10.11.2023
Die Re-Islamisierung der Universitäten wird nicht gelingen
Nun versucht das Regime erneut durch „Säuberungsmaßnahmen“ die Universitäten von „Unsauberen“ zu befreien, um möglicherweise eine erneute Protestwelle zu verhindern. Grafik: Zaide Kutay
Nun versucht das Regime erneut durch „Säuberungsmaßnahmen“ die Universitäten von „Unsauberen“ zu befreien, um möglicherweise eine erneute Protestwelle zu verhindern. Grafik: Zaide Kutay

45 Jahre nach der Islamischen Revolution versucht das iranische Regime, die Universitäten wieder zu säubern. Unwahrscheinlich, dass es klappt, genauso wie die kulturelle Revolution 1980.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Am 4. September machten Schlagzeilen in iranischen Medien die Runde, dass der berühmte „Maddah“ Saeed Haddadian ab diesem Semester an der Teheraner Universität lehren würde. Berichten zufolge wurde er als Dozent für nichts Geringeres als persische Literatur an der renommiertesten und ältesten Universität des Irans eingestellt. Ein „Maddah“ ist ein Trauersänger, der religiöse Lieder auf Massenveranstaltungen darbietet. Said Haddadian tritt bei religiösen Anlässen, beispielsweise auch vor dem Obersten Führer der Islamischen Republik, Ali Khamenei, auf. Er ist Teil der treuesten und engsten politischen Kreise innerhalb des Regimes.

Die Verblüffung über diese Nachricht war umso größer, wenn man die Bedingungen berücksichtigt, unter denen sie bekannt wurde. In den letzten Monaten wurde die akademische Szene des Landes von einer anhaltenden Welle der Entlassungen von Dozent:innen erschüttert. Die genaue Zahl der entlassenen Professor:innen und Dozent:innen ist unklar, da kein Standardverfahren existiert. Viele Dozent:innen erfuhren von ihrer Entlassung nur telefonisch und erhielten keine schriftliche Kündigung. Gleichzeitig hat die AZAD Universität, die größte halbstaatliche Hochschule des Irans mit über 400 Zweigen im ganzen Land, die Verträge von über 30.000 Dozent:innen ohne Vorankündigung nicht verlängert, was de facto einer Entlassung gleichkommt.

Zum ideologischen Bildungssystem

Zusätzlich zu den Entlassungen von Universitätslehrkräften wurden seit Mai 2023 auch 15. bis 20.000 Schuldirektor:innen aus „politischen und ideologischen Gründen“ abgesetzt, wie ein Mitglied des Islamischen Parlaments am 30. Oktober bestätigte. Gleichzeitig hat das Bildungsministerium in den letzten drei Jahren sechs Tausend Kleriker an öffentlichen Schulen des Landes eingestellt. Nach einer Statistik aus dem vergangenen Jahr sind insgesamt 21.000 Kleriker an öffentlichen iranischen Schulen tätig.

In diesem Zeitraum, insbesondere seit Beginn der Protestwelle im vergangenen Jahr, wurden zahlreiche Schullehrer:innen, die dem islamischen Regime kritisch gegenüberstehen, entlassen oder zu vorzeitigen Pensionierungen gezwungen. Einige wurden mit „Reduzierung der Einstufung“ bestraft, was eine unfreiwillige Versetzung in unterentwickelte Regionen des Landes und eine Gehaltskürzung bedeutet.

Ein vertrauliches Schreiben, das im August vom Telegram-Kanal der Studierendenvereinigungen veröffentlicht wurde, legt nahe, dass die Entlassungswelle von Professor:innen fortgesetzt und sogar verstärkt werden soll. Darin hat der Innenminister den Präsidenten gebeten, einen „infrastrukturellen und revolutionären Plan für die strukturelle Umgestaltung der Universitäten und Hochschulzentren“ in Auftrag zu geben. Dieser Brief soll bereits am 10. Januar 2023 verfasst worden sein.

In dem vertraulichen Brief werden mehrere Professor:innen erwähnt, die entweder entlassen wurden oder deren Entlassung bevorsteht. Diese Welle soll Universitäten in verschiedenen Städten betreffen, von Teheran bis Mashhad, von Kunststudiengängen bis zu Rechts- und Politikwissenschaften. Außerdem wird in dem Schreiben das Vorhaben erwähnt, bis zum Ende dieser Regierung (Sommer 2025) im Rahmen der „Rekrutierung revolutionärer Professoren“ 10.000Lehrkräfte im Wissenschaftsministerium und 5.000Lehrkräfte im Gesundheitsministerium einzustellen, wobei letztere für die medizinischen Hochschulen zuständig sind. Im Sprachgebrauch der Islamischen Republik sind unter „revolutionären“ Personen Menschen gemeint, die ihre Loyalität dem Regime gegenüber bewiesen haben.

Von vorne an

Die Entlassung kritischer Universitätsprofessor:innen und Studierender hat eine lange Tradition im Gottesstaat. Bereits im Frühjahr 1980, nur ein Jahr nach der Machtergreifung der schiitischen Geistlichen, wurden alle Universitäten des Landes für über zwei Jahre geschlossen, um eine „kulturelle Revolution“ umzusetzen. Diese wird von den Anhänger:innen des Regimes auch als die dritte Revolution bezeichnet: In ihrer Logik war die erste Revolution der Sturz der Monarchie (Februar 1979) und die zweite die Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran (November 1979).

Diese Benennung deutet auf die Wichtigkeit dieser Maßnahmen im Auge der Befürworter:innen des Regimes in Teheran hin. Für Ayatollah Ruhollah Khomeini, den Führer der Islamischen Revolution 1979 und Gründer der Islamischen Republik, war die kulturelle Revolution ein persönliches Anliegen. Seine „Unterstützung“ des Vorhabens kam dabei selten zu kurz: Khomeini zögerte nicht, diejenigen Hochschulstudent:innen als „unethisch“ zu bezeichnen, die „von der Religion nicht viel halten.“ Im Rahmen dieser Revolution wurden Tausende Professor:innen und Dozent:innen entlassen, verfolgt und ins Gefängnis gesteckt, und Studierende wurden aus den Universitäten suspendiert, sodass sie nie wieder studieren durften.

Ironie des Schicksals

Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass viele dieser Dozent:innen und Studierenden einen erheblichen Beitrag zum Erfolg der Revolution und dem      Sturz des Schahs geleistet hatten, der weit über die Rolle der Islamisten hinausging. An der iranischen Revolution waren im Groben drei Gruppen beteiligt: Linke, Nationalisten und Islamisten. Die ersten beiden Gruppen hatten ihre Basis an den Universitäten, die dritte in traditionellen Geschäftsleuten und Moscheen. Khomeinis Plan zielte darauf ab, die Basis der bisherigen Verbündeten zu zerstören, um die gesamte Macht zu erobern.

Gescheiterte Islamisierung

Zur Anzahl der Studierenden und Dozent:innen, deren Leben sich über Nacht verändert hat, existieren keine genauen Informationen. Nach über zwei Jahren waren die islamischen Machthaber endlich zufrieden: alle Linken und Liberalen waren aus der Akademie entfernt. In ihrer Fantasie hatten sie die Akademie nun „islamisiert.“ Ein Wunschdenken, das allerdings nicht lange anhielt: Bereits Anfang der 1990er-Jahre waren gerade die Universitäten der Ort, an dem die ersten Proteste gegen das Regime begannen. Ende der 90er-Jahre gewann die Reformbewegung ihre Anhänger:innenschaft an den Universitäten. Im Jahr 1999 skandierten Studierende der Teheraner Universitäten auf den Straßen der Hauptstadt tagelang „Tod dem Diktator“. 2009 waren die Universitäten der Brennpunkt der sogenannten Grünen Bewegung. 2018 war die Fakultät der Sozialwissenschaften der Teheraner Universität der Ausgangspunkt der Proteste. Und 2022 leisteten die Universitäten im ganzen Land mehrere Monate lang Widerstand.

Nun versucht das Regime erneut durch „Säuberungsmaßnahmen“, wie es in seiner Sprache wortwörtlich heißt, die Universitäten von „Unsauberen“ zu befreien, um möglicherweise eine erneute Protestwelle zu verhindern. Wird der Plan diesmal aufgehen? Das ist unwahrscheinlich. Die Islamisten können zwar durch ihr Gewaltmonopol das, was ihnen nicht gefällt, beiseitelegen, sind jedoch nicht in der Lage, es zu ersetzen, wenn es um die Wissenschaft - im erweiterten Sinne - geht. Wissenschaft passt nicht zum Kern des religiösen Fundamentalismus. Es ist durchaus möglich, dass die Islamische Republik durch eine vierte Revolution die Universitäten für einige kurze Jahre zum Schweigen bringt. Langfristig wird es dem Gottesstaat jedoch erneut nicht gelingen, die Hochschulen seiner absoluten Herrschaft zu unterwerfen.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich