21.01.2021
„Wissenschaft braucht gesellschaftliche Freiheit.“
Blick auf den South Campus, Boğaziçi-Universität. Quelle: Albert Rein https://www.instagram.com/albert.rein/
Blick auf den South Campus, Boğaziçi-Universität. Quelle: Albert Rein https://www.instagram.com/albert.rein/

Seitdem Präsident Erdoğan einen neuen Rektor an der Istanbuler Boğaziçi-Universität ernannte, protestieren Studierende und Angestellte für eine demokratische Wahl. Dis:orient sprach mit Studierenden und einer Professorin vor Ort.

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Unmittelbar nach der Ernennung des AKP-nahen Rektors Anfang Januar 2021 begannen Studierende und Lehrende der Universität mit der Organisation von Protesten. Der Campus war seit März 2020 nur spärlich besucht, alle Kurse wurden wegen der Corona-Pandemie online abgehalten. Mit den Protesten finden nun auf dem Gelände täglich Versammlungen, Diskussionsrunden und Demonstrationen statt. Die Studierenden veröffentlichten Aufrufe für künstlerische Protestbeiträge und machten im Wohnviertel um die Universität auf ihr Anliegen aufmerksam, indem sie abends von ihren Fenstern aus auf Töpfe und Pfannen schlugen. Viele der Studierenden, die Istanbul aufgrund der Pandemie verlassen hatten, organisierten in ihren Heimatorten Protestaktionen.

Eine der eindrucksvollsten Szenen entstand, als die Lehrenden der Universität sich am 8. Januar 2021 auf dem Platz vor dem Rektoratsgebäude aufstellten. Sie trugen ihre Roben und drehten dem Gebäude, wo der neue Rektor bald sein Amt ausüben wird, demonstrativ den Rücken zu. Am 18. Januar wiederholten sie diesen Protest, um die dritte Woche des Widerstands gegen den neuen Rektor einzuläuten, mittlerweile im Schnee des Istanbuler Winters.

„Die große Mehrheit der Studierenden nehmen an den Protesten teil.”

Boğaziçi Solidarity ist ein Studierendenkollektiv, das mehrere Social Media-Profile betreibt und seit 2013 Proteste der Studierendenschaft koordiniert. Sie stehen auch bei den aktuellen Protesten im Zentrum der Geschehnisse. Das Kollektiv gründete sich im Kontext der Gezi-Park-Proteste und wird seitdem immer dann aktiv, wenn Studierende von staatlicher Repression betroffen sind. So wurden seit 2013 immer wieder Studierende oder Lehrende der Universität verhaftet. Im März 2018 standen beispielsweise Studierende vor Gericht, die gegen die Militäroperation in Afrin demonstriert hatten. 14 von ihnen mussten für zwei Monate ins Gefängnis und mehr als 20 wurden zu verschiedenen Strafen verurteilt.

Dem Studierendenkollektiv zufolge „nimmt die große Mehrheit der Studierenden an den Protesten teil. Alle studentischen Vereine, auch die regierungsnahen, bringen ihre Skepsis gegenüber der Ernennung zum Ausdruck. Am 8. Januar hielten wir ein Referendum auf dem Campus ab, mit der Frage: Sollte der Rektor oder die Rektorin auf demokratische Weise ausgewählt werden? Es wurden 917 ‚Ja‘-Stimmen und eine ‚Nein‘-Stimme gezählt."

Laut Esra Mungan, Dozentin an der Psychologiefakultät, ist dieses geschlossene Auftreten der Studierenden und der Angestellten einmalig. Die Professorin, die 2016 auch unter den Unterzeichner:innen der Petition der Academics for Peace war, ist begeistert:

„Das Maß an Übereinstimmung zwischen Studierenden, den Fakultäten, den Alumni und dem offiziellen Zusammenschluss gegen diese illegitime Ernennung ist beeindruckend. Das erleben wir so zum ersten Mal. Erdoğan hat es geschafft, die gegesätzlichsten Gruppen zusammenzubringen, da auch unsere religiösen und konservativen Studierenden angesichts der Ernennung entsetzt sind.”

