Der Aktivist Izzat Karaki setzt sich als Mitglied von Youth Against Settlements in Hebron für gewaltlosen Widerstand ein. Inmitten der zunehmenden Gewalt im Westjordanland, erzählt er uns von seinem Leben unter israelischer Besatzung.
Seit dem Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel im Januar hat sich die israelische Militäroffensive im Westjordanland verschärft. +972 magazine nannte sie „schlimmer als die zweite Intifada“. Izzat, wie erlebst Du die Situation vor Ort?
Unser Leben war bereits vor dem 7. Oktober sehr hart und sehr kompliziert. Doch die Lage hat sich schon vor dem Waffenstillstand auf andere Art und Weise verschlimmerte: Der größere Plan Israels ist es, die Palästinenser:innen aus Hebron zu vertreiben und die Zahl der israelischen Siedlungen zu erhöhen. Hebron ist einzigartig, denn 1997 wurde es in die zwei Teile, H1 und H2, geteilt. Die israelischen Siedlungen befinden sich innerhalb der Stadt und gehören wie Kaffee zu meinem täglichen Leben dazu. Jetzt verlautbart Israel, H2 – also den Teil der Stadt, in dem ich wohne – annektieren zu wollen. Was werden sie aber mit uns, den Palästinenser:innen, die hier leben, machen? Es geht um 36.000 palästinensische Menschen, im Vergleich zu nur ein paar hundert jüdischen Siedler:innen und 900 Soldat:innen.
In einem Interview mit dis:orient im Jahr 2023 erklärstest Du, dass alle Soldat:innen in Hebron nur dazu da sind, die Siedler:innen vor den Palästinenser:innen zu schützen, während niemand die Palästinenser:innen vor der Gewalt der Siedler:innen schützt. Wie zeigt sich das heute in Hebron?
Mit der Zeit wurde das immer schlimmer. Seit dem 7. Oktober haben wir es Tag und Nacht mit extrem gewalttätigen Soldat:innen und Siedler:innen zu tun. Dabei darf man nicht vergessen, dass es in der H2-Zone weder ein Krankenhaus, noch einen Rettungsdienst, oder ausreichend Wasser und Strom gibt. Im Jahr 2015 wurden den palestinensischen Bewohner:innen von H2 Nummern zugeteilt. Menschen, die außerhalb der Zone lebten, erhielten keine Nummer und können so die israelischen Checkpoints nicht mehr passieren, um zum Beispiel Freund:innen und Familie zu besuchen. Und selbst wenn man eine Nummer hat, machen es einem die Soldat:innen an den Checkpoints schwer, um von einer Zone in die andere zu gelangen. Seit dem 7. Oktober sind die Checkpoints oft für längere Zeit geschlossen, so dass die Menschen in H2 festsitzen. Die ganze letzte Woche über waren die Checkpoints zum Beispiel zu, die Stadt für uns komplett abgeriegelt.
Dass wir als Palästinenser:innen isoliert werden, soll uns dazu zwingen, die Stadt zu verlassen. Die israelischen Soldat:innen und Siedler:innen kommen nicht direkt in unsere Häuser, nehmen unsere Sachen und werfen uns raus. Aber sie machen uns das Leben so unerträglich, dass wir keine andere Wahl haben, als zu gehen. Viele Familien haben das bereits getan, weil sie die Situation nicht mehr ertragen konnten.
Welche Auswirkungen hat die laufende Militäroffensive auf die Situation?
Noch am selben Tag, an dem sich das israelische Militär aus dem Gazastreifen zurückzog, rückte es in das Westjordanland ein. Sie sagten uns, sie seien mit Gaza fertig und wir wären jetzt an der Reihe. Deshalb führt das israelische Militär seit der Ankündigung des Waffenstillstands Razzien in Hebron und den meisten anderen Städten des Westjordanlandes durch. Dabei verhaften sie Menschen, zerstören Häuser und sperren Straßen ab. Dabei sind 112 von den 122 Eingängen zu meiner Stadt vom Militär gesperrt worden.
Früher habe ich gefilmt, wenn Soldat:innen oder Siedler:innen Palästinenser:innen angegriffen haben. Aber jetzt kann ich das nicht mehr machen. Wenn ich es versuche, wenden sie Gewalt gegen mich an. Und jedes Mal, bevor ich einen israelischen Checkpoint passiere, muss ich darauf achten Apps wie Instagram und WhatsApp von meinem Telefon zu löschen. Denn wenn sie herausfänden, dass ich die Nachrichten verfolge, würden sie mich in Gewahrsam nehmen, mich verprügeln, stundenlang gefangen halten und mein Handy beschlagnahmen.
Innerhalb des Westjordanlands wurden 40.000 Palästinenser:innen vertrieben. Das ist die höchste Zahl seit der Naksa von 1967. Außerdem hat Israel zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder Panzer geschickt. Wo gibt es die meisten Vertreibungen und wohin gehen die Menschen?
Überall im Westjordanland wurden viele Menschen getötet. Die meisten Vertreibungen finden in den nördlichen Gebieten des Westjordanlandes statt, in Orten wie Dschenin, Tulkarem und Nablus. Die israelische Armee stürmt die Flüchtlingslager und hält sich dort seit über einem Monat rund um die Uhr auf. Viele Familien haben ihre Häuser bereits verlassen. Sie wollen einfach nur in Frieden leben, leisten keinen Widerstand und kämpfen nicht. Die Vertriebenen suchen in Krankenhäusern und Hotels eine Bleibe. Oder sie kommen bei Nachbarn oder Verwandten unter, die in sichereren Gebieten leben. Das Ausmaß der Gewalt in den Lagern, insbesondere im Norden, ist extrem hoch.
Gewalt im Westjordanland ist für dich nichts Neues – mit der Organisation Youth Against Settlements (YAS) bist du seit ihrer Gründung im Jahr 2007 sowohl Siedler- als auch Militärangriffen ausgesetzt gewesen. Jetzt hat diese neue Phase der Eskalation eingesetzt: Allein seit dem 7. Oktober 2023 gab es 362 Angriffe in Hebron. Wie kann die YAS angesichts der Angriffe und Einschränkungen arbeiten?
Leider haben nur fünf unserer Mitglieder eine Identifikationsnummer um H2 betreten zu können. Die palästinensischen Familien hier leiden ungemein. Als Gruppe versuchen wir ihnen zu helfen. Wir unterstützen sie mit ihren Häusern und versammeln uns, wenn jemand an einem Checkpoint angehalten oder verhaftet wird, um der Person und den Familien zu Seite zu stehen. Früher haben wir viel mehr getan und zum Beispiel Demonstrationen veranstaltet. Aber jetzt ist es zu gefährlich. Selbst wenn wir friedlich gegen die Besatzung auf der Straße gehen würden, käme das israelische Militär noch in der gleichen Nacht zu uns nach Hause, um uns zu verhaften.
YAS ist eine überparteiliche Organisation. Im Oktober 2024 wurde YAS und euer Gründer Issa Amro mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Begründet wurde die Verleihung des Right Livelihood Award mit dem strikten Bekenntnis von YAS zur Gewaltlosigkeit, das in „scharfem Kontrast“ zur „gewalttätigen Realität der israelischen Besatzung“ stehe. Was bedeutet gewaltfreier Widerstand für dich und wie sieht er in der Praxis aus?
Um ehrlich zu sein, ist es schwierig, als Palästinenser:in an Gewaltlosigkeit zu glauben, denn wir wachsen inmitten von Gewalt auf. Trotzdem möchte ich alle meine Leute überzeugen, sich mir anzuschließen. Wir sind Aktivist:innen, aber wir können uns der Besatzung nicht allein wiedersetzen. Wir brauchen Familien, die uns unterstützen. Wir helfen unseren palästinensischen Mitbürger:innen und klären sie über unseren Aktivismus auf, denn das bedeutet, dass niemand von uns allein ist. Zudem versuchen wir nach außen, das Bewusstsein für das Leben unter der Besatzung zu schärfen. Wir vertreten unsere Interessen, nutzen soziale Medien, führen Zoomgespräche mit Universitäten und Schulen und organisieren öffentliche Versammlungen. Unsere Aufgabe ist es, zu bleiben.
Du hast gesagt, dass ihr das Bewusstsein für die Geschehnisse schärfen wollt. Hatte der Gewinn des Right Livelihood Award dabei irgendwelche praktischen Auswirkungen?
Ja, ganz sicher. Wir sind international bereits bekannt, aber diese Art der Anerkennung bringt unserer Arbeit noch mehr Aufmerksamkeit. Wenn uns die Leute im Internet finden und sehen, was wir tun, steigert das ihr Interesse, uns zu unterstützen. Das hat uns ermöglicht, mit neuen Menschen zusammenzuarbeiten und neue Beziehungen zu Organisationen aufzubauen, die sich für das Leben der Palästinenser:innen unter der Besatzung interessieren. Außerdem versuchen wir die Besucherzahlen hier in Hebron zu erhöhen.
Warum ist das jetzt wichtig?
Früher kamen häufig, fast jeden Tag, Delegationen zu uns. Das ist so wichtig, denn wenn man Hebron besucht, versteht man in nur zwei Stunden die wahre Bedeutung der israelischen Besatzung und der Apartheid. Und die Altstadt war das frühere Herz von Hebron. Wenn internationale Besucher:innen gekommen sind, öffneten viele Geschäfte ihre Türen. Aber seit dem 7. Oktober haben die Besucher:innen Angst. Wenn man heute in die Altstadt geht, ist sie leer, fast wie eine Geisterstadt. Viele Menschen mussten ihre Geschäfte schließen und die Stadt verlassen.
Du bist seit fast 16 Jahren bei YAS aktiv – und du machst immer weiter. Was gibt dir Hoffnung?
Wenn ich die Hoffnung verlieren würde, müsste ich meine Sachen packen und gehen. Im Grunde leben wir für die Hoffnung. Gleichzeitig versuchen wir den Menschen Hoffnung zu geben. Viele Palästinenser:innen geben jedoch auf, weil sie das alles nicht mehr ertragen können. Manchmal geht es auch mir so und ich frage mich: Wozu das alles? Selbst wenn wir anderen von unserem Leben erzählen, Reden halten und Besichtigungen organisieren, ändert sich am Ende nichts zum Guten. Stattdessen wird es noch schlimmer. Heutzutage werden Kinder und Frauen an den Checkpoints schickaniert. Ihre Handys werden durchsucht oder sie werden beschimpft. Und wenn ich das mitbekommen und mich für sie einsetze, dann werde ich ebenfalls angegriffen und gedemütigt. Also fühle ich mich oft hilflos. Doch wenn man die Hoffnung verliert, verliert man alles. Deshalb halte ich an ihr fest.
Im Juli 2024 entschied der IGH, dass die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete gegen das Völkerrecht verstößt. Lassen dich solche Entscheidungen optimistischer in die Zukunft blicken?
Es ist sehr wichtig, dass Israel für Apartheid verantwortlich gemacht und die Besatzung als illegal erklärt wurde. Selbst als gegen Netanjahu ein Haftbefehl vorlag und nichts passierte, als er in die USA einreiste, war das für uns von großer Bedeutung. Netanjahu könnte gestoppt werden, wenn Länder wie Deutschland oder die USA Druck auf ihn ausüben würden. Aber leider sehen wir diese internationale Unterstützung nicht. Stattdessen sagen die meisten israelischen Führer:innen, dass sie noch nie einen besseren Freund als Trump hatten. Die israelische Regierung und das Militär können also weiterhin tun, was sie wollen, in dem Wissen, dass sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Darum habe ich Angst, dass die geplante Annexion der palästinensischen Gebiete stattfinden wird. Und jedes Mal, wenn ich daran denke, macht es mich traurig.