25.02.2013
25 Jahre nach den Anfal-Massakern im Nordirak: Selbstbewusste Frauen und die Entwicklung einer kritischen Öffentlichkeit
Märtyrermonument in Halabja; Foto: William John Gauthier
Märtyrermonument in Halabja; Foto: William John Gauthier

In diesen Wochen jähren sich die Massaker des Regimes von Saddam Hussein gegen die kurdische Minderheit im Nordirak zum 25. Mal. Die kurdische Regionalregierung hält die Erinnerung an den Giftgasangriff auf Halabja und andere Verbrechen aufrecht – auch, um ihre eigene Legitimation zu betonen. Doch Teile der Gesellschaft wehren sich gegen eine Vereinnahmung durch die Politik. Von Schluwa Sama.

„It’s spectacular. It's peaceful. It's joyful – Welcome to Iraqi Kurdistan.“ So liest es sich auf der Website „The other Iraq“, mit der die kurdische Regionalregierung dem internationalen Publikum ein friedliches und harmonisches Bild von Irakisch-Kurdistan geben und Investoren anlocken will. Dabei inszeniert sich Irakisch-Kurdistan als kompletter Gegensatz zum Rest des Landes. Denn seitdem sich die KurdInnen seit der Einrichtung einer Flugverbotszone durch die USA und Großbritannien im Jahr 1991 über dem Nordirak praktisch selbst regieren, scheinen alle Wünsche erfüllt – zumindest wenn es nach der autonomen Regionalregierung geht.

Bei einer so offensichtlich idyllischen Beschreibung drängen sich jedoch mehrere Fragen auf: Inwieweit entspricht dies der tatsächlichen Lage in Kurdistan? Herrschen nun Demokratie und allgemeine Zufriedenheit, seit dem sich die KurdInnen selbst regieren? Ist Irakisch-Kurdistan tatsächlich so anders als der Rest des Iraks? Antworten auf diese Fragen offenbart die Erinnerungspolitik bezüglich der Anfal-Kampagne, die sich im März 2013 zum 25. Mal jährt.

So kristallisieren sich in den Auseinandersetzungen um die Erinnerung an die Schrecken dieser Kampagne die aktuellen Spannungen innerhalb Irakisch-Kurdistans und der kurdischen Gesellschaft. Am 16. März 1988 kreisten irakische Militärflugzeuge über der Stadt Halabja und bombardierten diese mit Giftgas. 5000 Menschen wurden dabei auf einen Schlag getötet. Diese Attacke war Teil einer länger geplanten Militäroperation des irakischen Regimes unter Saddam Hussein mit dem Ziel, dezidiert gegen KurdInnen im Irak vorzugehen und diese zu vernichten. Die Bombardierung von Halabja war aber nur Teil einer ganzen Serie von Militäroperationen, zu denen auch die systematische Zerstörung kurdischer Dörfer und die Deportation von Frauen in den Südirak gehören. Schätzungen zufolge sind bis zu 180.000 Menschen diesen so genannten Anfal-Operationen zum Opfer gefallen.

Protest gegen ein Denkmal in Halabja

2006, also 18 Jahre nach Anfal, fanden in der Stadt Halabja Demonstrationen statt, im Zuge derer Protestierende das zu Ehren der Opfer der Angriffe errichtete Denkmal in Brand setzten. Dieses Ereignis scheint nicht zur Darstellung eines friedlichen Kurdistans zu passen. Wie also kann dieser kollektive Wutausbruch erklärt werden?

Die Politologin Nicola Pratt argumentiert, dass es sich dabei um einen Protest gegen die Reden und Rhetorik der kurdischen Regionalregierung (KRG) gehandelt habe, die ihren Worten keine Taten folgen ließe. Bedürfnisse der Bewohner, im Sinne von materieller Unterstützung und mehr lokaler Entscheidungsfreiheit seien von der KRG seit Jahren dauerhaft vernachlässigt worden. Gleichzeitig habe die Stadt Halabja aber auch hohen symbolischen Wert, vor allem, um das eigene Leid der Kurden im Irak nach außen darzustellen.

