16.08.2024
Künstler:innen machen das Unsagbare sagbar
Kunst, insbesondere Musik, spielte schon immer eine wichtige Rolle in der iranischen Politik. Grafik: Zaide Kutay.
Kunst, insbesondere Musik, spielte schon immer eine wichtige Rolle in der iranischen Politik. Grafik: Zaide Kutay.

Von Gerde Bishe, einem Dorf im Herzen Irans, in dem Toomaj geboren wurde, bis nach Hollywood – egal ob sie Menschen zum Handeln bewegt oder sie gleichschaltet, Kunst ist immer politisch und sollte als solche anerkannt werden.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Am 15. August 2024 wurde die Anklage gegen den iranischen Dissidenten und Rapper Toomaj Salehi fallen gelassen. Er war am 24. April 2024 zum Tode verurteilt worden. Seine Anklage lautete: „Verbreitung von Korruption auf Erden“. Ursprünglich auf Bewährung freigelassen, veröffentlichte er ein Video, indem er Details über die Folter, die er in Gefangenschaft erlitten hat, schildert und wird erneut festgenommen.

Es gibt viele Analysen, die auf die Absurdität dieses Urteils hinweisen. „Für das Rappen zum Tode verurteilt“, heißt es oft in Schlagzeilen. Iran, ein Land, in dem Meinungsäußerung tödlich enden kann. So dargestellt erscheint es fast banal, willkürlich und kindisch, jemanden „allein“ wegen seiner Worte zu bestrafen. Ich sehe diese Darstellungen sehr kritisch und möchte sie hier nicht reproduzieren. Sie reduzieren die Bedeutung von Toomajs Texten und reden die Macht der Sprache, und vor allem die der Kunst und Künstler:innen in der Gesellschaft klein.

Vielleicht scheint die Meinungsfreiheit so selbstverständlich, dass wir die enorme Macht, die sie mit sich trägt, vergessen. Vielleicht haben wir uns in einer vollständig kommerzialisierten Musiklandschaft verloren, und können nicht mehr wirklich begreifen, wozu Musik fähig ist. Wie Songs wie John Lennons „Imagine“ und „WAR IS OVER! (if you want it)“, oder NENAs „99 Luftballons“ nicht nur ihren Zeitgeist einfangen, sondern diesen auch mitgeprägt haben. Wie Bands wie Rage „Against the Machine“ die Anti-Kriegsbewegung in den 90-er und frühen 2000er-Jahren mitdefinierten, oder wie NWAs „Fuk Da Police“ bis heute nachhallt, immer dann, wenn marginalisierte Gruppen erneut Opfer von Polizeigewalt werden. Auch heute zeigt sich die Macht von Musik am Beispiel von Charli XCX Album „BRAT“ und ihren Einfluss auf die Präsident:innenschaftswahlen in den USA.

Musik in der iranischen Politik

Kunst, insbesondere Musik, spielte schon immer eine wichtige Rolle in der iranischen Politik – vor allem ihre Unterdrückung. In den Jahren vor der Islamischen Revolution 1979 begrenzte sich der Protest gegen den Schah nicht nur auf die Straßen, noch hatte er viel mit Khomeini und seiner folgenden Islamischen Republik zutun die sich oft als einziger Erbe und Vertreter der Monarchie-Abolition präsentiert.  Viele der Unterdrückungsmechanismen, die wir heute im Iran sehen, gab es bereits vor der Revolution. So musste beispielsweise der beliebte Sänger der 70-er Jahre Dariush Eghbali, allgemein auch bekannt als Dariush, ganze 26 Monate in Haft, einschließlich 6 Monate in Isolationshaft verbringen, weil er sich wagte, die Monarchie in seinen Liedern zu kritisieren. In dem Song „Booye Gandom“ (dt. Der Duft von Weizen) setzt er das Verhältnis zwischen dem Schah und seinen Untertan:innen mit dem eines Feudalherren und seinen Leibeigenen gleich: „Der Duft von Weizen ist meins, alles, was ich habe, ist deins. Ein Stück Land ist meins, alles, was ich sähe, ist deins.“*

Nicht nur Musik, sondern auch das Medium ihrer Verbreitung spielte eine wichtige Rolle in der Revolution. Kassettenbänder von Khomeini, aufgenommen in Neauphle-le-Château, dem kleinen französischen Dorf, indem er bis zu seiner Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1979 lebte, wurden nach Iran geschmuggelt, zwischen den Menschen verteilt und überall im Land abgespielt. In diesen Aufnahmen spricht Khomeini von einem korrupten Schah, besessen von Macht und geblendet von der eigenen Hybris und ruft das Volk ausdrücklich auf, sich gegen den Schah zu erheben.

Nach der Islamischen Revolution und dem anfänglichen Musikverbot, das damit einherging, flohen unzählige Künstler:innen und Musiker:innen aus dem Land. Damit begann eine Flut von Heimwehballaden über Iran und auch viele Lieder, die Khomeini kritisierten und die Revolution als Katastrophe bezeichneten. Sänger Sattar schreibt in seinem Lied Gole Pooneh (dt. Polei-minze): „[Sieht Gott] nicht, wie jemand aus dem Nichts auftauchte, von Gott sprach und die Liebe ermordete?“* Selbst Künstler:innen, die zuvor nicht für ihre politischen Werke bekannt waren, haben mindestens ein Stück, das als Folge ihrer erzwungenen Auswanderung entstand. Künstler:innen, die Unterhaltung bieten wollten, wurden über Nacht zu politischen Akteur:innen, allein dadurch, dass sie versuchten, von ihrer Kunst zu leben.

Selbstzensur und Schweigen

Bloß weil Musik verboten ist, heißt es nicht, dass die Menschen aufhören, sie zu hören. Wie zuvor Khomeinis Kassetten, erreicht die Musik ihrer Lieblingskünstler:innen die Iraner:innen weiterhin, selbst nachdem diese aus dem Land vertrieben wurden. Durch das Verbot wurden das Produzieren, der Besitz und das Hören von Musik zu einem Akt des Widerstands. Auf der anderen Seiten leugnen viele Iraner:innen die Existenz solcher Medien um innerhalb der neu geformten Machtstrukturen ihren Platz zu finden. Obwohl die meisten die Musik und Kunst auch weiter nach der Revolution konsumieren.

Es mangelt nicht an tiefgründigen politischen Inhalten. Alle, die  Filme des Oscar-prämierten Regisseurs Asghar Farhadi gesehen haben, wie etwa „Nader und Simin – Eine Trennung“ und „The Salesman“, oder die zahlreichen politisch aufgeladenen satirischen TV-Serien von Mehran Modiri wie „Shabhaye Barareh“ (dt. Nächte von Barareh) und „Ghahveye Talkh“ (dt. Bitterer Kaffee), wissen, dass diese Werke voller Gesellschaftskritik sind. Was oft fehlt, sei es in der Musik oder im Film, ist, dass trotz der Präsenz und Auseinandersetzung mit politischen Themen die Verantwortlichen für das Leiden nicht benannt werden. Das System wird kritisiert, aber nie infrage gestellt. Selbst Shervin Hajipour, dessen Lied „Baraye“(dt. Für) zur Hymne der Protestbewegung wurde, ist davon betroffen. Sein Blick ist fest auf das Leid der Menschen gerichtet, aber nicht auf diejenigen, die dafür verantwortlich sind.

Was macht Toomaj besonders?

Toomaj ist wichtig, weil er nicht nur aus dem Rahmen fällt, sondern seine Texte auch jede vorstellbare Tabugrenze durchbrechen. Seine Musik ist nicht nur ein Kommentar, sondern oft ein direkter Aufruf zum Handeln, begleitet von der Beschämung derjenigen, die tatenlos zusehen. In seinem Lied „Soorakh Moosh“ (dt. Rattenloch) spricht er die Heuchelei innerhalb der Bevölkerung an: „Wenn du das Leid der Menschen gesehen und weggeschaut hast, wenn du die Unterdrückung von Unschuldigen sahst und einfach vorbeiliefst, dann bist auch du ein:e Kompliz:in, bist auch du kriminell.“* Sein Lied zum obligatorischen Hijab „Shallagh“ (dt. Die Peitsche) sie er zusammen mit der iranischen Rapperin Justina. Sie rappt ganze Verse allein und hat in etwa den gleichen Redeanteil wie Toomaj. Das geht nicht nur gegen die Norm in Iran, wo Frauen nicht die Hauptstimme in Songs sein sollen, sondern ist auch eine Zusammenarbeit eines Künstlers in Iran mit einer Künstlerin außerhalb des Landes. Zwei Welten die sonst nie aufeinandertreffen sollen. 

In seinem Lied „Anar“ (dt. Granatapfel) wirft Toomaj ein Licht auf das lange vernachlässigte Leiden der Arbeiter:innen. In Zeilen wie „Der Arbeiter ist ein Granatapfel. Drück‘ ihn aus, bewässer‘ ihn, fütter‘ ihn. Genug, damit er überlebt. Das System der Sklaverei [selbst] ist das Gefängnis“*, prangert er die brutale Ausbeutung der Arbeiter:innenklasse durch Kapitalbesitzer:innen an. Eines seiner gewagtesten Lieder ist vielleicht „Nadidi 2“ (dt. Hast du nicht gesehen) in dem er, ähnlich wie Dariush es vor Jahren in „Booye Gandom“ mit dem Schah tat, den Revolutionsführer Ali Khamenei direkt anspricht: „Vom Haus (der Sitz des Revolutionsführers Ali Khamenei in Teheran) aus ist der Klang der Armut nicht zu hören, du hast keine Vorstellung von Obdachlosigkeit in kalten Nächten, komm‘ und sieh den Schmerz in den Augen der Menschen, komm‘ sieh die Stadt für eine Nacht aus meinen Augen.“*

Sein Lied „Habbeye Angoor“ zeigt vielleicht am besten, was ihn besonders macht. Es bezieht sich auf die persische Version des Grimm-Märchens „Der Wolf und die sieben Geißlein“, in dem der böse Wolf die Geißlein dazu bringt, ihn ins Haus zu lassen, und sie alle verschlingt, außer das kleinste Geißlein Im Lied erzählt Toomaj von einem Geißlein, das von den Wölfen vollständig entmächtigt und traumatisiert wurde, sich in Drogen und Alkohol flüchtet, um den Schmerz zu betäuben, und sich durch Prostitution über Wasser hält. Doch am Ende entscheidet sich das kleine Geißlein dazu, seine Meinung zu äußern und gegen die Wölfe zu kämpfen: „Das kleine Geißlein hat seinen Kummer niedergeschrieben, es singt nicht, es schreit! Seine Feder ist die Klinge der Wut! Das kleine Geißlein sitzt nicht hinter dem Schreibtisch, sondern auf ihm, es setzt sich nicht hin, es hat keine Angst, es erzählt alles, was es gesehen hat!“*

Toomaj will, dass die Menschen aufhören wegzusehen. So viel Aktivismus in Iran der letzten 45 Jahren bestand aus einem ständigen Hin und Her zwischen dem, was sagbar und akzeptabel ist. Toomaj wagte mit seiner Musik einen enormen Schritt nach vorn. Er schweigt nicht und dient nun als Vorbild, dem andere folgen können. Und sie folgen tatsächlich. Nur wenige Wochen nach Toomajs Verurteilung wurden zwei weitere Rapper, Vafadar und Danial Moghaddam, verhaftet, nachdem sie ein Video zu ihrem neuen Song veröffentlicht hatten, der mit einer Herausforderung beginnt: „Wir sind ein Volk! Habt ihr vor, uns alle hinzurichten?“*

Was Toomaj für die Obrigkeit gefährlich macht, ist, dass er Aktivismus im wahrsten Sinne des Wortes betreibt. Seine Songs sind voller Weckrufe und Beschämung für diejenigen, die sich entscheiden zu schweigen. Er hat die Katze aus dem Sack gelassen, und dank ihm werden viele andere nicht mehr untätig zusehen; sie werden aktiv.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

*vom Autor übersetzt.

 

 

 

Mohammad ist ein Student aus Berlin. Er ist zwischen Iran und Deutschland aufgewachsen und schreibt vor allem über grenzübergreifende Diskurse und Entwicklungen, historische Zusammenhänge in Iran, sowie Rassismus und Migration.
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich