06.02.2018
Der Angriffskrieg gegen Afrin: türkischer Nationalismus
Auch die Stadt Cizre im Osten der Türkei wurde in großen Teilen von der türkischen Armee zerstört. Das Bild zeigt eine Frau vor den Trümmern ehemaliger Wohnhäuser, März 2016. Foto: "Cizre çatışmaları sırasında hasar gören bina ve bir Cizreli kadın, 2 Mart 2016" von Nedim Yılmaz/Flickr (https://flic.kr/p/LnpD53), Lizenz: cc-by sa 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)
Auch die Stadt Cizre im Osten der Türkei wurde in großen Teilen von der türkischen Armee zerstört. Das Bild zeigt eine Frau vor den Trümmern ehemaliger Wohnhäuser, März 2016. Foto: "Cizre çatışmaları sırasında hasar gören bina ve bir Cizreli kadın, 2 Mart 2016" von Nedim Yılmaz/Flickr (https://flic.kr/p/LnpD53), Lizenz: cc-by sa 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)

Seit dem 20. Januar führen die türkischen Streitkräfte zusammen mit dschihadistischen Söldnern einen offenen Krieg gegen Afrin. Aus Angst vor Repression, aber auch aufgrund einer nationalistischen Mobilisierung rührt sich in der Türkei bisher nur wenig Protest dagegen.

Die landesweiten Rekrutierungsbüros der türkischen Armee sind in der letzten Woche gut gefüllt. Da ist zum Beispiel Suşehri, eine Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern, zwischen Sivas und Erzincan im Nordosten des Landes gelegen. 150 Menschen sollen sich laut Medienberichten alleine dort für den Einsatz gegen die „Terroristen” in Afrin gemeldet haben, landesweit sollen es Tausende sein.

Der örtliche Vorsitzende der Partei der Grauen Wölfe, MHP, der per Autokorso die Kriegsfreiwilligen in der Stadt zusammentrommelte, wird mit folgenden Worten zitiert: „Die Terroristen suchen ein Loch, einen Platz, um vor den türkischen Soldaten abzuhauen. Denn diese Armee ist die Armee der Türken. Sie ist die Armee der Anhänger Mohammeds”.

Ein Blick nach Istanbul. Die drei großen Fußballvereine, Fenerbahce, Galatasaray und Beşiktaş, twittern Lobeshymnen an „ihre” Soldaten: „Wir sind an der Seite unserer türkischen Streitkräfte”, „unsere Herzen und Gebete sind mit ihnen”. In der Landeshauptstadt Ankara bieten Industrielle ihren Arbeitern Urlaub an, damit diese an den Kämpfen teilnehmen können. Und die Journalistin Halime Gürbüz schreibt in einem offenen Brief: „Ich möchte an der Operation Olivenzweig gegen die Terrororganisation teilnehmen. Ich spreche Fremdsprachen, habe IT-Kenntnisse und Erfahrung im Umgang mit Waffen. Außerdem schreibe ich Kommentare für eine nationale Zeitung”.

„Diese Granate ist für Afrin”

Diese Kriegseuphorie knüpft nahtlos an das nationale Narrativ der AKP an, welches auf der Idee einer nationalen Einheit basiert, die vor „internen Feinden” geschützt werden müsse. Seit der Ausnahmezustand im Zuge der Vereitelung des Putschversuches am 15. Juli 2016 im gesamten Land ausgerufen wurde, gilt dies umso mehr.

Klar ist, Nationalismus soll immer dann die Einheit bringen, wenn Erdoğan seine Macht verwurzeln möchte und dafür auch gerne mal einen Krieg führt. Nach dem Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Juni 2015 und der faktischen Abwahl der AKP als alleinige Regierungspartei, wurden in Ankara die Immunitäten von Abgeordneten aufgehoben, gewählte RepräsentantInnen kamen ins Gefängnis, BürgermeisterInnen kurdischer Bezirke wurden durch Statthalter der AKP ersetzt, (pro-)kurdische Zeitungen, Radiosender und Fernsehanstalten wurden per Dekret geschlossen und die Zivilbevölkerung – hauptsächlich in den Hochburgen der HDP – war einem Krieg der Sondereinsatzkommandos der Polizei (PÖH) und der Gendarmerie (JÖH) ausgesetzt. Alles unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen den Terror”. Ähnlich wie heute, rührte sich damals auch wenig gesamtgesellschaftlicher Protest. Im Gegenteil, der Krieg war willkommen, denn es ging um die „Verteidigung der nationalen Ehre”. Mit der selben nationalistischen Prosa marschienen jetzt türkische Streitkräfte in Afrin ein.

