Während der Genozid in Gaza andauert, verdeutlichte die Eskalation zwischen Israel und Iran erneut die strukturelle Diskriminierung von Palästinenser:innen innerhalb Israels Grenzen und der Westbank. Ein Blick auf die oft Vergessenen.
„Die israelische Besatzung hat den einzigen Zugang zu neun Dörfern, einschließlich meines Dorfes, geschlossen. Die Westbank wurde zur ‚closed military zone‘ erklärt. Kein Eingang, kein Ausgang. Wir leben in einem Gefängnis, abgeschnitten von der Welt“. Das sind Worte meines Bekannten Hamoudi*, am Morgen des 13. Juni, nachdem Israel seine Angriffe auf den Iran unter dem Namen „Operation Rising Lion“ begonnen hatte. Einige Wochen später, der Raketenbeschuss ist mittlerweile wieder eingestellt, sprechen wir erneut. All das, was in der Westbank und mit den Palästinenser:innen innerhalb Israels passiere, ersticke die Menschen still und heimlich, weitgehend unbeachtet, parallel zur Zerstörung Gazas.
Kein Schutz unter Besatzung
Seit der Nakba, der gewaltvollen Vertreibung von rund 750.000 Palästinenser:innen im Zuge der israelischen Staatsgründung im Jahr 1948, dauert die strukturelle Benachteiligung und Verdrängung durch Israel an. In der Westbank wurde sie durch die Militärbesatzung seit dem Sechstagekrieg 1967 verschärft, und schreitet mit dem völkerrechtswidrigen Siedlungsbau weiter voran, gekrönt von dem Bau der Mauer seit dem Jahr 2002. Amnesty International und weitere Menschenrechtsorganisationen bezeichnen diese systematische Ungerechtigkeit als Apartheid (eine weiterführende Einordnung findet sich in unserem Glossar).
Dieses Apartheidsystem zeigte sich zuletzt während des Krieges mit Iran in aller Deutlichkeit. Während die illegalen israelischen Siedlungen in der Westbank vom israelischen Raketenabwehrsystem, dem „Iron Dome“, geschützt und mit Bunkern ausgestattet sind, gibt es für Palästinenser:innen keine solcher Schutzmöglichkeiten. Hinzu kommt, dass laut dem Palästinensischen Zivilschutz, der Palestinian Civil Defence, immer wieder Teile von Abwehrraketen des Iron Domes auf palästinensische Dörfer und Städte fallen.
Zeugnis der aktuellen Zeit
Ein weiterer Bekannter, Marwan*, der ebenfalls in der Westbank lebt, hat auf Nachfrage seine Erfahrungen aus den letzten Wochen schriftlich festgehalten.
Er berichtet eindringlich von der mangelnden Bewegungsfreiheit: „Die Mobilität ist während des Krieges eingeschränkt – selbst bei schweren medizinischen Notfällen. Ich habe gesehen, wie ein Krankenwagen an einem Kontrolltor stoppen musste. Der Patient wurde von Sanitätern herausgetragen, über Felder voller Olivenbäume, und zu einem anderen Dorf gebracht, um dort in ein neues Fahrzeug umgeladen zu werden“. Diese Willkür an Checkpoints ist für Palästinenser:innen in der Westbank seit Jahrzehnten Realität: stundenlanges Warten, Schikane von verbaler bis hin zu körperlicher Gewalt, Zerstörung oder Konfiszierung von Eigentum, oftmals mündend in der kompletten Verwehrung des Durchgangs. Solche Taktiken führt Sinthujan Varatharajah, freie:r Wissenschaftler:in und Essayist:in, auf koloniale Unterdrückungsmechanismen zurück, die das Ziel verfolgen, Widerstandspotenzial zu minimieren.
Auf die Frage nach dem Erleben des Raketenwechsels antwortet Marwan: „Wir als Volk haben keinen sicheren Ort – keine Schutzräume, keine Unterkünfte, die uns vor Raketen oder Beschuss schützen könnten. Während des letzten Kriegs schlugen einige Raketen in verschiedenen Teilen unseres Dorfes ein. Eine traf ein bewohntes Haus, Menschen wurden verletzt. Selbst in unseren Krankenhäusern gibt es keine Schutzräume. Sie bieten keine Sicherheit. Die Armee kann jederzeit eindringen, Patient:innen verhaften oder töten. Ein junger Mann aus unserem Dorf wurde in einem Krankenhaus ermordet, ein anderer Verwundeter wurde von einer Spezialeinheit verhaftet.“
Die Lage habe sich seit dem 7. Oktober 2023 ohnehin rapide verschlechtert: „Das Leben hat keinen Geschmack mehr. Alles ist zerstört. Die psychische und wirtschaftliche Lage der Menschen ist miserabel.“
Die vergessenen zwanzig Prozent
Doch nicht nur in der Westbank zeigt sich die Ungleichbehandlung. Der mediale Diskurs blendet oft die im heutigen Israel, also innerhalb der als Green Line bezeichneten Grenze aus dem Waffenstillstandsabkommen von 1949, lebenden Palästinenser:innen aus. Ende 2022 machten sie rund zwei Millionen Bürger:innen aus, was etwa 21 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Wenn sie doch Erwähnung finden, werden sie häufig als „arabische Israelis“ bezeichnet – ein Begriff, den der Literaturprofessor David Lloyd als „Paradox des anwesenden Abwesenden“ bezeichnet und als weiteren Versuch des Unsichtbarmachens palästinensischer Identität deutet. Die Menschen selbst bezeichnen sich häufig als „48er-Palästinenser:innen“.
Der umfassende „Ungleichheitsreport“ der Organisation Adalah, die sich für die Rechte der Palästinenser:innen auf israelischem Staatsgebiet einsetzt, belegt dies. Es werden unter anderem signifikante Einkommensunterschiede, ein geringerer Zugang zu Bildung und politischer Teilhabe, sowie eine schlechtere Gesundheitsversorgung angeführt, die demnach zu einer durchschnittlich kürzeren Lebenserwartung führen. All dies werde zudem von strukturellem Rassismus begleitet.
Seit dem Zweiten Golfkrieg 1991 ist es in Israel für Neubauten gesetzlich verpflichtend, einen Schutzraum zu haben. Die Realität sieht jedoch besonders in palästinensischen Gemeinden und Städten anders aus. Laut der Association for Civil Rights in Israel (ACRI) leben 46 Prozent der palästinensischen Bevölkerung in Israel ohne den Zugang zu einem Schutzraum – verglichen mit 26 Prozent der israelischen Mehrheitsgesellschaft ohne derartige Räumlichkeiten. Von 71 untersuchten palästinensischen Kommunen verfügten nur elf über staatlich gebaute sichere Räume. Besonders betroffen seien die Beduinen-Communities im Naqab (dt.: Negev-Wüste), die rund 60 Prozent des israelischen Staatsgebietes einnimmt. Ungefähr 150.000 von ihnen leben in nicht anerkannten Dörfern und Niederlassungen, in denen es keinerlei staatlich geförderte Infrastruktur zum Schutz gibt. Gleichzeitig wird ihnen der eigenständige Bau eben solcher Infrastruktur durch die Regierung verboten.
Unfreiwillige Opfer von Israels Angriffskrieg
Im kürzlichen Raketenwechsel zwischen Iran und Israel haben sich diese Vernachlässigungen auf die schlimmste Art und Weise gezeigt: In Tamra, einer kleineren palästinensischen Gemeinde östlich von Haifa, wurde Manar Abu Al Heija Katib (45) mit ihren Töchtern Shada (20) und Hala (13) und ihrer Schwägerin Manar Diab Katib (41) bei einem Raketeneinschlag getötet. Der Bürgermeister von Tamra, Musa Abu Rumi, erklärte später gegenüber CNN, dass es in der palästinensischen Gemeinde keinerlei staatlich errichte Schutzräume gebe. Am Abend des Unfalltages ging ein Video viral. Zu hören sind jüdisch-israelische Bürger:innen, die das Fallen der Rakete auf Tamra von ihrem Balkon aus beobachten und bejubeln, begleitet von rassistischen Gesängen: „May your village burn“.
Zudem gelangten vermehrt Berichte an die Öffentlichkeit, laut denen jüdisch-israelische Bürger:innen ihren palästinensischen Nachbar:innen den Zugang zu öffentlichen Schutzräumen verweigert hatten. So erzählte die alleinerziehende Mutter Samar al-Rashed (29) gegenüber Al Jazeera English, dass ihre Nachbar:innen in einem Mehrfamilienhaus nahe Akko sie und ihre fünfjährige Tochter nicht in den Schutzraum lassen wollten, nachdem sie gehört hatten, dass Samar Arabisch sprach. Auch aus Jaffa berichtet der Anwohner Nasir Ktelat (63), dass er aufgefordert worden sei, den geteilten Schutzraum nicht mehr zu nutzen.
Für Palästinenser:innen gibt es keinen Waffenstillstand
Bereits einen Tag nach Israels Angriff auf den Iran warnte die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem davor, dass Israel die Situation ausnutzen werde, um die Angriffe in Gaza und in der Westbank zu intensivieren. Diese Prognose bestätigte sich. In der Westbank wurde der eingangs beschriebene Lockdown von Militärrazzien und Festnahmen begleitet. Mein Bekannter untermauert die Berichte von Siedler:innengewalt, willkürlichen Festnahmen und tödlichen Razzien. Er schreibt: „Unser Dorf gleicht einem großen Gefängnis“.
Während zwischen Iran und Israel ein Waffenstillstand vermittelt wurde, verschlechtert sich das Leben unter dem Apartheidsystem für die palästinensische Bevölkerung stetig. Die Zukunft bleibt ungewiss, Aussicht auf Besserung gibt es nicht. Ein normales Leben zu führen sei unmöglich geworden, Marwan hat es aufgegeben: „Unsere einzige Hoffnung liegt in Gott.“
* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.




















