05.04.2024
Wir brauchen keinen Leviathan
Die iranische Bewegung besteht aus dem Volk. Grafik: Zaide Kutay.
Die iranische Bewegung besteht aus dem Volk. Grafik: Zaide Kutay.

Im September 2022 gehen erste Gerüchte über eine junge Frau in Teheran um, die aufgrund ihres Kopftuchs ins Koma geschlagen wurde. Mit „Frau Leben Freiheit“ entsteht eine Bewegung - die aber längst nicht so zentriert ist, wie viele glauben (wollen). 

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Ich erinnere mich an die vielen Male, als Freundinnen im Iran mir davon erzählten, wie sie aufgehalten wurden, wie ihnen das Auto konfisziert wurde, weil sie ohne Kopftuch darinsaßen, erinnere mich, wie oft ich zuschauen musste, wenn sie von anderen wegen ihrer Kleidung belästigt werden. Wie sie bei Verwandten auf taube Ohren stießen. Wie die Sittenpolizei auch sie hätte erwischen können.

Auf der Ankündigung ihrer Beerdigung steht ihr Name groß und in Rot „Mahsa (Jina) Amini”. Jina? Warum in Klammern? In einem Interview mit BBC-Farsi erklärt ihre Mutter, dass sie nicht wollten, dass sie durch ihren Namen in der Öffentlichkeit als Kurdin geoutet und dafür diskriminiert wird.

Wacht auf! Wir haben zu lange bloß zugeschaut! Die Stimme des eigenen Gewissens wird zu laut. Wir sind alle mitverantwortlich. Grenzen, die Menschen einst voneinander trennten, scheinen nun absurd und irrelevant: Kurd:innen in Saqqez rufen „Jin Jiyan Azadi”. Der Ruf wird in Teheran aufgegriffen und ist im ganzen Land zu hören. Der Beginn eines indirekten Dialogs in Form eines fast täglichen Austauschs und Reproduktion von Parolen, Symbolen, Bildern und Szenen.

Das Kollektiv spricht

Wenn die Stimme des Volkes nirgends vertreten ist, wird das Volk zum Parlament. Verhandlungen geschehen in Echtzeit. Was Menschen verbindet und Solidarität fördert, wird gestärkt, aufgenommen und reproduziert. Und was zu Spaltung und Uneinigkeit führt, wird nicht wiedergegeben und vergessen. Die Bewegung reguliert sich selbst.

Viele gehen auf die Straßen, andere schauen zu. Alle teilen ihre Gedanken und Gefühle zuhause oder im Internet mit Freund:innen oder in der Familie. Auf Instagram wird beispielsweise der Wunsch nach einer Hymne lauter. „Hey Künstler:innen! Was sollen wir denn jetzt eigentlich auf den Straßen singen?“. Darauf antworten viele mit ihren eigenen Songs, vor allem im Ausland, aber es ist der Song von Shervin Hajipour, einem jungen Popstar aus Mazandaran im Norden Irans, der sich durchsetzt. Auf Twitter fragt er Menschen, wofür sie die Proteste unterstützen. Die Antworten sammelt er in seinem Song „Baraye...“ (dt.: für...). In nur wenigen Stunden erreicht das Video das ganze Land. Selbst die, die sich normalerweise nie politisch äußern, finden mit diesem Song ihre Stimme und teilen diese in den Sozialen Medien. Es wird klar, wir sind nicht allein und wir sind uns in mehr Punkten einig, als wir glauben.

Nicht immer läuft das aber reibungslos. Debatten über den eigenen Rassismus, Intersektionalität und Feminismus, die im Iran immer schon da waren, aber nie öffentlich geführt wurden, müssen nun Antworten finden. So schlägt beispielsweise Ex-Fußballer Ali Karimi den Ruf „Mard Mihan Abadi” (dt.: Mann Heimat Wohlstand) vor. Einige nehmen ihn auf und rufen ihn auf den Straßen zusammen mit „Frau Leben Freiheit“. Wieder gehen Videos herum und wieder diskutieren wir privat. Der Ruf hat für mich den bitteren Beigeschmack des Patriarchats und viele in meiner Umgebung stimmen zu. Scheinbar sind wir nicht allein, denn die Rufe werden immer leiser und sind irgendwann nicht mehr zu hören.

Jede Person trägt auf eigene Weise bei: Künstler:innen zeichnen Bilder, die auf Demo-Plakaten wieder auftauchen, Musiker:innen schreiben Songs, Sportler:innen und Schauspieler:innen machen ihre Unterstützung öffentlich und setzen damit ihre Karriere aufs Spiel, Journalist:innen schreiben trotz des erhöhten Drucks weiter, Gewerkschaften rufen zum Streik auf, viele gehen auf die Straßen, andere verteilen Süßigkeiten, Blumen und Umarmungen als kleine Geste der Solidarität und Menschen im Ausland teilen, übersetzen und sorgen für Aufmerksamkeit.

Als die Proteste weniger werden und das Kollektiv erschöpft und einsam scheint, versammeln sich 80.000 Menschen in der Diaspora in Berlin und demonstrieren. Das Signal ist deutlich, „Wir sind überall und geben Rückendeckung.”

Take me to your leader!

Niemand leitet die Proteste, doch hier im Westen weiß die Politik nichts damit anzufangen. Sie haben so wenig Vertrauen ins Kollektiv, dass sie krampfhaft nach einer Führungsperson suchen. Sie wollen einen iranischen Alexei Nawalny, oder einen Juan Guaidó den sie zu sich ins Parlament einladen und bejubeln können. Ein Individuum, welches sie hochhalten und unterstützen können.

Sie vergeben Preise an Menschen im Iran, die sie nicht annehmen können und setzen auf Celebrity-Aktivist:innen, schütteln Hände und machen Fotos: Präsident Macron trifft sich mit Journalistin und Aktivistin Masih Alinejad, Bundespräsident Steinmeier trifft sich mit Ex-Bayern-Spieler Ali Karimi, US-Vizepräsidentin Kamala Harris trifft sich mit Schauspielerin Nazanin Boniadi und lädt den Sohn des ehemaligen Schahs Reza Pahlavi zur Münchener Sicherheitskonferenz ein.

Jeder dieser Akteur:innen sorgt im Iran für hitzige Diskussionen am Esstisch. Abgesehen davon, was ich persönlich von ihnen halte, ist für mich klar, dass der Personenkult um jede dieser Personen Menschen mehr spaltet statt sie zu verbinden.

Ich denke aber die Wunden gehen tiefer. Viele Iraner:innen  sind, aus gutem Grund sehr skeptisch gegenüber „Auserwählten des Westens“. Als am Anfang des Jahres der Friedensnobelpreis an Narges Mohammadi verliehen wird, trifft die Aussage der Vorsitzenden des norwegischen Nobelkomitees Berit Reiss-Andersen, Mohammadi hätte 2022 „natürliche Führung der Frau-Leben-Freiheit-Bewegung“ übernommen, auf viel Skepsis. Sie lernen aus den Fehlern der Vergangenheit und misstrauen jedem Individuum, hinter dem sich Macht und Menschen versammeln. Die Bewegung ist dezentral und scheint glücklich so.

„Woman Life Freedom“ als Branding

Auch hier in Deutschland neigt man zum Personenkult:Nach über einem Jahr Aktivismus scheint die Menschenrechtsorganisation Hawar Help in Deutschland nun synonym mit „Frau Leben Freiheit“. Wo vor einem Jahr noch Hawar Help als eine von vielen Schallverstärkern agierte und Stimmen aus dem Land sprechen ließ, sind nun lange Reden von Düzen Tekkal zu sehen. Ihre Arbeit begrenzt sich jedoch nicht auf Iran, sondern beinhaltet unter anderem auch „German Dream“ und ihre liberale Vision für Deutschland. Das wäre auch vollkommen in Ordnung, jedoch nehmen sie das Thema Iran und die Symbole von „Frau Leben Freiheit“ in jeden dieser Räume mit, ohne dass Iraner:innen kollektiv darüber entscheiden können.

Während „Baraye…” von Menschen im Iran nicht in der Öffentlichkeit gehört werden kann, wird er hier in Deutschland zum Brandsong und verliert langsam seine ursprüngliche Bedeutung. Shervins Song wird in jedem Kontext abgespielt, indem es nur ansatzweise um Iran geht. Er begleitet Videos von deutschen Politiker:innen, in denen mit oder ohne Düzen Tekkal über Iran, Sanktionen und die europäische Iranpolitik gesprochen wird.

Der Song erklingt auch am 14. Januar auf der „Demo gegen rechts“ in Berlin, wo er scheinbar vor allem die Anwesenheit Tekkals bekunden soll. Auf einer Demo, wo - ähnlich wie bei staatlichen Demos der Islamischen Republik - der Staat mitläuft und von Rassismus betroffene Palästinenser:innen ausgeschlossen werden.

Deutsche singen „Baraye…” auf der Demo mit der bloßen, vagen Annahme mit, dass es etwas mit Iran und Freiheit zu tun hat. Sie singen “für die dreckige Luft Teherans", ohne je mit Atemnot und brennenden Augen nach Hause kommen zu müssen. Sie singen „für Pirouz und seinem vermutlichen Aussterben”, ohne zu ahnen, dass er letztes Jahr verstarb und Iran tagelang den Tod von Pirouz, der Baby-Gepard im Teheraner Zoo, betrauerte. Sie singen „für die afghanischen Kinder“, ohne sich nur ansatzweise bewusst zu sein, was Geflüchtete aus Afghanistan im Iran erleiden müssen; und das Seite an Seite mit einem Kanzler der „konsequent abschieben” will.

Bei so einem starken Disconnect ist es kein Wunder, dass der Diskurs hier in Deutschland nie weiter ging als „die mutigen Frauen Irans“.

Wozu das Ganze?

Ich möchte hier die Arbeit der Menschen in der Diaspora nicht kleinreden, oder sagen, dass Preise nichts bringen. Auch ich war außer mir, als Shervin seinen Grammy gewann und auf Twitter schrieb: „Wir haben gewonnen“. Sie sind nicht nutzlos. Sie schaffen Aufmerksamkeit in einer Welt, wo Aufmerksamkeit erkämpft werden muss. Ich behaupte auch nicht, dass ich die Meinung aller Iraner:innen vertrete, oder überhaupt vertreten kann. Sicherlich wird es viele Iraner:innen geben, die nicht meiner Meinung sind. Ich bin auch nur einer von vielen, aber es geht mir genau um diese Unterschiede. Wir sind uns nicht immer einig und das ist in Ordnung. Diese Unterschiede benötigen Raum zum Atmen, damit der Dialog weiter stattfindet. Raum, welcher immer enger wird, wenn von außen schnellstmöglich eine künstliche Einheit hinter Individuen verlangt wird.

Ich sehe in den Auszeichnungen, Preisen, Treffen, im symbolischen Haare-Schneiden den verzweifelten Wunsch Europas, Teil der Konversation zu sein und mitbestimmen zu können, ohne dabei viel riskieren zu müssen. Dass beim Hervorheben einer Gruppe über die anderen, ihr die Deutungshoheit zugesprochen wird und das Kollektiv dabei zu zerreißen droht, scheint Europa  nicht zu bemerken.

Die Zukunft Irans, wie sie auch aussehen mag, wird von den Menschen dort bestimmt. Und das mindeste, was Menschen wie wir hier machen können, ist genauer hinzuhören und ihnen dabei nicht im Weg zu stehen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

Mohammad ist ein Student aus Berlin. Er ist zwischen Iran und Deutschland aufgewachsen und schreibt vor allem über grenzübergreifende Diskurse und Entwicklungen, historische Zusammenhänge in Iran, sowie Rassismus und Migration.
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich