29.09.2023
Das Improvisationstheater der Iran-Revolution
Der laufenden Kampf in Iran ist ein Improvisationstheater
Der laufenden Kampf in Iran ist ein Improvisationstheater

Ein Jahr nach dem Ausbruch der Revolution scheitern alle Versuche, die Entwicklungen zu eigenen Gunsten zu steuern. Denn Revolutionen leben von Spontanität und brauchen keine Regisseur:innen.    

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

In einer erzwungenen Zeitleiste finden sich zahlreiche Iraner:innen wieder: In dem Moment, der Momente von einem Jahr zuvor mit sich trägt und voranbringt. Jetzt ist ein Jahr seit dem Zeitpunkt der Festnahme von Jina Mahsa Amini vergangen, seit ihrem Widerstand gegen die sogenannte Sittenpolizei, seit ihrer Verlegung ins Krankenhaus, seit den Wellen von Lügen und Leugnungen – von „Sie war vorerkrankt“ bis „Im Polizeiwagen hat man nur gescherzt und gelacht“, dann „Wir ermitteln und werden die Schuldigen bestrafen“. Von der tragischen Wahrheit des Hirntodes infolge von Schlägen gegen den Schädel bis zu der überraschenden Versammlung vor dem Kasra-Krankenhaus, den Versammlungen auf der, ausgerechnet, Hijab-Straße in Teheran und der prachtvollen Bestattung von Jina auf dem Aichi-Friedhof in Saghez, ihrer Heimatstadt, und den anderen Momenten, die nach und nach heranrücken. Sie vergehen und vergehen doch nicht. Diese Momente, obwohl jeder von ihnen eine klare und identifizierbare Zeitachse hat, sind vielleicht nicht so leicht mit „vergangen“ zu kennzeichnen.

Das Ein-Jahr-alt-werden dieser Momente hat den Wunsch nach einer Bestandsaufnahme und Reflexion über das, was geschehen ist, erweckt. In Talkshows und Zeitungsartikeln diskutieren die Analytiker:innen und Politiker:innen darüber, ob die Bewegung endgültig niedergeschlagen worden ist und was sie erreicht hat.

Denjenigen, die die Bewegung für beendet erklären, geht es darum, woran die Niederlage lag: der mangelnden Führung, der Planlosigkeit der Opposition, der extrem harten Unterdrückung, der fehlenden Unterstützung der internationalen Gesellschaft. Die anderen suchen nach kleinen Erfolgen, die es durchaus gegeben hat: dass das Nichttragen des Kopftuchs normalisiert worden ist, dass die Regime-Propaganda nicht mehr effektiv ist, dass das Regime geschwächt worden ist, dass Frauen endlich die Hauptakteurinnen der Politik von unten sind.

Freiheit des Träumens

All diese Analysen, Einschätzungen und Zusammenfassungen beiseite, hat die Revolution in Iran eins erreicht: die Freiheit des Träumens. Die Bewegung hat die Phantasiekraft der Bevölkerung, oder zumindest die des Teils der Bevölkerung, der die islamistische Herrschaft ablehnt, befreit.

Das zeigt sich vor allem an der Verwendung, oder am vorangegangenen Rückzug des Begriffs „Revolution“ in öffentlichen Debatten in Iran. Seit der Etablierung der Islamischen Republik am Anfang der 1980er Jahre hat sich keine Protestwelle so auszeichnen können, dass sie den Begriff Revolution verdienen würde. Unmittelbar nach dem Sturz der Monarchie 1979 fanden zum Beispiel massive Proteste in kurdischen Gebieten des Landes statt, die eher „Unabhängigkeit“- oder „Autonomie“-Proteste genannt wurden. Die linken Gruppen, die in den 80er Jahren protestierten, sehnten sich nach keiner erneuten Revolution, sondern wollten sich die bereits gelungene Revolution zurückerobern. Weder die Student:innenproteste vom Juli 1999 noch die Massenproteste von 2009 wurden jemals von den Protestierenden als Revolution bezeichnet. Als Aktivist der sogenannten Grünen Bewegung (2009-2011) habe ich das erste Mal nach meinem Ankommen im deutschen Exil gehört, dass man sie hier auch die Grüne Revolution nennt– ein total fremder Begriff für mein Insider-Verständnis von dieser Bewegung, den ich nie in den Mund genommen habe und nehmen werde.

Auch die Proteste von November 2019, ein Wendepunkt der iranischen Geschichte, werden immer nur „Proteste“ genannt.

Die „Frau-Leben-Freiheit“-Bewegung hingegen wurde sehr früh, bereits seit dem letzten Oktober, mit dem Begriff „Revolution“ betitelt. Tatsächlich hat dieser Aufstand den Begriff Revolution wiederbelebt. Auch nachdem die Reformbewegung nach den Protesten 2019 und Präsidentschaftswahlen 2021  in Iran scheiterte und der Diskurs, dass das Regime gehen müsse, die politische Stimmung dominierte, wurde nicht das Wort Revolution in Gebrauch genommen, sondern „Umsturz“. Die politischen Gruppen und Persönlichkeiten, die einen politischen Wandel in dem Land forderten, nannten sich nicht „Revolutionär:innen“, sondern „Umstürzler:innen“.

Das Wort Revolution hat kaum jemand in den Mund genommen, denn es erinnerte zu stark an die Islamische Revolution 1979 und die Entstehung des islamischen Regimes. Den Unterschied zwischen „Umsturz“ und „Revolution“ kann man so zusammenfassen, dass es den „Umstürzler:innen“ ausschließlich um einen Wechsel auf der Machtebene geht, während sich die „Revolutionär:innen“ um einen umfassenden Wandel in zahlreichen Hinsichten bemühen.

Das Versagen der „Opposition“

Zum Jahrestag des Ausbruchs der Revolution versuchten viele oppositionelle Persönlichkeiten und Gruppen, die seit Januar abgeflauten Proteste wieder zu entflammen. Sie riefen die Bevölkerung auf, am 16. September, dem Todestag von Jina Mahsa Amini, auf die Straße zu gehen. Ein alles nach allem gescheiterter Aufruf, da es an dem Tag nur zu kleinen Auseinandersetzungen in einigen Großstädten gekommen ist, auch wegen der enormen Sicherheitsmaßnahmen und Massenverhaftungen im Vorfeld.

Das war auch ein Schlag ins Gesicht der Flügel der Opposition, die glaubten, dass sie durch eine starke Figur als „Führer“ des unzufriedenen Teils der Bevölkerung die Proteste in Iran nicht nur wiederbeleben, sondern auch orchestrieren kann.

Ein Theater ohne Regisseur     

Gleichzeitig sind aber viele, die sich innerhalb des letzten Jahres an den Protesten beteiligt und dafür Opfer gebracht haben, der Überzeugung, dass dieser Kampf längst nicht verloren ist und auf den Straßen, im Alltag und in den Köpfen vieler Menschen weitergeht. Das sehen die meisten Beobachter:innen der Lage in Iran ähnlich und warten auf einen Moment, einen unerwarteten Vorfall, der die angehäufte Wut entfachen wird. Dieser Moment kann jedoch nicht „von Außen“ – nicht nur im geografischen Sinne  – bestimmt und vorher definiert werden.

In anderen Worten: Der laufende Kampf in Iran ist ein kollektives Improvisationstheater, das keinem vorgeschriebenen Szenario folgt, keine Regisseur:innen - im Sinne von Anführer:innen - und keine Autor:innen - im Sinne von großen Denker:innen oder Intellektuellen - hat. Ein tiefer Blick auf die Entwicklungen des letzten Jahres zeigt, dass es in der Revolution in Iran keine hierarchischen Beziehungen zwischen denen, die festlegen und denen, die ausführen, gibt. Es gibt auch keine vorgeschriebene Zeitleiste. Wer von „Niederlage“ der Revolution in Iran spricht, mag vergessen haben, dass Revolutionen von Spontanität leben und unberechenbar sind – dass sie vielleicht eine Weile verstummen, aber immer wieder auftauchen, möglicherweise genau in dem Moment, in dem wir sie am wenigsten erwarten.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich