Nicht nur die Türkei ist gespaltener Meinung über das Verfassungsreferendum – auch die Kommentatoren im Nahen Osten sind sich nicht einig, was von der knappen Mehrheit für die Reform zu halten ist.
Türkei: „Ein Vertrauensvotum für Erdogan“
„Erdogan hat das Ziel, das er sich seit 10 Jahren in den Kopf gesetzt hat, erreicht, er hat das Präsidialsystem eingeführt“, kommentiert Murat Yetkin in der Hürriyet. Der säkulare Yetkin, der eher der oppositionellen CHP nahe steht, kritisiert vor allem das Verhalten des Hohen Wahlrates: Dass dieser auch Stimmzettel ohne Siegel als gültig wertete sei, „als würde man nach Beginn eines Fußballspiels bestimmen, dass ein Foul keine Strafe mehr nach sich zieht“. Überraschend seien vor allem die Ergebnisse in Ankara und Istanbul. In den beiden Großstädten stimmte jeweils eine knappe Mehrheit gegen die Reform, obwohl der Aufstieg der „Milli Görus“-Bewegung, aus der die Erdogan-Partei AKP hervorgegangen ist, in diesen beiden Städten begann. Das knappe Gesamtergebnis ändere zwar rechtlich nichts an seiner Wirkmacht, doch erschwere es Erdogans nächste Schritte. Yetkin erklärt: „Eigentlich braucht es nicht viele Worte, um die Situation zu verstehen. Es reichen die Gesichtsausdrücke Erdogans und der Anhänger seiner Partei, als sie vor die Kameras traten. Sie sahen nicht so aus, als hätten sie einen Triumph zu feiern. Dies zeigt, dass dieser Triumph ein sehr anstrengender ist.“
Mehmet Barlas dagegen, der sich selbst als „Erdogan-Fan“ bezeichnet, schreibt in Sabah: „Es wird das Gesündeste sein uns zu fragen, wo wir im politischen und gesellschaftlichen Leben vor der Referendumskampagne stehengeblieben waren und dort weiterzumachen. Der Übergang in ein Präsidialsystem ist gesichert. Das Resultat ist auch ein Vertrauensvotum für Präsident Erdogan. Aber nun ist es Zeit, die Kampagne hinter uns zu lassen." Es sei ganz natürlich, dass sich vor Volksabstimmungen politische Lager bilden - auch zu sehen in den USA, wo Trumps Gegner angekündigt hatten, das Land verlassen zu wollen, sollte er gewählt werden. „Jeder hat in der Verfassungsänderungs-Kampagne gesagt, was er dachte. Manche übertrieben dabei. Letztlich haben die Wahlurnen jedem eine Antwort gegeben.“ Nun gelte es, „die Türkei als Insel der Stabilität und des Vertrauens im Nahen und Mittleren Osten“ zu schützen. Auf der Tagesordnung steht, eine pluralistische und freiheitliche Demokratie voranzutreiben. Wir müssen die innen- und außenpolitischen Spannungen, die während der Kampagne herrschten, hinter uns lassen. Die größte Sicherheit in diesem Punkt wird uns das Wissen und die Unterstützung unseres Volkes geben.“
Syrien: Der Zynismus der Assad-Parteizeitung
„Erdogan legitimiert die Tyrannei“, titelt die Zeitung al-Baath. Mit einer Empörung, die nur noch zynisch wirkt, fällt das Parteiorgan des syrischen Diktators Bashar al-Assad über Erdogan her (Link, Text war am Mittwoch allerdings nicht mehr abrufbar). Mit seinem Sieg belebe Erdogan das osmanische Erbe und trage das des türkischen Staatsgründers Atatürk zu Grabe. Es habe Hinweise auf einen ungerechten Wahlkampf gegeben, das nein-Lager und Oppositionelle seien unterdrückt worden und hätten weniger mediale Aufmerksamkeit erhalten, es habe Festnahmen und Überwachung gegeben oder gar gewaltvolle Angriffe auf Oppositionelle - schreibt die Zeitung des Mannes, der seit Jahren sein Volk bombardieren, aushungern, vergasen, foltern und erschießen lässt.
In einem weiteren Text für al-Baath kommentiert Abdul Latif Omran, Erdogan bedrohe die regionale und internationale Stabilität, indem er die „schlimmste Art des politischen und gesellschaftlichen Pragmatismus“ ausübe. Seine „Akrobatik“ stelle eine Gefahr dar für die Türkei, ihre Nachbarländer und die ganze Welt. Obwohl klar sei, dass Erdogan mit terroristischen Gruppen in Verbindung stehe, sähen die europäischen Staaten in ihm noch immer einen „Garanten für den Erfolg der politischen Verhandlungen um ein Ende des Kriegs in Syrien“. Omran kritisiert dies scharf, für ihn ist klar: „Erdogan – und mit ihm die Türkei – ist eine Belastung geworden für die internationale Gemeinschaft. Er ist eine Belastung für die Araber und den Westen, für die Iraner und die Kurden und die Armenier, Muslime und Christen.“ Europa habe sich den Terrorismus, den es derzeit erfährt, selbst zuzuschreiben, „weil es nicht auf die Warnungen des syrischen Regimes gehört hat“ – insbesondere auf die Warnung Assads, dass Erdogan ideologisch mit dem IS verbunden sei, weil er auch mit den ägyptischen Muslimbrüdern sympathisiere. Bald werde es ähnlich sein wie nach dem Einmarsch der USA in den Irak im Jahr 2003, als die Hilfe Syriens verlangt wurde, um die Situation in den Griff zu bekommen, raunt der Artikel abschließend.
Libanon: Ein „befleckter“ Sieg
In libanesischen Medien spielt das Thema eine überraschend geringe Rolle. Immerhin lebten hier prozentual die meisten Ja-Sager der Welt – sagenhafte 94 Prozent der libanesischen Stimmen sagten „Evet“. In absoluten Zahlen ist das allerdings nicht mehr ganz so beeindruckend, nur etwas mehr als tausend Türken im Libanon haben überhaupt abgestimmt. Der liberale Orient le Jour beispielsweise kommentiert das Referendum gar nicht, veröffentlicht aber einen Korrespondenten-Bericht, in dem der Autor schreibt: „Der starke Mann der Türkei weiß, dass er nun ein Land hinter sich vereinen muss, zu dessen Spaltung er selbst in den letzten Wochen beigetragen hat. Schlimmer noch: Das 'Nein'-Lager hat in den drei größten Städten gewonnen, darunter auch in seiner Geburtsstadt Istanbul.“ Es sei ein „befleckter“ Sieg für Erdogan.
Die Cartoonistin Swaha kommentiert das Ergebnis auf ihre Art:
Und der ewige Karl Sharro fragt mit Anspielung auf Brexit und Trump: „Ist jetzt jedes Land der Welt an einer 51 zu 49 Prozent-Linie gespalten?“
Is every country in the world split along 51/49% lines on major issues now?
— Karl Sharro (@KarlreMarks) April 16, 2017
Und lässt seine Follower gleich mal über die Idee von ja-nein-Abstimmungen abstimmen – mit einer ja-nein-Abstimmung:
Do you subscribe to the idea of binary choices?
— Karl Sharro (@KarlreMarks) April 17, 2017
Israel: „Erdogans Autorität hat Grenzen“
Die Frage nach ja und nein ist auch in Israel ein Thema. „Ein Ja-und-Nein-Sieg für Erdogan“, titelt die regierungsnahe Tageszeitung Israel HaYaom. Erdogans Sieg, schreibt der Kommentator, statte ihn zwar mit der Machtfülle eines Sultans aus. Dass das Ergebnis so knapp ausfiel, verdeutliche aber auch die Grenzen seiner Autorität. Wolle Erdogan tatsächlich bis 2029 Präsident bleiben, werde er sich ein Stück weit neu erfinden müssen. In einer bedrohlichen Atmosphäre im Vorlauf zur Abstimmung habe Erdogan den Wählern suggeriert, beim Referendum stünde das „Ja“ für Stabilität und das „Nein“ für den Terror. „Und doch stimmte fast die Hälfte der Bevölkerung für nein“, heißt es im Kommentar. In Israels linksliberaler Tageszeitung Haaretz kommentiert Korrespondent Anshel Pfeffer aus Istanbul den knappen Sieg für Erdogan: „Heute ist Erdogan als Führungsfigur umstrittener als je zuvor. Er führt eine gespaltene Nation.“ Lange habe man sich in der Türkei darauf verlassen können, dass zumindest jeder Wahlgang frei und ohne Manipulationen von statten gehen würde. Die Vorwürfe der Opposition über Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Wahlzettel markierten deshalb einen wichtigen Einschnitt: Das Referendum habe das Vertrauen der Türken in die Demokratie mindestens zerrüttet, womöglich aber vollends zerbrochen, schreibt Pfeffer.
Jordanien: Immer diese Hasser
Auf der anderen Seite des Jordan analysiert Hilmi al-Asmar in der privaten Al-Dustur, wer wohl für Erdogan gestimmt hat – und wer gegen ihn. Der Artikel ist dabei sehr wohlwollend. Erdogan wird in Jordanien insgesamt sehr positiv gesehen, wie dieser Artikel nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr zeigt. Viele Jordanier hielten ihn für den „ultimate Muslim strong man.“ Nun schreibt al-Asmar, es gebe mehrere Kategorien von „Erdogan-Hassern“ (Gegner). Manche sähen in ihm das Erbe des osmanischen Sultanats, das die arabischen Länder besetzen will. „Die Hasser Erdogans aus dieser Gruppe fürchten sich vor der wachsenden Macht Sultan Erdogans und vor einer neuen Zeit osmanischer Herrschaft mit all ihren Krankheiten und Problemen.“ Doch dieses Argument sei nur vorgeschoben – in Wahrheit hätten Kritiker Angst, „dass das türkische Demokratie-Modell in ihre Länder überschwappt“. Andere hassten Erdogan, weil er unterschwellig eine Form des Islam vertrete. „Diese Gruppe umschließt ein breites Spektrum an Menschen und Nationen. Sie glauben, dass Erdogans 'Projekt' mit dem ihrigen im Widerspruch steht.“ Erdogans Unterstützer dagegen seien zum einen Nutznießer des Wohlstands und der Entwicklung des Landes unter Erdogan. Außerhalb der Türkei gelte Erdogan als „inspirierende Führerpersönlichkeit“ - nicht nur unter Islamisten.
Ägypten: „Erdogan auf den Spuren Mursis”
Sehr kritisch betrachtet Ägypten den Ausgang des Referendums – kein Wunder, galt die AKP doch einstmals als eine Art Vorbild für die in Ägypten nun verfolgten Muslimbrüder. Auch heute noch stehen sich die beiden Organisationen nahe. So schreibt dann auch Hashim al-Fagrani in der liberalen Youm7 von „Tyrannei“ und sagt, Erdogan begebe sich „auf den Pfad des isolierten Präsidenten Mohammed Mursi“. Die regierungsnahe al-Ahram, mit einer Auflage von mehr als einer Million Exemplaren täglich stellt sich klar auf die Seite der türkischen Opposition, die das Ergebnis nicht anerkennt. Sayid Abdalmagid erklärt, Erdogan habe es nicht geschafft, „eine Mehrheit für die geplanten Reformen zu sichern“. Auch die liberale al-Tahrir kritisiert die diktatorischen Züge des Erdogan-Systems, zitiert den Oppositionsführer und verweist auf den Charakter der türkischen Ein-Mann-Diktatur – möglicherweise eine versteckte Kritik am ägyptischen System.
