Jüdische Ängste, ob reale oder projizierte, sind Teil der kollektiven Identität. Jüdische Linke dürfen sie nicht den Rechten überlassen, die damit Gräuel rechtfertigen, sondern müssen sie anerkennen.
Wie kann man nach all dem, was im letzten Jahr geschehen ist und weiter geschieht, eine Zukunft zeichnen?
Wie auch immer diese Zukunft aussehen mag: das palästinensische Trauma, dessen Ausmaß wir noch nicht einmal begreifen, wird Teil dieser Zukunft sein. Aber auch jüdische Ängste - unabhängig davon, ob sie real oder projiziert sind. Der jüdisch-israelische Aktivist und Journalist Haggai Matar hat auf der Blog-Plattform +972mag ein großartiges Essay verfasst. Darin fragt er, welche Daseinsberechtigung jüdische Ängste in der aktuellen Situation haben dürfen.
„Während ich dies schreibe, überkommt mich das mir so bekannte Gefühl von Befürchtung, dass ich den Rechten zuspiele und von der ethnischen Säuberung und Massentötungen in Gaza und Libanon ablenke in dem Versuch Komplexität und Nuancen in das Gespräch einzubringen. Es gibt keine Symmetrie zwischen beunruhigenden Online-Diskursen und Rhetorik auf Campus-Wiesen einerseits und der militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Stärke einer globalen Superpower, die Israels Verbrechen ermöglicht.“
Matars Essay ist eine ehrliche und differenzierte Auseinandersetzung aus jüdisch-israelischer Perspektive mit den Dilemmata, die die pro-palästinensische radikale Linke spätestens seit dem 7. Oktober 2023, aber eigentlich schon früher, beschäftigen.
Wenn man Angst ignoriert, verschwindet sie nicht
Israel führt in Gaza mithilfe der USA und Deutschland einen Vernichtungskrieg mit Zehntausenden Toten und einen Krieg im Libanon gegen Zivilist:innen. Und Matar macht sich Vorwürfe, nicht genug dafür zu tun, um diese Kriege zu stoppen. Aber wahr ist noch eine andere Sache: viele jüdische Menschen in der Diaspora und jüdische Israelis leben in Sorge und Angst um ihre eigene Sicherheit. Diese Angst ist über Generationen vererbt, sie ist Teil der kollektiven Identität und erfährt seit dem Massaker der Hamas im vergangenen Jahr einen erneuten Ausbruch. Indem man sie ignoriert oder ihr die Legitimation entzieht, geht sie nicht weg. Sie verschwindet nicht und verliert nicht an Bedeutung.
Sowohl in Israel als auch in Deutschland und den USA wissen Rechte sehr erfolgreich, mit jüdischer Angst Politik zu machen. Sie wissen, wie man sie dazu nutzt, Verbrechen an Palästinenser:innen zu rechtfertigen und kritische Stimmen gegen diese Verbrechen mundtot zu machen. In Israel sind das nahezu die gesamten Medien und der politische Apparat, in den USA Organisationen wie die Anti-Defamation League und in Deutschland der Zentralrat der Juden, sowie viele andere.
Seit dem 7. Oktober war es die hetzerische Rhetorik der Rechten, die diese Ängste befeuerte. Aber auch ein realer Anstieg von antisemitischen Straftaten sowie ein Unwohlsein darüber, wie pro-palästinensische Solidarität im öffentlichen Raum artikuliert wurde. Beispielsweise als Teile der globalen Linken die Gräuel des Massakers trotz ausführlicher Dokumentation nicht glauben wollten, sie als Akt der Dekolonialisierung rechtfertigten und Israelis kein Raum zum Trauern zugestanden. All das verbuchten Rechte unter dem sexy Buzzword „Antisemitismus“.
Auch die Aufforderung „Tel Aviv in Grund und Boden brennen zu lassen“ oder die Aussagen der Gruppe Students for Justice in Palestine, die im Sommer Solidaritätsproteste für Gaza an der Columbia University angeführt hat, sind beklemmend und fühlen sich bedrohlich an.
Die Gruppe feierte den Tod von sieben israelischen Zivilist:innen in Jaffa im Oktober als Widerstand. „Zionisten verdienen nicht am Leben zu sein“, verlautbarte einer ihrer Anführer. Die daraufhin geäußerte Entschuldigung zog man offiziell zurück. Jüdischen Israelis signalisierte dieses Auftreten: In einer fernen, besseren geopolitischen Realität wird für euch kein Platz sein - wohin aber sollen die gehen, die seit Generationen in Israel verwurzelt sind?
Was zählt diese Rhetorik im Angesicht einer Realität, in der nicht Tel Aviv, sondern Leben und Kultur in Gaza ausgelöscht und Menschen im Westjordanland von ihrem Land vertrieben werden? Diese Frage hat ihre Berechtigung.
Nichts, werden viele Menschen antworten - darunter auch viele Jüdinnen und Juden.
Sie zählt viel, glaube ich. Weil Israelis, die sich auf die eine oder andere Weise als Zionist:innen verstehen, als Konsequenz dieser Worte das Gefühl haben, ihre Existenz zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss könne niemals eine Selbstverständlichkeit sein. Und das wiederum hat zur Folge, dass die Mär von der Selbstverteidigung Israels ihre Berechtigung erfährt.
Sind Ängste reine Paranoia?
Die jüdische radikale Linke sowohl in Israel als auch dem Rest der Welt hat die ungesunde Angewohnheit, diese Ängste ihres eigenen Stammes als „reine Paranoia“ unter den Teppich zu kehren oder sich in Schweigen zu hüllen. Das ist ein Fehler und vor allem ist es kontraproduktiv. Ein populäres Thema ist die Instrumentalisierung von Antisemitismus oder von Vernichtungsfantasien, nicht aber die Drohungen selbst. Für diesen Teil sind die Rechten zuständig. Matar schreibt:
„Klar muss sein, dass eine Unterstützung des palästinensischen Rechts, Unterdrückung zu bekämpfen - auch mit Waffengewalt - nicht das Gleiche ist, wie die Gräuel des 7. Oktobers zu rechtfertigen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Das Recht auf Widerstand gegen Besatzung ist Teil des Völkerrechts und genau dieselben juristischen Richtlinien sind es, die Angriffe auf Zivilist:innen untersagen.
Und trotzdem, ohne unsere Sicht auf das viel größere palästinensische Leiden zu verlieren, das sich im vergangenen Jahr und eigentlich schon seit 1948 abspielt, müssen wir die sehr echten und tiefen Ängste von jüdischen Menschen und Israelis anerkennen, deren Wurzeln in einer konkreten Realität liegen.“
Die Anerkennung dieser Angst bedeutet in der Konsequenz, sie nicht den Rechten als Spielball zu überlassen. Sollte dieser Krieg eines Tages enden, wird man über territoriale Lösungen und Prozesse der Dekolonialisierung nachdenken müssen. Wie das aussehen könnte, weiß heute kaum jemand. Aber jüdische Ängste werden nicht von einem Tag auf den nächsten verschwinden. Deshalb werden Teil dieser Lösung auch Ansätze sein müssen, die Israelis Sicherheit garantieren. Dann wird auch die Linke Handlungsfähigkeit beweisen müssen.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.