deren Telefone zerstört wurden und die sexuell belästigt wurden.
Mehrere NGOs sammeln Daten für Untersuchungen, aber diese werden von der PA durchgeführt. Wir wissen nicht, ob die PA gegen sich selbst Anklage erheben wird. Die vielen NGOs, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, berichten nun über Menschenrechtsverletzungen, da dies ihr Mandat ist. Jetzt könnte die PA ihre Abhängigkeit von den NGOs bereuen. Ob die PA es will oder nicht, ob sie denkt, dass sie ihre Agenda in den NGOs verankert hat oder nicht, diese NGOs werden am Ende ihrem Auftrag folgen.
Viele Leute argumentieren, dass die NGOisierung zu einer Entpolitisierung führt. Kannst du darauf eingehen?
Ich würde sagen, die Proteste wurden eher von einer Bewegung aus der Bevölkerung getragen. Leute aus NGOs, die ich kenne, waren auf der Straße, sie dokumentierten, aber nahmen auch an den Protesten teil. Allgemein lässt sich schwer sagen, dass die palästinensischen NGOs von Anfang an entpolitisiert waren. NGOs in Palästina sind ziemlich stark in die Politik involviert, und das ist nichts, wofür sich die Palästinenser:innen schämen. Also ja, es gibt eine Bemühung, NGOs in Palästina zu entpolitisieren, aber ich würde nicht sagen, dass sie erfolgreich war. Zumindest in Bezug auf die großen Organisationen mit breiter Unterstützung aus der Gesellschaft.
Vorher hast du argumentiert, dass der Fayyadismus auf NGOs aufbaut. Auf der einen Seite verlässt sich die PA auf die NGOs, vor allem um die Politik in den Gebieten im Westjordanland außerhalb ihrer Zuständigkeit durchzusetzen. Aber gleichzeitig positionieren sich palästinensische NGOs, zum Beispiel das palästinensische NGO-Netzwerk in der Vergangenheit gegen die PA. Kannst du erklären, wie dieses Verhältnis zwischen NGOs und PA praktisch funktioniert?
Zum Beispiel hat die PA vor kurzem gefordert, alle Informationen über die Finanzierung der NGOs und ihre Projekte freizugeben. Aber das palästinensische NGO-Netzwerk hat dagegen protestiert, und schließlich wurde das Vorhaben eingestellt. Die PA wollte die NGOs kontrollieren, weil Al-Haq und Al-Dameer und viele andere Organisationen Menschenrechtsverletzungen der PA dokumentieren. Gleichzeitig braucht die PA die Berichte dieser NGOs zum Beispiel bei dem aktuellen Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Israel. Sie brauchen die Recherchen dieser Organisationen, aber gleichzeitig versuchen sie, ihre Arbeit einzuschränken und sie zu überwachen. Die NGOs auf der anderen Seite wehren sich aktiv gegen diesen Kontrollversuch.
Wie schätzt du den Erfolg der Proteste ein?
Natürlich besteht die Gefahr eskalierender Gewalt, aber der Status quo ist bereits gewaltvoll. Ich würde nicht sagen, dass wir uns so sehr um Gewalt sorgen, wie um ein politisches Vakuum, in dem Leute, die wir nicht unterstützen, die Macht übernehmen. Aber das ist etwas, das wir in unserer Strategie gegen die PA und den Siedlerkolonialismus berücksichtigen müssen.
*Name geändert