In einer erzwungenen Zeitleiste finden sich zahlreiche Iraner:innen wieder: In dem Moment, der Momente von einem Jahr zuvor mit sich trägt und voranbringt. Jetzt ist ein Jahr seit dem Zeitpunkt der Festnahme von Jina Mahsa Amini vergangen, seit ihrem Widerstand gegen die sogenannte Sittenpolizei, seit ihrer Verlegung ins Krankenhaus, seit den Wellen von Lügen und Leugnungen – von „Sie war vorerkrankt“ bis „Im Polizeiwagen hat man nur gescherzt und gelacht“, dann „Wir ermitteln und werden die Schuldigen bestrafen“. Von der tragischen Wahrheit des Hirntodes infolge von Schlägen gegen den Schädel bis zu der überraschenden Versammlung vor dem Kasra-Krankenhaus, den Versammlungen auf der, ausgerechnet, Hijab-Straße in Teheran und der prachtvollen Bestattung von Jina auf dem Aichi-Friedhof in Saghez, ihrer Heimatstadt, und den anderen Momenten, die nach und nach heranrücken. Sie vergehen und vergehen doch nicht. Diese Momente, obwohl jeder von ihnen eine klare und identifizierbare Zeitachse hat, sind vielleicht nicht so leicht mit „vergangen“ zu kennzeichnen.
Das Ein-Jahr-alt-werden dieser Momente hat den Wunsch nach einer Bestandsaufnahme und Reflexion über das, was geschehen ist, erweckt. In Talkshows und Zeitungsartikeln diskutieren die Analytiker:innen und Politiker:innen darüber, ob die Bewegung endgültig niedergeschlagen worden ist und was sie erreicht hat.
Denjenigen, die die Bewegung für beendet erklären, geht es darum, woran die Niederlage lag: der mangelnden Führung, der Planlosigkeit der Opposition, der extrem harten Unterdrückung, der fehlenden Unterstützung der internationalen Gesellschaft. Die anderen suchen nach kleinen Erfolgen, die es durchaus gegeben hat: dass das Nichttragen des Kopftuchs normalisiert worden ist, dass die Regime-Propaganda nicht mehr effektiv ist, dass das Regime geschwächt worden ist, dass Frauen endlich die Hauptakteurinnen der Politik von unten sind.
Freiheit des Träumens
All diese Analysen, Einschätzungen und Zusammenfassungen beiseite, hat die Revolution in Iran eins erreicht: die Freiheit des Träumens. Die Bewegung hat die Phantasiekraft der Bevölkerung, oder zumindest die des Teils der Bevölkerung, der die islamistische Herrschaft ablehnt, befreit.
Das zeigt sich vor allem an der Verwendung, oder am vorangegangenen Rückzug des Begriffs „Revolution“ in öffentlichen Debatten in Iran. Seit der Etablierung der Islamischen Republik am Anfang der 1980er Jahre hat sich keine Protestwelle so auszeichnen können, dass sie den Begriff Revolution verdienen würde. Unmittelbar nach dem Sturz der Monarchie 1979 fanden zum Beispiel massive Proteste in kurdischen Gebieten des Landes statt, die eher „Unabhängigkeit“- oder „Autonomie“-Proteste genannt wurden. Die linken Gruppen, die in den 80er Jahren protestierten, sehnten sich nach keiner erneuten Revolution, sondern wollten sich die bereits gelungene Revolution zurückerobern. Weder die Student:innenproteste vom Ju
Auch die Proteste von November 2019, ein Wendepunkt der iranischen Geschichte, werden immer nur „Proteste“ genannt.
Die „Frau-Leben-Freiheit“-Bewegung hingegen wurde sehr früh, bereits seit dem letzten Oktober, mit dem Begriff „Revolution“ betitelt. Tatsächlich hat dieser Aufstand den Begriff Revolution wiederbelebt. Auch nachdem die
Das Wort Revolution hat kaum jemand in den Mund genommen, denn es erinnerte zu stark an die Islamische Revolution 1979 und die Entstehung des islamischen Regimes. Den Unterschied zwischen „Umsturz“ und „Revolution“ kann man so zusammenfassen, dass es den „Umstürzler:innen“ ausschließlich um einen Wechsel auf der Machtebene geht, während sich die „Revolutionär:innen“ um einen umfassenden Wandel in zahlreichen Hinsichten bemühen.
Das Versagen der „Opposition“
Zum Jahrestag des Ausbruchs der Revolution versuchten viele oppositionelle
Das war auch ein Schlag ins Gesicht der Flügel der Opposition, die glaubten, dass
Ein Theater ohne Regisseur
Gleichzeitig sind aber viele, die sich innerhalb des letzten Jahres an den Protesten beteiligt und dafür Opfer gebracht haben, der Überzeugung, dass dieser Kampf längst nicht verloren ist und auf den Straßen, im Alltag und in den Köpfen vieler Menschen weitergeht. Das sehen die meisten Beobachter:innen der Lage in Iran ähnlich und warten auf einen Moment, einen unerwarteten Vorfall, der die angehäufte Wut entfachen wird. Dieser Moment kann jedoch nicht „von Außen“ – nicht nur im geografischen Sinne
In anderen Worten: Der laufende Kampf in Iran ist ein kollektives Improvisationstheater, das keinem vorgeschriebenen Szenario folgt, keine Regisseur:innen - im Sinne von Anführer:innen - und keine Autor:innen - im Sinne von großen Denker:innen oder Intellektuellen - hat. Ein tiefer Blick auf die Entwicklungen des letzten Jahres zeigt, dass es in der Revolution in Iran keine hierarchischen Beziehungen zwischen denen, die festlegen und denen, die ausführen, gibt. Es gibt auch keine
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.