Iran: „Ein zerbrechlicher Sieg“
Sowohl konservative als auch reformorientierte Medien in Iran sind der Meinung: Erdogan hat einen zerbrechlichen Sieg errungen. Das Ergebnis des Referendums könne bereits bestehende Konflikte in der Türkei vertiefen und Chaos stiften. Die Nachrichtenagentur Fars, die zur Revolutionsgarde gehört, schreibt: „Das Referendum kann den Spalt im türkischen Volk vertiefen“ und befürchtet, dass Erdogans Erfolg ihn dazu verleiten könne, Iran gegenüber noch unverschämter aufzutreten. „Vorher sprach er davon, die Zusammenarbeit und die Beziehungen zu vertiefen, handelte aber entgegen seiner Versprechungen.“ Die reformistische Zeitung Shargh befürchtet ebenfalls eine Monarchie und blutige Auseinandersetzungen in der Türkei. Auf Twitter verglichen Iraner das Referendum mit dem in ihrem Land im Jahr 1979 über die Einführung der Islamischen Republik. Die meisten Nutzer klagten bemerkenswerterweise, dass die Türken offenbar nicht aus Irans Erfahrung gelernt hatten. Ein Großteil der Nutzer war besorgt – über eine möglicherweise islamische Regierungsform, über die Entstehung einer Diktatur in der Türkei, die für die ganze Region zum Nachteil würde, besonders was soziale Bewegungen und Menschenrechte betrifft. Viele fragten sich, ob wohl zumindest eine demokratische Regierung in der Region möglich sei. Sie hatten die Türkei bislang als letzte Bastion des Säkularismus in der Region betrachtet – ein Bollwerk, das für sie mit dem Referendum verloren scheint.
Katar: „Bitten Gott, die Türkei zu beschützen“
Das mit dem verloren gegangenen Säkularismus sahen andere offenbar nicht so – oder fanden es jedenfalls weniger dramatisch. So kommentierte Yusuf al-Qaradawi, ägyptischer Theologe und Vorsitzender der Internationalen Union muslimischer Wissenschaftler: „Wir gratulieren den Führern, der Regierung und dem Volk der Türkei, und wir schätzen die positive und große Beteiligung. Wir bitten Gott, die Türkei zu beschützen und ihr zu helfen, das Richtige zu tun.“
نهنئ تركيا قيادة وحكومة وشعبا، ونثمن المشاركة الإيجابية الواسعة، وندعو الله تعالى أن يحفظ تركيا وأن يوفقها لما فيه الخير. pic.twitter.com/knWLOOXT5w
— يوسف القرضاوي (@alqaradawy) 17. April 2017
Sheikh Tamim bin Hammad al Thani, Prinz von Katar, gehörte laut einem Bericht der katarischen Nachrichtenagentur QNA zu den ersten Gratulanten bei Erdogan.
Saudi-Arabien: Türkei ist gespalten
Auch die saudische Regierung ließ nicht lange auf sich warten und erklärte, man hoffe „zu weiteren Entwicklungen im ganzen Land“ beitragen zu können. Erdogan soll sich demnach bedankt und erklärt haben, auch er hoffe, dass die „brüderlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern weiter gedeihen“. Die saudische Presse berichtete zwar ausführlich über das Referendum, kommentierte es aber kaum. Die Zeitung al-Madina etwa greift auch die Kritik aus Europa und der Türkei selbst auf, ordnet sie aber nicht ein. Es wirkt, als habe das Referendum für Saudi-Arabien oder die Region nur eine nachrangige Bedeutung. Für die Zeitung al-Riyadh analysierte Amru Muhammad wie viele andere auch die Polarisierung des türkischen Volks entlang von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen und kam zum Schluss, dass Religiöse, Konservative mit geringem Bildungsstand und aus ländlichen Regionen eher für das Präsidialsystem gestimmt hätten. „Dagegen lehnen sowohl die wirtschaftliche Hauptstadt Istanbul als auch die politische Hauptstadt Ankara die politischen Änderungen ab.“