Reporter ohne Grenzen kritisierte in einer Erklärung, dass die Medien von Ministerpräsident Yıldırım in einer 15-Punkte-Anweisung zu „patriotischer” Berichterstattung angehalten werden. Über Anti-Kriegs-Demonstrationen solle zum Beispiel nicht berichtet werden, da diese nur die „Terroristen der PKK” unterstützen würden. Dementsprechend nationalistisch dominiert ist seitdem die Berichterstattung über den Angriffskrieg, der in türkischen Medien euphemistisch meist nur als „Einsatz”, „Reinigung” oder „Operation” bezeichnet wird.

Betrachtet man JournalistInnen wie Gürbüz, so sind Anordnungen wie die des Ministerpräsidenten nicht wirklich nötig. Viele türkische Medien berichten aus echter Überzeugung positiv über „ihre” Soldaten. So fällt es auf und aus dem Rahmen, wenn sich die TRT-Nachrichtenmoderatorin Tuğba Dalkılıç „verspricht” und von gezielten Angriffen der türkischen Armee auf Zivilisten in Afrin spricht. Sofort wurden Ermittlungen gegen sie eingeleitet, ihren Posten als Sprecherin ist sie los. Denn es gilt: Nichts Schlechtes über „unsere Helden”.

Es wird deutlich, dass sich ein großer Teil des Landes in einem nationalistischen Taumel befindet, vereint hinter „ihren” Soldaten, hinter „ihrem” Land. Laut einer Umfrage des AKP-nahen Meinungsforschungsinstituts ORC unterstützen 80,7 Prozent der Bevölkerung die „Afrin-Operation”.

Wer sich widersetzt, wird eingesperrt 

Von diesem Taumel erfasst ist – wenig überraschend – die größte Oppositionspartei des Landes, die Republikanische Volkspartei (CHP). So äußerte sich Parteichef Kilicdaroglu: „Dies ist eine nationale Frage. Es geht um die Grenzsicherheit der Türkei und deshalb unterstützen wir das mit all unseren Möglichkeiten”. Den türkischen Soldaten, die an dem Angriffskrieg beteiligt sind, wünschte er „Gottes Schutz”.

Einzig und allein die HDP widersetzte sich dieser Logik. Wichtige Politiker wie Osman Baydemir, früherer Bürgermeister von Diyarbakır, sprachen sich gegen den Krieg aus. Noch am gleichen Tag nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den HDP-Abgeordneten auf.

Türkische Sicherheitskräfte machten deutlich: Wer sich diesem „nationalen Krieg” widersetzt, wird eingesperrt. So wurden in der vergangenen Woche hunderte politische Aktivisten, aber auch einfache Bürger festgenommen. Alleine wegen kritischer Posts auf Facebook und Twitter wurden bis zum vergangenen Montag 311 Menschen in Polizeigewahrsam genommen, die Zahlen steigen täglich. In Pendik, einem Stadtteil von Istanbul, zerstörte ein nationalistischer Mob aus 50 bis 60 Personen in der Nacht zum 21. Januar das örtliche HDP-Büro, anschließend legten sie Feuer. Elf Personen wurden zwar daraufhin festgenommen, aber acht von ihnen wurden sofort wieder freigelassen, wegen angeblich mangelnder Beweise.

Am meisten Aufsehen erregte ein Friedensaufruf von 170 Intellektuellen und Künstlern. Darin schreiben sie, dass „die bewaffnete Intervention in der Region noch größere Probleme hervorrufen und unsere kurdischen Bürger von Herzen verletzen wird.” Unterzeichner waren unter anderem der bekannte Theaterschauspieler Genco Erkal, die Witwe des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink, Rakel Dink und der bekannte Musiker Zülfü Livaneli.

Die Antwort kam prompt. AKP-Medien berichteten von einer „Front des Verrats”, die sich nun gegen die Türkei formiere, Erdoğan bezeichnete die Unterzeichner als „Möchtegern-Künstler”, die eine spalterische Terrororganisation unterstützen würden und Regierungssprecher Bozdağ sprach von „Terror-Claqueuren”. Eine formelle Anklage wegen Terrorunterstützung durch die türkische Justiz, die unter Kontrolle der AKP steht, ist nur noch eine Frage der Zeit.

 

Rosa Hêlîn Burç ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bonn und Redakteurin des englischsprachigen Nachrichten- und Analyseportals The Region.

Kerem Schamberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung in München und linker Journalist.

Dieser Artikel erscheint hier mit freundlicher Genehmigung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf deren Seite er zuerst erschien.

Artikel von Rosa Hêlîn Burç, Kerem Schamberger