Die KRG betont immer wieder ihr Streben nach einem modernen Kurdistan, in dem ausländisches Kapital und Investitionen willkommen sind. Das Gedenken an die Vergangenheit und Anfal dient dabei vor allem dazu, die kurdische Einheit zu beschwören und die eigenen Machtansprüche zu sichern. So sei das Monument mit Absicht nicht direkt in der Stadt gebaut worden, damit internationale Gäste die prekären Zustände in Halabja selbst – der schlechte Zustand von Straßen und Häusern und weit verbreitete Armut – nicht mitbekommen. Im Gegensatz dazu erscheint das Monument außerhalb der Stadt sehr futuristisch und überdimensioniert. Ein perfekter Ort also, um internationale Gäste von dem Leid der Kurden zu überzeugen und weniger ein lokaler Ort der Trauer für die Bürger von Halabja.

Die Massaker sollen als Genozid anerkannt werden

Tatsächlich ist Anfal in Irakisch-Kurdistan zu einem festen Bestandteil der etablierten Erinnerungskultur geworden. Die kurdische Regionalregierung sieht in dem Massaker ein Sinnbild für die Tatsache, dass Kurden von Feinden umgeben sind und setzt sich seit geraumer Zeit dafür ein, dass Anfal international als Genozid anerkannt wird. Zum 25. Jahrestag laufen diese Bestrebungen zusammen. Unterstützung dafür gibt es unter anderem vom ehemaligen französischen Außenminister Bernard Kouchner. Auch im britischen Parlament soll am 28. Februar eine Debatte dazu abgehalten werden.

Andrea Fischer-Tahir, Kurdistanexpertin am Zentrum Moderner Orient in Berlin, hält es aus Sicht der KRG deshalb für so wichtig, Anfal als Genozid zu bezeichnen, um das Selbstbild des männlichen, kurdischen Peshmerga, der im kurdischen Narrativ oft als romantisierte Figur des Widerstandes gegen Saddam Hussein gesehen wird, aufrechtzuerhalten. Dessen Hauptaufgabe sei es, die Heimat und die Familie, insbesondere Frauen und Kinder, zu schützen. Doch während der Anfal-Kampagne konnten die vorwiegend männlichen Peshmerga-Kämpfer diese Aufgabe nicht erfüllen. Aus deren Sicht sei es daher von zentraler Bedeutung, ihr „Versagen“ mit Verweis auf den Genozid zu entkräften.

Für die KRG hat das Gedenken an Anfal heute daher existentielle Bedeutung. Es ist zentraler Bestandteil der Legitimierung der autonomen Region Kurdistans und hält die Erinnerung an eine potentielle Gefahr aus Baghdad aufrecht, aus der sich die Notwendigkeit ergibt, autonom und außerhalb der Reichweite der irakischen Zentralregierung zu bleiben.

In Zeiten des Konfliktes mit der irakischen Zentralregierung wird das Gedenken an Anfal bestärkt, in dem die Zentralregierung zum Feind des kurdischen Volkes erklärt wird, ohne Rücksicht darauf, dass nun nicht mehr Saddam Hussein an der Macht sitzt. Impliziert wird dabei, dass einzig die kurdische Regionalregierung, die seit der Gründung von Präsident Massoud Barzani geführt wird, die Interessen des kurdischen Volkes schützt.

Besonders aggressiv reagiert die Regierung auf offene Kritik an ihrer Rolle. So wurde Karzam Karim 2012 wegen eines Artikels, der die Korruption der KRG kritisierte, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Bestraft wurde er aufgrund des Paragraphen, der die Gefährdung der Sicherheit der Region unter Strafe stellt. Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Für viele Berichterstatter ist die Arbeit in Irakisch-Kurdistan lebensgefährlich. Laut dem Committee to protect Journalists hat es seit 2003 93 ungeklärte Mordfälle im Zusammenhang mit Journalisten gegeben.

Anfal-Frauen wehren sich gegen ihre Vereinnahmung

In der Erinnerung um Anfal unterliegen auch Geschlechterrollen verschiedenen Sichtweisen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Wie wichtig Anfal-Frauen als Symbole für die KRG sind, lässt sich am Beispiel einer Kurdin zeigen, deren Bild 2009 auf einem Wahlplakat der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK) auftauchte. Anfal-Frauen sind Frauen, deren männliche Verwandte während der Anfal-Operationen ermordert wurden. Allein die Tatsache, dass dieses Bild ausgewählt wurde, zeigt, dass die DPK sich der symbolischen Bedeutung der Anfal-Frauen innerhalb der Bevölkerung bewusst ist und darauf spekuliert, damit Wählerstimmen sammeln zu können.

Auf dem Bild ist zu sehen, wie Massoud Barzani, Regionalpräsident der KRG, die Hand von Haji Naske küsst. In diesem Fall ist aber besonders interessant, dass die abgebildete Anfal-Frau sich dagegen gewehrt hat, ihr Leid für die Zwecke der DPK vermarkten zu lassen. Weil sie vorab nicht nach ihrer Zustimmung gefragt wurde, forderte sie deshalb nach der Veröffentlichung dieser Plakate, dass ihr Bild zurückgenommen wird. Die DPK kam der Forderung Naskes nach, wobei es sich Massoud Barzani nicht nehmen ließ, zu erklären, er würde ihre Hand immer wieder küssen, da Anfal-Frauen so viel für die kurdische Nation getan hätten.

Doch jenseits der sentimentalen Rhetorik ist an diesem Fall besonders erstaunlich, dass die Stimme einer ungebildeten, aus einer ländlichen Region stammenden Frau überhaupt gehört und ihrer Bitte auch umgehend Folge geleistet wurde. Dies war nur möglich, weil Anfal-Frauen in der Rhetorik der KRG ein immer wiederkehrendes Thema sind. Eine Anfal-Frau in einer so wichtigen Angelegenheit nicht zu respektieren, würde der KRG jegliche Legitimation entziehen. Es ist also die Instrumentalisierung dieser Frauen zu bestimmten politischen Zwecken, die es zu einem gewissen Zeitpunkt möglich macht, die Stimmen von Anfal-Frauen auch zu berücksichtigen.

Ehemalige Kollaborateure sitzen in wichtigen Positionen

Dabei zeigt sich bei den Anfal-Frauen ein ähnliches Muster wie bei den Bewohnern von Halabja: Sie spielen in der Rhetorik eine wichtige Rolle, aber tatsächlich wurde ihnen materiell wenig geholfen. Erst seit dem Sturz Saddam Husseins hat sich ihre Lage zu verbessern begonnen. Zuvor hatten sie noch in Lagern gelebt und – ohne jegliche männliche Begleitung – waren sie zunächst aus materiellen Gründen gezwungen, außerhalb des Hauses zu arbeiten.

Dies war besonders in der ländlichen Region Germian – südlich von der eher liberalen Stadt Sulaimania gelegen – eine Übertretung lokalspezifischer Geschlechterrollen. Dort waren Anfal-Frauen wegen ihres fragwürdigen Rufs – als arbeitende Frauen ohne männliche Begleitung – Stigmatisierung ausgesetzt. Seitdem jedoch ihre Kinder erwachsen sind und sich um die Versorgung der älter werdenden Mütter kümmern, hat sich ihre materielle und soziale Rolle verbessert. Auch von der KRG gab es mehr finanzielle Hilfe, unter anderem wurde ihnen Land zugewiesen, das sie bewirtschaften. Als die KRG ihnen zu Ehren jedoch ein Monument erbauen wollte, das Anfal-Überlebende als Schafhirten und Opfer darstellen sollte, lehnten diese das ab.

Wie Karin Mlodoch, Psychologin bei der deutschen NGO Haukari berichtet, wollen Anfal-Frauen in der Gesellschaft als starke Frauen und Mütter gesehen werden, die auch ohne männliche Unterstützung ihre Kinder großgezogen haben. Haukari unterstützt Frauen nun dabei, ein Monument zu errichten, mit dem sie sich identifizieren können. Dies hat mittlerweile auch das kurdische Ministerium für die Anfal-Märtyrer anerkannt und unterstützt deshalb die Planungen an dem „alternativen“ Monument. Mit diesem Schritt erkennt die kurdische Regierung die Rolle von Anfal-Frauen an und versucht ihnen entgegen zu kommen.

Ob Anfal-Frauen der Regierung wirklich gefährlich werden können, hängt also auch von der zukünftigen Reaktion der KRG zusammen. Eine weitaus brisantere Forderung der Anfal-Frauen ist es, die kurdischen Kollaborateure während der Anfal-Kampagne zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Forderung ist durch die Erfahrung der Anfal-Frauen geprägt. Denn während der Deportationen 1988 haben sie am eigenen Leib erfahren, wie kurdische Nachbarn und „Brüder“ die irakische Armee während Anfal unterstützt haben. Heute beziehen einige dieser Kollaborateure, im kurdischen auch Jahsch (Esel) genannt, wichtige Positionen. 2009 verliehen Protestierende ihren Forderungen lautstark Ausdruck. Als sich bei der Umbettung von 187 Anfal-Opfern, die nach dem Sturz von Saddam Hussein in Massengräbern entdeckt worden waren, keine wichtige politische Figur der KRG zeigte, machte sich Wut breit.

Die Abwesenheit der Regierung war ein deutliches Zeichen, dass Anfal nur in der offiziellen Rhetorik eine Rolle spielt. Tatsächlich schien sich die Führung aber nicht für das Leid und die Probleme der lokalen Bevölkerung zu interessieren. In Folge des Protests wurden 50.000 Unterschriften für die strafrechtliche Verfolgung von Kollaborateuren gesammelt.

Aufbruch in einen „kurdischen Frühling“ in Sulaimania?

2011 kam es in Sulaimania im Zuge des arabischen Frühlings ebenfalls zu Protesten gegen eine vermehrt als korrupt wahrgenommene Regionalregierung. Die Proteste begannen zunächst am 17. Februar 2011, als Solidaritätskundgebungen mit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten abgehalten wurden. Währenddessen richteten sich auch immer mehr Forderungen gegen die eigene Regierung. Als ein 14-jähriger Junge während der Kundgebungen getötet wurde, intensivierten sich die Proteste, die zwei Monate andauerten. Die Regierung versuchte, die Demonstranten zunächst als Querulanten darzustellen, änderte dann aber ihren Kurs und entschuldigte sich.

Während der Proteste entwickelte sich auch ein „Ad-hoc Komitee“, das versuchte, Forderungen der Demonstranten zu bündeln, um in politische Verhandlungen treten zu können. Wichtige Forderungen dabei waren der Rücktritt des Präsidenten, des Premierministers sowie des Kabinetts. Auch die enge Verbindung von Staat und den zwei Regierungsparteien DPK und PUK (Patriotische Union Kurdistans) wurde kritisiert. Zudem war Korruption ein wichtiges Thema.

Die Proteste und Kritik an der KRG finden zwar nicht in allen Städten Irakisch-Kurdistans statt, jedoch ist die Tendenz deutlich, dass die Menschen ihren Unmut immer mehr äußern. Besondere Funktion kommt dabei denjenigen zu, die bereits vor 25 Jahren viel für die „kurdische Sache“ geopfert haben und nun marginalisiert werden. So sagte ein ehemaliger Peshmerga-Kämpfer, dass man sein Leben nicht für eine korrupte und autoritäre Regierung aufs Spiel gesetzt habe.

Es zeigt sich, dass sich nicht automatisch Harmonie einstellt, wenn KurdInnen von einer kurdischen Regierung regiert werden, wie so viele kurdische Nationalisten, aber auch unkritische westliche Befürworter eines kurdischen Staates behaupten. Auch im Hinblick auf kurdische Ambitionen in Syrien und auch der Türkei ist dies wichtig zu bedenken. Spätestens seit den Ereignissen von 2006 in Halabja bricht die vermeintliche Homogenität und Harmonie innerhalb Irakisch-Kurdistans auf. Es offenbaren sich zunehmend die immer schon dagewesenen unterschiedlichen Interessen, die sich nicht von einer Regierung, sei sie nun kurdisch oder arabisch, instrumentalisieren lassen wollen.

 

Schluwa ist Doktorandin am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter. Sie promoviert zur politischen Ökonomie Irakisch-Kurdistans mit einem Fokus auf das Alltagsleben von Bäuer*innen. Dabei beschäftigt sie sich u.a. mit kolonialen Kontinuitäten, globalem Kapitalismus, Krieg und Landwirtschaft im Kontext Kurdistans und dem Irak. Für ...
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