Neben der vereinten Kritik an der Ernennung des Rektors gibt es jedoch unterschiedliche Meinungen darüber, wie weit diese Kritik gehen sollte. Musab*, ein weiterer Studierender, erklärt: „Manche der Demontrant:innen möchten unpolitisch bleiben. Das bedeutet, dass gegen das Vorgehen der Ernennung protestiert wird und demokratische Wahlen gefordert werden. Andere, wie ich, halten diese Ernennung für einen Angriff der Regierungspartei auf die Universitäten als Institution. Wir wollen, dass unsere Proteste als politisch verstanden werden und die AKP direkt kritisieren.“

Was die Protestierenden jedoch zusammenbringt, ist die Person Melih Bulus selbst. Das AKP-Mitglied ist höchst umstritten seit bekannt wurde, dass sowohl seine Master-, als auch seine Doktorarbeit höchstwahrscheinlich Plagiate enhalten. Die Studierenden von Boğaziçi Solidarity machen deutlich, dass sie ihn deswegen für „nur auf dem Papier als Rektor qualifiziert” halten und er als Person “den internationalen Ruf der Boğaziçi-Universität beschädigt.“

Eine lange Tradition des Widerstands

Die Empörung über die Ernennung des neuen Rektors an der Boğaziçi-Universität lässt den Aspekt in den Hintergrund rücken, dass in derselben amtlichen Ankündigung Rektor:innen für weitere türkische Universitäten ernannt wurden. Auch war es nicht das erste Mal, dass Erdoğan sich persönlich in universitäre Belange einschaltete.

Esra Mungan erklärt den Fokus der Proteste auf die Boğaziçi-Universität mit deren langer Tradition des Widerstands und ihrer symbolischen Bedeutung für die Unabhängigkeit des akademischen Denkens in der Türkei: „Unsere 157 Jahre alte Universität wurde von einem Missionar gegründet, Cyrus Hamlin, der sich weigerte, nicht-protestantische Studierende zum Protestantismus zu bekehren. Daraufhin wurden ihm die finanziellen Mittel gestrichen.“

Doch so weit muss man in der Geschichte nicht zurückgehen, um über Widerstand an der Universität zu sprechen, wie Esra weiter ausführt: „Ein weiterer Fall des zivilen Ungehorsams war die Durchführung von Wahlen für das Rektor:innenamt 1992. Zu diesem Zeitpunkt war seit zehn Jahren ein von der Militärjunta ernannter Rektor im Amt. Durch die Wahl war der Rat für Hochschulbildung gezwungen, nachzugeben. Es wurde ein Wahlsystem eingeführt, in dem die Mitglieder der Universität zumindest drei Kandidat:innen demokratisch wählen können, aus denen der Präsident dann den neuen Rektor oder die neue Rektorin ernannte.“

Das Studierendenkollektiv Boğaziçi Solidarity verweist außerdem auf eine besondere Tradition an der Universität: „Nach den universitätsinternen Wahlen blieb nur der oder die Erstplatzierte auf der Liste, die an den Rat für Hochschulbildung weitergeleitet wurde. Die anderen beiden Kandidat:innen zogen ihre Kandidatur zurück. Auf diese Weise musste der Präsident die demokratische Wahl der Universität bestätigen.“

Nach dem Putschversuch 2016 wurde dieses System durch ein Dekret abgeschafft: Seitdem wählt der Präsident aus einer Liste von drei Kandidat:innen, die direkt vom Rat für Hochschulbildung und ohne Beteiligung der betroffenen Universitäten erstellt wird.

Auch die Boğaziçi-Universität bekam 2016 einen neuen Rektor: Das Universitätsmitglied Mehmed Özkan. Das Studierendenkollektiv hatte bereits damals gegen die Ernennung protestiert, doch war Özkan im Gegensatz zu Bulu vor seiner Ernennung bereits langjähriges Mitglied und Vizerektor der Universität. Viele gingen deshalb davon aus, dass er „die Identität der Universität“ erhalten würde. Dem geschuldet und sicher auch der allgemeinen Verwirrung und Angst nach dem Putschversuch, wurden die Proteste der Studierenden damals nur von wenigen Angestellten der Universität unterstützt.

Die Antwort des Regimes

Obwohl die Boğaziçi-Universität also nicht die einzig Betroffene ist und auch nicht zum ersten Mal ein Rektor der Universität ohne demokratische Legitimation ins Amt kam, haben die Proteste in den ersten Januarwochen eine neue Dimension erreicht. Ihre symbolische Strahlkraft wird mit Polizeigewalt, Überwachung und einer Hetzkampagne in staatlich kontrollierten Medien beantwortet.

Wie die Studierenden berichten, begannen die Auseinandersetzungen mit der Polizei am 4. Januar 2021, als Gäste und ehemalige Studierende nicht zu den Protestierenden auf den Campus gelassen wurden. Die offizielle Begründung waren Hygieneregeln im Kontext der Corona-Pandemie. „Die Polizei griff uns mit Tränengas und Wasserwerfern an und nahm einige Demonstrant:innen in Gewahrsam. Früh am nächsten Morgen wurden einige Studierende in ihren Wohnungen verhaftet, um sie am Demonstrieren zu hindern“, erklärt Musab. „Wir haben trotzdem weiter demonstriert, zuerst auf dem Campus und später auch in Kadıköy, einem der Stadtzentren von Istanbul.” Die Gruppe Boğaziçi Solidarity fügt hinzu, dass selbst Anti-Terror-Einheiten an der Universität zum Einsatz kommen und dass Zivilbeamt:innen auf dem Campus Audio- und Videoaufnahmen von den Studierenden machen.

Studierendenforum an der Boğaziçi Universität, Quelle Boğaziçi Solidarity

„Die Troll-Armee des Regimes in den Sozialen Medien ist berüchtigt.“

Neben der Repression auf dem Campus werden die Demonstrant:innen auch von den meist staatlich kontrollierten türkischen Medien ins Visier genommen. Darüber hinaus betonen sowohl Esra Mungan, als auch die Studierenden von Boğaziçi Solidarity die Aktivitäten des Regimes in den Sozialen Medien: „Die Troll-Armee des Regimes in den Sozialen Medien ist berüchtigt. Es hat nicht lange gedauert, bis sie alle Demonstrant:innen als ‚Terrorist:innen‘ gelabelt hatten – auch der Präsident hat dieses Wort verwendet. In den letzten Jahren müssen alle, die kein AKP-Mitglied sind, damit rechnen als ‚Terrrorist:innen‘ betitelt und auch so behandelt zu werden“, erklären die Studierenden.

Auf der anderen Seite demonstrieren sowohl Alumni der Universität, Studierende anderer türkischer und selbst internationaler Universitäten in Solidarität mit denjenigen, die von der Ernennung direkt betroffen sind. Die Studierenden von Boğaziçi Solidarity schließen daraus, dass große Teile der Bevölkerung trotz der medialen Verleumdung auf ihrer Seite stehen.

Esra Mungan stimmt dieser Einschätzung zu: „Mit jedem weiteren illegitimen Schritt des Regimes erfahren die Proteste, vor allem die der Jugend- und der Frauenbewegung, mehr Zustimmung in der Gesellschaft.“ Für sie sind die Kommunalwahlen 2019, bei denen die AKP in allen größeren Städten verlor, ein deutlicher Hinweis für diese Dynamik.

„Es wird ein langer Kampf werden.“

Auch in Hinblick auf die kommenden Tage und Wochen sind sich die Studierenden und Esra Mungan in einem Punkt einig: Die Auseinandersetzungen werden andauern. Die Regierung zielt darauf ab, nicht nur die politische Arena zu dominieren, sondern auch die Bereiche Kultur, Bildung und Kunst, erklärt das Kollektiv Boğaziçi Solidarity. „Sie wollen, dass diese Bereiche zur Regierungsideologie konform sind und haben das zum großen Teil auch schon erreicht. Es ist keine Übertreibung, wenn wir sagen, dass unsere Universität einer der wenigen verbleibenden Leuchttürme der akademischen Freiheit ist.“

In Anbetracht der kleiner werdenden gesellschaftlichen Räume für akademische und generelle Redefreiheit wollen die Studierenden nicht klein beigeben: „Die Demonstrationen werden weiterhin regelmäßig auf dem Campus stattfinden, bis der Rektor zurücktritt. Es ist unwahrscheinlich, dass das Regime auf Kompromisse eingehen wird. Auf der anderen Seite werden auch wir Studierenden nicht von unseren Forderungen abrücken. Es ist schwierig, vorauszusehen, was passieren wird.“

Musab hofft, dass die Ernennung für die AKP nach hinten losgeht und die Proteste sie dazu zwingen, „eine friedliche Lösung für das Problem zu finden, ohne ihr Gesicht zu verlieren.“ Die Ernennung des Rektors ist für die Betroffenen ein Angriff auf eine der letzten Bastionen der akademischen Freiheit in der Türkei, dementsprechend gehen die Forderungen der Demonstrant:innen auch über die Boğaziçi-Universität hinaus, wie Esra Mungan deutlich macht: „Es ist unser Ziel, das Dekret aus der Zeit des Ausnahmezustands 2016 rückgängig zu machen und die demokratischen Rektor:innenwahlen wieder einzuführen – und zwar nicht nur für unsere, sondern für alle türkischen Universitäten. Wissenschaft funktioniert nur in einem Klima der gesellschaftlichen Freiheit!“

* Name von der Redaktion geändert.

Für aktuelle Informationen zu den Protesten siehe https://twitter.com/boundayanisma und https://www.instagram.com/bogazicidirenisi/. Für englische Tweets siehe https://twitter.com/dokuz8news.

 

 

Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und seit Februar 2022 übernimmt sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Redigiert von Eva Garcke
Übersetzt von Clara Taxis