28.06.2024
Déjà Vu: Eine Perspektive zwischen zwei Wahlen
Die Wahlen in Iran versprechen erneut einen Wandel, an den die Bevölkerung längst den Glauben verloren hat. Grafik: Zaide Kutay
Die Wahlen in Iran versprechen erneut einen Wandel, an den die Bevölkerung längst den Glauben verloren hat. Grafik: Zaide Kutay

Nach einer EU-Wahl, die den Rechtsruck in Deutschland und Europa bestätigt, spielen sich bei der heutigen Wahl in Iran bekannte Szenen ab – von der Wahl des kleineren Übels und rassistisch motivierten Sündenböcken.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Nach dem plötzlichen Tod von Ebrahim Raisi, dem wohl unbeliebtesten Präsidenten in der iranischen Geschichte, stehen heute Neuwahlen an. Der Wahlkampf ist in vollem Gange. Erneut meldeten sich die üblichen Gesichter, die ich seit meiner Kindheit kenne, zur Wahl an. Videos vom ehemaligen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad kursierten im Netz, indem er von einigen seiner loyalen Anhänger:innen dazu aufgefordert wird, zu kandidieren. Auch der ehemalige Parlamentsführer Ali Larijani meldete seine Kandidatur an, genauso wie der jetzige Parlamentsführer Mohammad Bagher Ghalibaf. Dass die gleichen Personen seit Jahrzehnten von einem Posten auf den nächsten steigen, scheint normal. Am Tisch der Herrschenden sind nur wenige eingeladen; ein Tisch, an dem Larijani und Ahmadinejad seit einigen Jahren nicht mehr sitzen dürfen, denn der Wächterrat, welcher zur Hälfte von Vertretern Khameneis besteht, lehnte unter den vielen Anmeldungen auch die Kandidatur dieser beiden ab.

Wahlkampf in Iran war schon immer lebhaft und hitzig. Politik ist in aller Munde, denn niemand in Iran hat das Privileg, unpolitisch zu sein. Jeder spricht darüber, ob am Essenstisch, am Kiosk mit den Verkäufer:innen oder im Taxi. Es herrscht eine lebendige Debattenkultur, die stets von Misstrauen gegenüber jeglichen Machtpersonen begleitet ist. Von außen betrachtet scheint dieser Prozess oft vielleicht sogar demokratischer als was sich hier im Europäischen , oder im US-Amerikanischen Wahlkampf beobachten lässt. Die Menschen leben die Demokratie im Alltag, auch wenn die Machtstrukturen eine Entfaltung dieses demokratischen Willens nicht ermöglichen. Der Weg ist vorherbestimmt. Zur Auswahl steht nur, mit welchem Fahrzeug das Land diesen gehen soll.

Fundamentalisten und Reformer?

Seit über 20 Jahren wählen die Menschen in Iran durchgängig für den Wandel. Sie sehen die gleichen Kandidaten und hören die gleichen Versprechen. Die angekündigte Veränderung aber kommt nicht. Wenn sie dann auf die Straße gehen, werden sie vom Staat unterdrückt und ihr gewählter Präsident schaut entweder machtlos zu, oder unterstützt die Repression.

Vor über 20 Jahren war es Khatami, der mit Slogans von Freiheit und Demokratie an die Macht kam. Als anschließend Studierende 1999 protestierten, um genau diese Freiheit einzufordern, wurden sie gewaltsam niedergeschlagen. 

Ahmadinejad ist kein Reformer. Als er aber 2005 zum ersten Mal auf nationaler Ebene auftrat und zum Präsidenten gewählt wurde, sahen seine Unterstützer:innen in ihm einen Außenseiter. Er war häufig vor Ort, auch in ländlichen Regionen, die sich von Teheran ignoriert und ungesehen fühlten. Seine Anhänger:innen erhofften sich einen Präsidenten, der sich gegen die Machtelite stellen und für Veränderung sorgen würde. Als er versuchte, ebendies umzusetzen und sich während seiner zweiten Amtszeit auf mehrere öffentliche Streits mit Khamenei einlässt, verdeutlicht er nur die Grenzen seines Amtes. Auch zu seiner Zeit kam es nicht zur Veränderung, sondern zur Verhärtung der bestehenden Machtverhältnisse. Als er 2009 gegen den Reformer Mousavi und dann seine zweite Amtszeit antrat, hinterfragten ein Großteil der Wähler:innen das Wahlergebnis. Sie gingen auf die Straße und trafen auf Gewalt und Unterdrückung. Das Vermächtnis Ahmadinejads wird für immer die Unterdrückung dieser Grünen Bewegung, die starke Einschränkung der Pressefreiheit sowie eine Politik, die zur Ausweitung der Macht der Revolutionsgarde führte, bleiben.

Rohani sollte nach einer kontroversen zweiten Amtszeit Ahmadinejads zur Versöhnung führen. Aus der Grünen-Bewegung lernt er auch, seine Unterstützer:innen farblich zu markieren. Mousavis grün wurde in Rohanis Wahlkampf durch lila ersetzt, er versprach Veränderung durch eine neue Außenpolitik und Versöhnung mit dem Westen. Als die Vereinbarung über den Gemeinsamen umfassenden Aktionsplan (JCPOA) 2015 unterzeichnet wird, ist die Hoffnung auf Veränderung groß – als jedoch US-Präsident Trump aus dem Deal austritt und die Menschen im November 2019 gegen die drastisch steigende Inflation auf die Straße gehen, werden sie mit Internet-Sperren und enormer Gewalt begrüßt. Das Vermächtnis des „lächelnden Präsidenten“ Irans ist ein gescheiterter Atomdeal, mehr als 1.500 tote Demonstrant:innen und das abgeschossene Passagierflugzeug PS752.

Die Stimme der Nichtwählenden

Aufgrund dieser Erfahrungen hat sich die Mehrheit der Menschen dazu entschieden, die nächsten Wahlen zu boykottieren. Sie glauben nicht mehr daran, dass sich durch Wahlen etwas verändern kann. Das Nichtwählen scheint die einzige Stimme für Veränderung zu sein.

Auch diesmal gibt es einen Kandidaten, der die Interessen der Bürger:innen scheinbar berücksichtigt, der das sagt, was Menschen seit Jahren hören wollen, der die Probleme beim Namen nennt, als gäbe es keine Zensur im Land. Nun soll es Massoud Pezeshkian sein, der das Land „rettet“. In Interviews und TV-Duellen spricht er offen über Korruption, beklagt eine gescheiterte Außenpolitik, betont das Leid der Bürger:innen unter den Sanktionen, und spricht auch von einem „falschen“ Umgang mit Frauen. Er hofft, die Stimmen aus der Frau Leben Freiheit-Bewegung zu gewinnen. Er spricht an Universitäten und spielt sogar den Protest-Song „Baraye“, für den der Sänger Shervin Hajipour zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, auf seinen Veranstaltungen. Die Ironie dabei ist, dass er den Song einer revolutionären Bewegung nutzen darf, um im System für sich zu werben, während andere dafür hart bestraft werden. Die Frage ist, ob er in der Lage ist, Menschen für sich zu gewinnen, die die Hoffnung auf Veränderungen innerhalb des Systems schon längst aufgegeben haben und ihre Zukunft außerhalb dieses Systems sehen. Für viele ist er nur im Rennen, um Stimmung zu machen und die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Wahlbeteiligung die wie Khamenei oft betont, als Bestätigung der Islamischen Republik verstanden wird. Veränderung wird von Pezeshkian nicht mehr erwartet. Zumal er in vielen Kernfragen mit seiner Konkurrenz einig ist. Beispielsweise setzt auch er sich für eine Verstärkung der Grenze zu Afghanistan ein, während die Worte Für die afghanischen Kinder im Song auf seinen Events widerhallen.

Gemeinsam nach Rechts

Desorientierung bedeutet für mich nicht nur Iran und WANA in ihrer Vielschichtigkeit widerzugeben und zu entmystifizieren, sondern auch auf Zusammenhänge hinzuweisen, die durch das angelernte Othering der Region übersehen oder ignoriert werden. So werden meines Erachtens beispielsweise Faschisten aus der Region orientalisiert, indem sie als „Islamisten“ und Teile des „Mullah-Regimes“ bezeichnet werden. Dabei werden sie als getrennt vom globalen Rechtsruck, vielleicht sogar als weitaus gefährlicher dargestellt. Der Austausch rechter Ideen und zusammenhängender globaler Entwicklungen wird gar nicht erst wahrgenommen.

Die zunehmende Hetze gegen Afghan:innen sowohl in Iran als auch hier in Deutschland ist ein Beispiel: Ich war schockiert, als ich vor etwa einem Jahr mit einer iranischen Version der Verschwörung des „Großen Austauschs konfrontiert wurde. Diese besagt, dass die Islamische Republik immer mehr Afghan:innen  hineinließe um die durch den Boykott abgenommenen Wähler:innenzahlen zu ersetzen. Ähnlich wie in Verschwörungstheorien aus der rechten Szene, die eine „globale Elite“ (gemeint sind Jüd:innen) einer vermeintlichen Umvolkung des Westens durch Migration aus dem globalen Süden beschuldigen, wird in Iran Hetze und die Wut einiger, die sich nach Freiheit sehnen, von den verantwortlichen Machthabern auf bereits marginalisierte Gruppen umgeleitet. So wurden auch Afghan:innen für die großen Massen an Raisis Trauerveranstaltungen verantwortlich gemacht. Jetzt, wenige Wochen später, ist die Abschiebung von Geflüchteten aus Afghanistan eine der Hauptthemen im iranischen Wahlkampf.

Auch hier in Deutschland wird die Angst vor Afghan:innen nach dem Vorfall in Mannheim, bei dem ein Polizeibeamter an den Folgen eines Messerangriffes eines afghanischen Mannes gestorben ist, als Grund für weitere Hetze gegen und weitere Einschränkungen der Grundrechten von Migrant:innen ausgenutzt. Seit Monaten ist das gesellschaftliche Klima in Deutschland angespannt. Gewalttaten nehmen zu, aber statt sich dem größeren Problem der Inflation und der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich, sowie ihren eigenen nicht eingehaltene Wahlversprechen zu widmen, debattiert die Bundesregierung über Abschiebungen von straftätigen Geflüchteten. Dies betrifft nicht nur Migrant:innen, sondern auch die breite deutsche Gesellschaft.

Universalismus gegen Rechts

Keine Person weiß, ob sie auf der „richtigen“ Seite der Geschichte steht während sie geschrieben wird und der einzige Weg unser gemeinsames, demokratisches Miteinander zu schützen ist die bedingungslose Verteidigung der Grundrechte eines jeden Menschen.

Ähnlich wie in den USA nach 9/11, wo mit dem Patriot-Act im Namen der Sicherheit sämtliche Grundrechte eingeschränkt und die Macht der Exekutive ausgeweitet wurde, werden in Deutschland seit Monaten, im Namen der allgemeinen Sicherheit, sämtliche Grundrechte eingeschränkt und neue Normen geschaffen. Das Innenministerium verbietet eigenständig Parolen, ohne die Legislative zu involvieren, Wissenschaftler:innen werden von der eigenen Bildungsministerin angegriffen und politisches Exmatrikulieren soll wieder erlaubt sein.  In Berlin Neukölln wird Polizeipräsenz schon seit Monaten zum Alltag, und seit Mannheim dürfen sie ihre Dienstwaffe neuerdings immer bei sich tragen. Durch das neue Einbürgerungsgesetz wird das gesetzliche Gerüst für rechte Remigrationsfantasien geschaffen. Und das mit wenig Widerstand, weil die Mehrheit der Gesellschaft entweder nicht betroffen ist, oder der Begründung zustimmt.

Wochenlang wurde zur EU-Wahl „gegen AfD“, „gegen rechts“ und „für die Demokratie“ appelliert. Rechtes Gedankengut befindet sich allerdings längst schon nicht mehr nur bei der AfD, es ist auch in den Debatten etablierter Parteien angekommen.

Ich musste sowohl mit ansehen wie einige im Iran nach der Repression der Frau-Leben-Freiheit Bewegung den Sicherheitskräften dankten, und wie unter Meldungen zu Polizeieinsätzen gegen Pro-Palästina-Proteste in den Kommentaren der Polizei gedankt wurde. Ich musste auch mit ansehen, wie Studierende in Iran in ihrer eigenen Universität von Repression nicht sicher waren. Und ich musste Polizeigewalt an meiner eigenen Hochschule erleben.

Wenn es eine Lehre aus den Geschichte Irans, sowohl zur Zeiten der Monarchie als auch nach der Islamischen Revolution, geben sollte, dann, dass die Einschränkung und Unterdrückung der Grundrechte einer Gruppe langfristige Folgen auf die Gesamtgesellschaft haben werden. Eine Verteidigung der Demokratie bedeutet an erster Stelle die Verteidigung der Rechte marginalisierter Gruppen. Seien es Frauen, ethnische Minderheiten, oder Migrant:innen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

Mohammad ist ein Student aus Berlin. Er ist zwischen Iran und Deutschland aufgewachsen und schreibt vor allem über grenzübergreifende Diskurse und Entwicklungen, historische Zusammenhänge in Iran, sowie Rassismus und Migration.
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich