03.11.2025
Taliban-Vertreter in Deutschland: Zwischen Werten und Interessen
Links die Deutschland Flagge und rechts die Flagge der Taliban. Foto 1: fdecomite, Foto 2: Aerra Carnicom, Wikimedia Commons
Links die Deutschland Flagge und rechts die Flagge der Taliban. Foto 1: fdecomite, Foto 2: Aerra Carnicom, Wikimedia Commons

Mit der Aufnahme von Taliban-Diplomaten in der afghanischen Botschaft und im Konsulat priorisiert Deutschland innenpolitische Interessen. Bedeutet dies ein Abwenden von humanitären Prinzipien und ein Präzedenzfall für Europa?

Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sind etwa vier Jahre vergangen. In dieser Zeit haben die Taliban ihre politische Macht gefestigt und sich nicht gescheut, ihre Bevölkerung zu unterdrücken. Darunter die massive Einschränkung der Rechte von Frauen und Mädchen, die Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten, umfassende Medienzensur und willkürliche Verhaftungen.

Diese Situation führt dazu, dass seit 2021 eine beträchtliche Anzahl von Afghan:innen das Land verlassen und in Nachbarländer wie Pakistan und Iran sowie nach Europa geflohen sind. Laut Informationen der EU-Kommission lebten bis Ende 2024 etwa 461.000 afghanische Staatsbürger:innen in Deutschland, darunter 34.800, die besonders gefährdet sind, da sie entweder direkt mit deutschen Institutionen in Afghanistan zusammengearbeitet haben oder aufgrund ihrer Tätigkeit in den Medien, der Kunst oder ihrem Einsatz für Menschenrechte.

Doch die jüngste Entscheidung der deutschen Bundesregierung, zwei Vertreter der Taliban als offizielle Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Berlin und im Konsulat in Bonn einzuführen, wirft Fragen auf.

Diese Entscheidung wurde beschlossen, um die Abschiebung afghanischer Migrant:innen mit Strafregister zu erleichtern, und soll nicht als Anerkennung der Taliban als legitime Regierung gelten; bislang hat nur Russland das Regime anerkannt. Daraufhin traten alle Mitarbeiter:innen des afghanischen Konsulats in Bonn zurück. Aus Sorge, dass die Taliban legitimiert wird und hinsichtlich von Sicherheitsbedenken der Daten afghanischer Bürger:innen.

Welche Auswirkungen hat diese diplomatische Entscheidung auf die mehrere Hunderttausend Menschen umfassende afghanische Gemeinschaft in Deutschland? Und inwieweit stellt sie Deutschland, welches sich als wertebasiertes Land versteht, in Frage?

Zusammenarbeit mit den Taliban

Deutschland vollzieht derzeit eine Wende in seiner Migrationspolitik. Nach mehreren sicherheitsrelevanten Angriffen – darunter der Messerangriff in Mannheim im Mai 2024, bei dem ein Täter einen Polizisten tötete, und der Anschlag mit einem Auto in Magdeburg im Dezember 2024, bei dem ein Arzt zwei Menschen tötete – hat die Regierung unter dem Druck rechtskonservativer Parteien beschlossen, einen restriktiveren Kurs gegenüber Asylsuchenden einzuschlagen. Im Juli dieses Jahres wurden 81 afghanische Migrant:innen nach Kabul zurückgeführt.

Gegenwärtig verhandelt die deutsche Regierung direkt mit den Taliban, um die Rückführung von Migrant:innen, Geflüchteten und Asylsuchende zu erleichtern. Kritiker:innen sind der Ansicht, dass dies de facto eine offizielle Interaktion mit einem Unterdrückerregime bedeutet. Internationale Organisationen, darunter Amnesty International und das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), haben wiederholt betont, dass die Rückführung von Personen nach Afghanistan das Prinzip des „non-refoulement“ verletzt – ein im Völkerrecht verankertes Grundprinzip und Bestandteil der Genfer Flüchtlingskonvention. Die deutsche Regierung erwidert, dass sie nur Personen zurückführe, die „eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit“ darstellen – eine vage und diskutierbare Definition.

Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Vertretern der Taliban ist ein deutliches Beispiel für inoffizielle Diplomatie – also eine Situation, in der Staaten ohne offizielle Erklärung mit Regimen interagieren, die völkerrechtlich oder politisch nicht als legitim anerkannt sind. Im Fall Deutschlands zeigt dieses Vorgehen den Versuch, ein Gleichgewicht zwischen praktischen Notwendigkeiten, wie der Abschiebung afghanischer Geflüchteter und der Wahrung regionaler Stabilität, und politischen Prinzipien, wie der Nichtanerkennung undemokratischer Regime, herzustellen.

Ein Zeichen von Legitimation

Doch gerade durch diese Form der Interaktion wird die Grenze zwischen einem begrenzten und bedingten Dialog und einer impliziten oder indirekten Anerkennung zunehmend verwischt. Mit anderen Worten: Deutschland könnte mit diesem Verhalten unbeabsichtigt ein Signal der Legitimität an die Taliban senden – auch wenn das eigentliche Ziel darin besteht, die Kommunikation aus praktischen Gründen im Zusammenhang mit Abschiebungen aufrechtzuerhalten.

Dies könnte langfristig zu einer schrittweisen Normalisierung der Taliban führen; das heißt, die de-facto-Akzeptanz dieser Gruppe als legitime Regierung. Diese Dualität zwischen Werten und Interessen stellt den ethischen Anspruch der deutschen Diplomatie in Frage: Einerseits werden Menschenrechte und die Freiheit der Frauen betont, andererseits werden Vertreter einer Gruppe akzeptiert, die genau diese Rechte verletzt. Dies führt dazu, dass sowohl Afghan:innen in der Diaspora als auch andere Migrant:innengemeinschaften ihr Vertrauen in die deutsche Regierung verlieren.  

Deutschlands diplomatische Beziehungen mit der Taliban könnte ein Vorbild für andere EU-Länder sein Dies würde die einheitliche Außenpolitische Haltung gegenüber unterdrückerischen Regimen der Europäischen Union gegenüber den Taliban gefährden. Ein Beispiel dafür ist ein Schreiben, das im Oktober dieses Jahres 20 europäische Länder, darunter Deutschland, an die Kommission der Europäischen Union sandten und eine Ausweitung der Möglichkeiten zur Rückführung afghanischer Migrant:innen in ihr Heimatland forderten.

Gleichzeitig sendet Deutschland damit das Signal an andere autoritäre Regime, dass Menschenrechtsverletzungen kein Hindernis für internationale Zusammenarbeit sind. Dieser Trend schwächt die ethischen und rechtlichen Grundlagen einer auf Menschenrechten und demokratischen Werten basierenden Weltordnung und zeigt, dass politische Interessen und innere Sicherheit vorrangig sind.

Konsulate als sensible Orte und Symbol kollektiver Identität

Konsulate sind sensible Orte, da sie Identitätsinformationen Tausender Migrant:innen besitzen. Die Präsenz von Taliban-Vertretern erhöht das Risiko des Missbrauchs dieser Daten zur Identifizierung und Bedrohung von Regimegegner:innen. Der Tagesspiegel berichtete am 23. Oktober, dass Taliban-Vertreter bereits Zugang zu sensiblen Informationen von afghanischen Bürger:innen und Migrant:innen in Deutschland erhalten hätten.

Für Migrant:innen sind Konsulate eine lebenswichtige Verbindung zum Herkunftsland und ein Symbol kollektiver Identität. Die Anwesenheit der Taliban in diesen Institutionen kann das Vertrauen zerstören. Für Frauen, Aktivist:innen und Opfer, die Gewalt seitens der Taliban erfahren haben, ist die Anwesenheit von Taliban-Vertretern schmerzhaft und demütigend. Viele Migrant:innen vermeiden es nun, die Konsulate aufzusuchen, und suchen nach anderen inoffiziellen Wegen.

Eine Bewährungsprobe für das politische Gewissen Deutschlands

Die Entscheidung Deutschlands, afghanische Migrant:innen abzuschieben und Taliban-Vertreter in den Konsulaten zu akzeptieren, ist zutiefst beunruhigend. Es zeichnet eine deutliche Wendung in der deutschen Außenpolitik, weg von Menschenrechten hin zu politischem Pragmatismus. Diese beiden scheinbar getrennten Entscheidungen senden in Kombination eine widersprüchliche und komplexe Botschaft: Einerseits werden Asylsuchende und Migrant:innen, die ihr Leben und ihre Sicherheit in einem kriegsgebeutelten Land wie Afghanistan verloren haben, unfreiwillig und gezwungen in ein Land zurückgeführt, das selbst eine gefährliche und instabile Umgebung darstellt. Andererseits erhalten Vertreter ebenjenes Regimes, vor dem diese Menschen geflohen sind, offizielle Positionen auf deutschem Boden und genießen konsularische Privilegien.

Diese Widersprüche erschüttern die Grundlagen des öffentlichen Vertrauens in die Regierung und die herrschenden Institutionen, insbesondere in das Bundesinnenministerium, das über Abschiebungen entscheidet, das Auswärtige Amt, das diplomatische Beziehungen und die konsularische Zusammenarbeit steuert, sowie die Bundesregierung insgesamt, die die politische Linie vorgibt. Sie verdeutlichen, dass politische Interessen und innere Sicherheit Vorrang vor menschenrechtlichen und moralischen Prinzipien haben.

Notwendige Maßnahmen

Um diesen Kurs zu korrigieren und das öffentliche und internationale Vertrauen zurückzugewinnen, sollte die deutsche Bundesregierung eine Reihe sofortiger Maßnahmen vornehmen. Erstens ist rechtliche Transparenz bei der Aufnahme der Taliban-Vertreter notwendig: Das bedeutet, dass die Regierung offenlegen muss, auf welcher rechtlichen Grundlage diese Vertreter offizielle Positionen in Deutschland erhalten und konsularische Privilegien genießen. Konkret sollte das Auswärtige Amt prüfen und dokumentieren, welche Gesetze, internationalen Abkommen oder bilateralen Verträge dies erlauben, und diese Prüfungen anschließend im Parlament öffentlich darlegen. So kann das Parlament die Entscheidung hinterfragen und diskutieren, und Bürger:innen sowie internationale Partner:innen erhalten nachvollziehbare Informationen darüber, dass die Maßnahme rechtlich zulässig und nicht willkürlich getroffen wurde.

Zweitens muss der Schutz der Daten von Geflüchteten garantiert und der Zugang der Taliban-Vertreter zu diesen Informationen vollständig blockiert und unter direkter Aufsicht des Auswärtigen Amtes gestellt werden. Drittens ist die Unterstützung der afghanischen Diaspora- und Migrant:innengemeinschaft innerhalb Deutschlands, einschließlich Beratungs-, psychologischer und sozialer Unterstützungsdienste, von entscheidender Bedeutung.

Viertens muss die Wahrung humanitärer Prinzipien und eine sofortige Überprüfung der Rückführungspolitik auf die Tagesordnung gesetzt werden, um die unrechtmäßige Rückführung von Menschen in ein unsicheres Umfeld zu verhindern. Und schließlich ist eine europäische Koordination zur Schaffung einer einheitlichen Position auf EU-Ebene unerlässlich, um eine schrittweise Legitimierung der Taliban zu verhindern und der internationalen Gemeinschaft eine klare Botschaft zu senden, dass Menschenrechte und menschliche Würde in der europäischen Politik nicht verhandelbar sind.

Letztendlich ist das, was heute in Berlin geschieht, nicht nur eine administrative oder politische Entscheidung; es ist vielmehr eine moralische und historische Bewährungsprobe dafür, ob die EU eine auf Werten basierte Gemeinschaft ist. Künftige Generationen werden Staaten, die mit autoritären Regimen zusammengearbeitet und dabei Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen haben, kritisch bewerten. Deutschland und die EU stehen heute vor einem dieser schicksalhaften Momente; einem Moment, der die Zukunft der europäischen Kooperation und ob diese sich zu den Prinzipien der Menschenrechte bekennt, bestimmt.

 

 

Shahhussain Rasuli ist Journalist und Experte für Friedens- und Konfliktforschung mit Sitz in Berlin. Ehemaliger Leiter der Nachrichtenredaktion der größten afghanischen Tageszeitung “Hashte Subh Daily” und derzeit bei “Radio Connection”, einem deutschen Medienangebot, aktiv. Er hat Journalismus studiert und seine Ausbildung an der “OsloMet...
Redigiert von Regina Gennrich, Nora Theisinger