Freiheit heißt Freiheit für alle. Um sich dem bewusst zu werden, muss sich die persische Mehrheit in Iran dem eigenen Rassismus und dem eigenen Unterdrückungssystem stellen.
In meiner kindlichen Naivität glaubte ich einst, dass alle Konflikte der Welt auf einen Kommunikationsfehler zurückzuführen sind. Dass Menschen durch sprachliches Ausführen und gut formulierte Argumente ihre Ängste und Bedürfnisse vermitteln können, um gegenseitiges Verständnis und Mitgefühl füreinander zu wecken. Mein Glaube an die Macht der Sprache bestätigte sich durch eigene Erfahrungen. Die deutsche Sprache ermöglichte mir in Deutschland, in einer damals fremden Gesellschaft, Halt und Menschen zu finden, die meine Geschichten hören wollten und dadurch Stereotype zu durchbrechen. Mein „akzentfreies“ Deutsch verschaffte mir Zugang zu Räumen, die anderen Migrant:innen oft verschlossen blieben. Räume, in denen Menschen offen ihre rassistischen Gedanken mit mir teilten, gefolgt von einem „Du nicht! Du bist ja gut integriert!“. Räume in denen Absagen auf der Grundlage meines Namens nach einem persönlichen Gespräch zu einer Zusage wurden.
Ich beschäftigte mich intensiv mit europäischer Philosophie, lernte, wie man ein sokratisches Gespräch führt, studierte die Werke von Kant, Nietzsche und Sartre, nahm an Debattierklubs teil und lernte, wie ich am besten meine Gedanken an Deutsche vermittle, ohne dass sie sich sofort abwenden. Durch Sprache bekam ich Zugang zu einem Gymnasium, später zur Hochschule, und ja auch zu dieser Kolumne, in der ich meine Gedanken mit euch teile. Um den Fehler in meiner These sehen zu können, hätte allerdings ein bloßer Blick zurück nach Iran gereicht, wo Minderheiten, besonders Afghan:innen, die meine Sprache sprechen, dennoch systematisch entmenschlicht werden.
In meiner Schulzeit wurde ich von der Schulleitung gebeten, in der neuerrichteten „Willkommensklasse“ als Übersetzer und erste Ansprechperson mitzuhelfen. Eine Klasse, die überwiegend aus jungen Afghan:innen bestand. Menschen, die Afghanistan nie gesehen hatten, und in iranischen Großstädten wie Isfahan, Teheran oder Maschhad aufwuchsen. Sie sprachen Persisch nie in einem der Dialekte Afghanistans, oder wechselten in meiner Gegenwart sofort zu einem mir bekannteren Teheraner Dialekt, den viele in Iran herabschauend als das „richtige“ Persisch bezeichnen. Sie flohen nicht aus Afghanistan, sondern ihrem ersten Zufluchtsort Iran. Über 5000 Kilometer entfernt von Iran, in einem fremden Land, trafen sie wieder auf einen Iraner, der für sie sprechen sollte. Sie sprachen mit mir so wie ich gelernt hatte, mit Deutschen zu sprechen.
Teile und herrsche
Seit Monaten werden Millionen Afghan:innen aus Iran ausgewiesen. Im September begann die Konstruktion einer östlichen Mauer an der Grenze zu Afghanistan und Pakistan. Am 13. Oktober 2024 sollen laut Berichten etwa 300 Afghan:innen an der Grenze zu Iran getötet worden sein. Getötet von Grenzwächtern, die mit ihnen eine Sprache teilen, zum gleichen Gott beten, die gleichen Dichter:innen lesen und ihnen nicht ähnlicher sein könnten. Für die meisten Iraner:innen war das ein ganz normaler Tag wie jeder andere. Einige jubelten der Regierung sogar dabei zu. Diese erschreckende Gleichgültigkeit in breiten Teilen der iranischen Gesellschaft geschah nicht plötzlich, sondern ist das Ergebnis jahrzehntelanger Entmenschlichung afghanischer Menschen und der seit einem Jahrhundert durch Mythen gerechtfertigten Dominanz der persischen Mehrheit über Minderheiten.
Mit der Wahl von Pezeshkian kam jemand an die Macht, der das Land nach den landesweiten Protesten wieder hinter der Regierung vereinen sollte. Die Wahl erzeugte eine Kluft zwischen denjenigen, die widerwillig wählen gingen, um für das „geringere Übel“ zu stimmen, und Teilen der Diaspora, vor allem Monarchist:innen, die vor den iranischen Botschaften Menschen belästigten, in Einzelfällen Menschen das Kopftuch vom Kopf rissen und so die Islamophobie und ihre eigenen rechtsextremen Tendenzen verdeutlichten. Bilder, die in Iran zirkulierten, um die gläubigeren Iraner:innen vor der vermeintlichen Alternative zur Islamischen Republik abzuschrecken. Mit dem Versprechen einer östlichen Mauer sollten wiederum genau diese rechtsextremen Nationalist:innen innerhalb und außerhalb des Landes abgeholt werden. Nationalismus statt kollektiver Freiheit. Einigkeit auf Kosten jener, die sich am wenigsten verteidigen können.
In Iran leben schätzungsweise drei bis fünf Millionen Afghan:innen. Viele suchten in den 80er-Jahren in Iran Zuflucht, in einer Zeit, in der sich das Land frisch nach der Islamischen Revolution und zu beschäftigt mit dem eigenen Krieg mit Irak keine repressive Migrationspolitik und teure Grenzkontrollen leisten konnte. Viele flüchteten auch nach der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021. Sich nur mit Zahlen zu beschäftigen ist allerdings wenig hilfreich. Zahlen, auf die sowieso kein Verlass ist, die oft Menschen miteinbeziehen, die schon seit zwei oder drei Generationen in Iran leben und keine andere Heimat kennen. Menschen, deren undokumentierter Status seit über 40 Jahren dazu genutzt wird, sie auszubeuten und zu erniedrigen. Von ihnen wird implizit erwartet, möglichst unsichtbar zu bleiben oder mit Konsequenzen zu rechnen. Ihnen wird gleichzeitig der Zugang zu den meisten Provinzen verweigert, weshalb sie sich nur in Großstädten ansiedeln dürfen, wo sie dann von der persischen Mehrheit als bedrohliche Masse wahrgenommen werden.
Gleiche Hetze, andere Sprache
Ich werde nie verstehen, wie leicht Menschen den Rechtspopulismus erkennen, wenn er sich auf Deutsch und Englisch präsentiert, aber sie ihn scheinbar fraglos akzeptieren, wenn er in der eigenen Sprache präsentiert wird. Eigentlich hatte ich vor, an dieser Stelle Nuancen des iranischen Migrationsdiskurses aufzuführen. Ich führte viele Gespräche, bei denen man mir Vorwarf nicht patriotisch genug zu sein und mich als „Bivatan“ (dt. heimatlos) beschimpfte, sobald ich Sympatie für Afghan:innen zeigte. Ich hörte stundenlange Podcasts, bei denen nicht-afghanische alte Männer intellektuelle Debatten über Leben und Tod afghanischer Kinder hielten, ohne je Afghan:innen selbst hören zu wollen. Der Diskurs ist zutiefst rassistisch. Er ist jedoch anders als der, den ich aus meiner Kindheit kenne. Damals waren es die warnenden Blicke unserer Eltern, die entschieden, mit welchen Kindern wir nicht spielen sollten, die erniedrigenden Schreie von Arbeitgebern, bei denen wir weghören sollten. Heute wird der Rassismus jedoch offen und am heiligsten Tag ausgetragen. Statt ihnen Dienste bloß zu verweigern, stehen Schilder an Eingängen, die das offenkundig mitteilen. Was ich fand, waren nicht die mir von damals bekannten Muster, sondern Muster, die ich seit Jahren von der Rhetorik der AfD in Deutschland und MAGA in den USA und anderen rechtspopulistischen Bewegungen weltweit kenne:„Illegale Migration soll gestoppt werden!“, sagen einige, die vor kurzem noch die Islamische Republik samt ihren Gesetzen abschaffen wollten. „Afghanische Arbeiter:innen kosten wenig, müssen nicht versichert werden und nehmen iranischen Arbeiter:innen die Jobs weg“, skandieren sie, aber eine Gleichberechtigung aller Arbeiter:innen, die eine solche Ausbeutung von Afghan:innen verhindern würde, sei unerhört. „Sie beuten unsere Ressourcen aus“ sagen Menschen in Iran, wo Bedürftige in den seltensten Fällen in irgendeiner Form staatlich unterstützt werden. Sie sprechen von „mangelnder Integration“ bei Menschen, die iranischen Staatsbürger:innen so ähnlich sind, dass in der Willkür der Abschiebungen auch Iraner:innen versehentlich nach Afghanistan abgeschoben werden. „Afghan:innen seien nicht gebildet“, sind jedoch diejenigen, die ihre Kinder zur Schule schicken wollen und aufgrund ihrer Herkunft den Zugang verweigert bekommen. Sie „würden das nur tun, um die Staatsbürgerschaft zu bekommen“, sagen privilegierte Menschen in einem Land, aus dem immer mehr Menschen auswandern möchten. Staatsangehörigkeit wird nur Kindern mit iranischem Vater und afghanischer Mutter zugesprochen, jedoch nicht Kindern mit afghanischem Vater und iranischer Mutter. Diese zutiefst misogyne Gesetzeslage wird von vermeintlichen Intellektuellen in der Debatte als ein „feministischer Akt“ und „zum Schutz iranischer Frauen“ geframet, um sie „vor Verschleppung und Zwangsheirat zu schützen“. Eine Gleichberechtigung zwischen Männer und Frauen, die eine Ausbeutung auf allen Seiten ausschließen würde, sei jedoch unrealistisch und naiv. Hauptsache eine Mauer wird gebaut.
Egal wie man es dreht und wendet, werden Afghan:innen zum Sündenbock systematischer Ungerechtigkeiten der iranischen Gesellschaft und werden als „potenzielle Akteur:innen der Taliban“ unter Generalverdacht gestellt. Jedes Mittel ist recht, um den Status Quo nicht hinterfragen zu müssen. In vielen Argumenten wird schnell auf die Europäische Migrationspolitik und die Geflüchteten hingewiesen, die jährlich aufgrund der europäischen Migrationspolitik im Mittelmeer ertrinken. Iran würde so handeln, wie es selbst die „progressivsten Staaten der Welt“ tun.
Die weiße Hand Mephistos ist nach Iran ausgestreckt
„Wie oft denkt ihr an das Römische Reich?“ So lautete ein Trend, der vor einiger Zeit im Netz viral ging, wobei Männer gefragt werden, wie oft sie an das Römische Reich denken. Die Antwort lautet häufig: „mehrmals am Tag“. Zu meiner Lebzeit hat sich dieses Bild mehrmals in der Popkultur verändert. Vor Jahren war es die griechische Antike mit Troja, Hercules und 300, dann das Römische Reich mit Gladiator und God of War, und im Moment oft Nordische Mythologie mit Thor, Vikings und der Reboot von God of War in Skandinavien. Die moderne weiße Identität sucht sich dauerhaft eine vergangene Gesellschaft, in die sie sich hineinversetzen kann. Whiteness war nie nur eine Frage der Hautfarbe. Weißsein ist ein System, das Menschen von ihrer Kultur weg löst, Menschen homogenisiert und ihnen die Verbundenheit zu ihrer nicht homogenen Vorfahren nimmt. Weißsein ist ein leeres Blatt dort, wo eigentlich die eigene Identität und die Verbindung zur Gemeinschaft stehen sollten, und Menschen versuchen stehts, diese Leere mit Geschichten und Mythen zu füllen, die nie richtig passen werden. Eine vermeintliche Zugehörigkeit zu einer vor Jahrtausenden verschollenen Gesellschaft, die sich viele durch DNA-Tests von 23andMe oder ähnlichem bestätigen lassen wollen.
Ich sehe Spuren von Whiteness in jedem Aspekt der Gesellschaft, die mich prägte. Nach der Integration der irischen und italienischen Identität in die weiße Gemeinschaft scheinen Iraner:innen diesem Prozess zu folgen. Ein Prozess des White-Washings, der in den 30ern mit der Pahlavi-Dynastie begann. Während in Afghanistan britische Truppen bekämpft wurden, versuchte die iranische Krone, ihnen so schnell wie möglich nachzuahmen. Reza Schah, der von vielen in Iran als „Vereiniger Irans“ gefeiert wird, tat dies durch die brutale Unterdrückung, ethnische Säuberung und Assimilierung ethnischer Minderheiten hin zu einer neuen persischen Identität. Das iranische Plateau, welches seit Jahrtausenden unter anderem von Persern, Türken, Griechen, Mongolen und Arabern beherrscht wurde, sollte in seiner modernen Form von einem mazani-georgischen König als rein persisch definiert werden. Dafür wurde „Persien“ auch von Imperial-Mächten mit offenen Armen begrüßt. Bis heute sorgt diese Geschichte dafür, dass Iraner:innen von „westlichen“ Mächten über Afghan:innen und Araber:innen gestellt und oft gegen sie ausgespielt werden.
In der vierten Klasse fängt typischerweise der Geschichtsunterricht in Iran an. In diesem werden Kinder mit einem wunderschönen Bild des antiken Persiens begrüßt, welches von Anatolien bis zum Norden Indiens reichte. Vermittelt wird nicht eine Verbundenheit mit allen Menschen des Kontinents. Stattdessen entsteht eine Geschichtserzählung, die besagt: „Das alles gehörte DIR und es wurde DIR über Jahrtausende weggenommen“. Iraner:innen brauchen nicht das Römische Reich, um die durch Pahlavi erzeugte Lücke zu füllen. Sie brauchen bloß auf die verbrannten Ruinen von Persepolis in Schiraz schauen, um sich als „wahre Arier:innen“ sehen zu können. Eine persische Identität, die der eigenen Geschichte so fern ist, dass sie sich von der bloßen Existenz von Kurd:innen, Balouch:innen, Araber:innen, Afghan:innen und iranischen Jüd:innen bedroht fühlt und sie deshalb nicht ertragen kann. Eine Logik, die bis heute anhält und für viele die Nutzung von heißer Munition und tödlicher Gewalt gegen Kurd:innen, Balouch:innen und Afghan:innen rechtfertigt.
Hinter dem Wunsch nach Dominanz und Überlegenheit stecken verdrängte Ängste, selbst unterworfen zu werden. Ein Verständnis dafür, wie unterdrückte Gruppen im eurozentrischen Diskurs verortet werden. Statt diese Hierarchie zu hinterfragen, macht man selbst bei der Unterdrückung mit. Dahinter steckt Angst. Die Angst, demselben Schicksal zu verfallen. Selbst von Unterdrückung betroffen zu sein, garantiert nicht, dass man sie auch immer erkennen kann, wenn sie von einem selbst ausgeht.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.