30.10.2025
50 Jahre „Grüner Marsch“: Marokkos Kolonialismus in der Westsahara
Logo der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) vor dem Exil-Parlament in Algerien. Die DARS wurde 1976 von der Polisario ins Leben gerufen und wird heute von rund 84 Staaten und der Afrikanischen Union anerkannt. Foto: Lennart Kreuzfeld
Logo der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) vor dem Exil-Parlament in Algerien. Die DARS wurde 1976 von der Polisario ins Leben gerufen und wird heute von rund 84 Staaten und der Afrikanischen Union anerkannt. Foto: Lennart Kreuzfeld

Immer mehr europäische Staaten geben ihre neutrale Haltung auf und unterstützen Marokkos Besatzung der Westsahara. Gleichzeitig wächst die Solidaritätsbewegung in Deutschland. Ein Überblick zum Jahrestag der marokkanischen Besatzung.

Am 6. November 2025 jährt sich der „Grüne Marsch“ zum fünfzigsten Mal. Im Jahr 1975 ließ König Hassan II hunderttausende mit Fahne und Koran bestückte Marokkaner:innen zur feierlichen „Heimkehr in die Marokkanische Sahara“ an die südliche Landesgrenze bringen. Unter Militärschutz überquerten sie die Grenze zur Westsahara. Mit dem Einmarsch in das laut UN „nicht selbstverwaltete Gebiet“ wollte der König Druck auf das spanische Franco-Regime ausüben, das damals die Westsahara noch kontrollierte.

In Marokko markiert das Datum einen Nationalfeiertag, den Eid Al Massira Al Khadra. Dem staatlichen Narrativ zufolge erhoben sich damals die Massen zur Befreiung eines historisch marokkanischen Gebietes vom kolonialen Joch Spaniens. Tatsächlich war dieses Manöver jedoch vor allem ein Versuch des Königs, seine damals unter Putschversuchen wankende Monarchie zu stabilisieren. Er hatte Erfolg.

In Marokko ist seither Kritik an Monarchie, Religion und der Annexion der Westsahara gesellschaftliches Tabu. Aktuell wird dieses jedoch von jungen Marokkaner:innen der Bewegung Gen Z 212 zunehmend in Frage gestellt: Aktivist:innen zufolge habe die Westsahara dem marokkanischen Volk vor allem Zensur und Überwachung gebracht.

Formierung des sahrauischen Widerstandes

Vor Marokko kolonisierte Spanien – nach Abschluss der Berlin-Konferenz von 1884 – die Westsahara. 1975 urteilte der Internationale Gerichtshof (IGH), dass die Westsahara im Rahmen der Prinzipien der Entkolonialisierung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker behandelt werden müsse. Die Vereinten Nationen fordern seither ein Referendum der indigenen Sahrauis über die Zukunft der Westsahara.

1975, eine Woche nach dem marokkanischen Einmarsch, wurde das Gebiet jedoch durch das sogenannte Madrider Abkommen hinter verschlossenen Türen zwischen Mauretanien und Marokko aufgeteilt. Spanien erhielt im Gegenzug umfangreiche Rohstoffrechte. Für die Sahrauis ging der 6. November 1975 deswegen als der „Schwarze Marsch“ ins kollektive Gedächtnis ein – brachte dieser nach Spaniens Kolonisierung nun die Besatzung durch Marokko.

Sahrauische Solidaritätsveranstaltung vor dem Brandenburger Tor.  Foto: Lennart Kreuzfeld

Schon 1973 hatte sich die Frente Polisario gegründet, um für die Unabhängigkeit des sahrauischen Volkes zu kämpfen. Nach dem Madrider Abkommen nahmen Polisario-Einheiten den bewaffneten Kampf gegen die neuen Besatzungsmächte auf. 1979 erreichten sie einen Waffenstillstand mit Mauretanien, das seine Ansprüche auf das untere Drittel der Westsahara daraufhin aufgab.

Doch Marokko blieb und teilte die Westsahara von Nord nach Süd mit einem rund 2.700 Kilometer langen Minenwall, bewacht durch über 100.000 Soldat:innen. Viele Sahrauis flüchteten ins algerische Exil, wo sie nun seit einem halben Jahrhundert erst in Lagern, dann in daraus entstandenen Städten in der Wüste leben. Die Sahrauis, die in den besetzten Gebieten blieben, fühlen sich oft als marokkanische Staatsbürger:innen zweiter Klasse. Im Falle politischer Betätigung sind sie massiven Repressionen ausgesetzt.

Status Quo: Marokkos Autonomieplan und de-facto Besatzung

Im Kern stehen sich im Westsahara-Konflikt zwei scheinbar unversöhnliche Positionen gegenüber. Auf der einen Seite die Polisario, welche unter Berufung auf UN-Resolutionen ein Referendum des sahrauischen Volkes über die Zukunft der Westsahara fordert. Auf der anderen Seite der marokkanische Staat, der sich im Widerspruch zum IGH-Urteil von 1975 auf ein historisches Großmarokko beruft, seine Besatzung ausbaut und in der Westsahara demographische Fakten schafft. So werden Siedler:innen ermutigt, sich in den „südlichen Provinzen“ niederzulassen.

Sondergesandte der Vereinten Nationen, betraut mit der Organisierung des Unabhängigkeitsreferendums, scheiterten nacheinander am marokkanischen Widerstand. 2007 veröffentlichte Marokko einen Alternativplan auf Basis „bestehender politischer Realitäten“, welcher vorsieht, die Westsahara als autonome Region in sein Staatsgebiet einzugliedern.

Dieser Plan wird von immer mehr Staaten befürwortet. 2020 erkannte Donald Trump im Rahmen der Abraham-Abkommen die Souveränität Marokkos über die Westsahara an, seitdem zogen einige europäische Staaten nach. Die Polisario versteht ihn jedoch als Versuch, die Souveränität des sahrauischen Volkes zu untergraben, und beharrt auf einem Referendum.

Saleh Sidmustafa, Vertreter der Polisario in Deutschland, warnt gegenüber dis:orient davor, dass eine Umsetzung des Plans Marokko für die illegale Besatzung der Westsahara belohnen würde – ein gefährlicher Präzedenzfall für Expansionismus in Afrika und darüber hinaus.

Dieses Szenario wird von der neuesten Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 31. Oktober 2025 weiter befeuert: Darin fordert der Sicherheitsrat die Konfliktparteien auf, neue Verhandlungen auf Basis des Autonomieplans aufzunehmen. Gleichzeitig betont er jedoch, eine politische Lösung müsse Selbstbestimmung der Bevölkerung der Westsahara gewährleisten. Es bleibt abzuwarten, inwiefern dieser Drahtseilakt gelingen kann.*

Migrant:innen als Druckmittel

Spanien erklärte 2021 nach jahrzehntelanger Neutralität als erstes europäisches Land seine Unterstützung gegenüber Marokko, obwohl dort die größte und aktivste sahrauische Diaspora in Europa lebt. Eine wichtige Rolle spielt in dieser Entscheidung die europäische Abschottungspolitik gegen Migrationsbewegungen aus Nordafrika.

Mitte Mai 2021 wurde die an Marokko grenzende spanische Enklave Ceuta, seit Jahrzehnten ein Hotspot für Grenzübertritte in die EU, zum Schauplatz eines brutalen Grenzdramas. Innerhalb weniger Tage wagten rund 9.000 Migrant:innen angesichts fehlender marokkanischer Grenzposten den Übertritt. Um sie mit Gewalt daran zu hindern, schickte Madrid die Armee.

In der Vergangenheit hatte Marokko aufgrund der Westsahara-Frage gegenüber Spanien bereits mit Grenzöffnungen gedroht. Kurz zuvor war durch eine französische Tageszeitung bekannt geworden, dass der Führer der Frente Polisario, Brahim Ghalil, in Spanien medizinisch behandelt worden war. Marokko brach daraufhin alle diplomatischen Beziehungen zu Spanien ab. Um die Wogen zu glätten und die Grenzsicherung wiederherzustellen, sprach sich Spanien für Marokkos Autonomievorschlag aus. Rund zwanzig EU-Mitgliedstaaten folgten dieser Entscheidung bis heute.

Marokkanisch-europäische Interessen in der Westsahara

An der europäischen Annäherung an die marokkanische Besatzung lassen sich auch koloniale Kontinuitäten ablesen. Neben Spanien, dem historischen Ausbeuter der reichen Fischgründe und Phosphatminen der Westsahara, ist vor allem Frankreich – der Kolonialmacht in Marokko bis 1956 – viel an guten Beziehungen zum Königreich gelegen. Offiziell stehen dabei „Terrorbekämpfung“ und „Entwicklungsprojekte“ im Vordergrund, darüber hinaus versucht Frankreich seinen schwindenden Einfluss im frankophonen Afrika aufrechtzuerhalten.

So investiert Frankreich beispielsweise in grüne Energie in der Westsahara und zementiert damit die marokkanische Besatzung, was von der Regierung Emmanuel Macrons ignoriert wird. Stattdessen sicherte Macron 2024 König Muhammad VI. seine Unterstützung für den Autonomieplan als „einzige Basis für eine politische Lösung“ zu. Auch deutsche Firmen wie Siemens und Heidelberg Cement sind in marokkanische Entwicklungsprojekte in der Westsahara involviert.

Ob Marokko europäische Sicherheitstechnik gegen die Polisario einsetzt, ist nicht umfassend dokumentiert, es gibt jedoch Hinweise auf europäische Radarsysteme entlang der marokkanischen Besatzungsmauer in der Westsahara. 

Stärkung der Polisario durch den Europäischen Gerichtshof

Die Europäische Kommission schließt seit den 2000er-Jahren EU-Freihandelsabkommen mit Marokko, die das Gebiet der Westsahara als Teil Marokkos behandeln. Dazu bewogen haben sie möglicherweise die internationale Gleichgültigkeit gegenüber der oft als „letzte Kolonie Afrikas“ bezeichneten Westsahara und der Einfluss spanischer und französischer Interessensgruppen.

Dagegen wehrte sich die Frente Polisario und zog 2012 erstmals vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH). In den Folgejahren erreichte sie so wiederholt die Annullierung von Fischerei-, Flugverkehr- und Handelsabkommen. In letzter Instanz annullierte der EuGH im Oktober 2024, unter Rückgriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis, auch das letzte EU-Marokko-Handelsabkommen von 2019. Ein Urteil, welches laut Saleh Sidmustafa den Status von Marokko als Besatzungsmacht weiter unterstreicht. Folglich dürfen Produkte, die aus der Westsahara kommen, nicht mit „Marokko“ als Herkunftsland etikettiert werden.

Erst kürzlich, am 1. Oktober 2025, stimmte der Europäische Rat jedoch für einen neuen Vorschlag der Kommission für ein Handelsabkommen mit Marokko, welches erneut keine Trennung zwischen Marokko und der Westsahara vorsieht. Dies zeige letztlich, dass die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen internationale Rechtsnormen dominieren, so Sidmustafa. Als Polisario werde man alle geeigneten rechtlichen Schritte gegen das neue Abkommen einleiten. 

Saharauische Diaspora und Mobilisierung in Deutschland

Auch wenn die sahrauische Diaspora in Deutschland im Vergleich zu Spanien wesentlich kleiner ist, hat sie dennoch in der Vergangenheit immer wieder Unterstützung mobilisiert. Seit den 1970er-Jahren gibt es sowohl in Ost- als auch Westdeutschland Hilfsaktionen. Die SED-Führung der DDR unterstützte die Polisario durch die medizinische Versorgung verwundeter Kriegsopfer und Hochschulstipendien für sahrauische Studierende in Städten wie Leipzig und Dresden. 

In der Bundesrepublik waren zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Gesellschaft der Freunde des Sahrauischen Volkes aktiv, welche Ferienaufenthalte für sahrauische Kinder aus den Geflüchtetenlagern organisierte. Die Gesellschaft für Bedrohte Völker setzt sich seit den 1970er-Jahren für die Rechte der Sahrauis ein.

In den letzten Jahren hat sich zudem eine beachtliche Solidaritätsbewegung entwickelt, welche neben Lokalpolitiker:innen und NGOs vor allem von Graswurzelbündnissen getragen wird. Es gibt Kampagnen gegen die illegale Ressourcenausbeutung der Westsahara, Aktionen gegen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten, Solidaritäts-Rundreisen in die Geflüchtetencamps in Algerien sowie politische und humanitäre Unterstützung in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Minenräumung. 

Rund um den 50. Jahrestag des Grünen Marsches organisieren Solidaritätsgruppen vom 31. Oktober bis 14. November 2025 bundesweite Aktionswochen. In der politischen Haltung gegenüber der Westsahara driften die Reaktionen von Staat und Zivilgesellschaft in Europa auseinander.

 

Dieser Absatz wurde dem Text am 6. November 2025 nach Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution nachträglich hinzugefügt.

 

 

Lennart lebt und studiert zwischen Berlin und Istanbul. Aktuell verfasst er seine Masterthesis über Kooperationen zwischen Städten in Deutschland und Nordostsyrien. Er interessiert sich für kritische Stadt- und Europaforschung, insbesondere im Themenbereich urbane Demokratie und zivilgesellschaftliche Praxis. In seiner Freizeit ist er Hobbyfilmer...
Redigiert von Martje Abelmann, Clara Taxis