Vor einem Jahr hat sich Syrien vom Assad-Regime befreit. Anita Starosta von medico international berichtet im Interview über neue Möglichkeiten der Nothilfe, andauernde Probleme mit Sanktionen und ihre Hoffnung für die Zivilgesellschaft.
Anita, du bist bei medico für die Partnerschaften in Syrien, der Türkei und dem Irak zuständig. Vor einem Jahr wurde der syrische Diktator Baschar al-Assad gestürzt. Was hat sich seitdem in eurer Arbeit verändert?
Die größte Veränderung war, dass wir unsere Partner:innen in den ehemaligen Regimegebieten physisch treffen konnten. Zum Beispiel die Anwält:innen vom Syrian Center For Legal Studies and Research in Damaskus. Wir sind direkt im Januar hingefahren, um sie zu treffen. Viele Jahre lang haben wir sie unterstützt, konnten aber nur sehr eingeschränkt und über Dritte kommunizieren.
Die Anwält:innen kamen damals selbst zum ersten Mal in dieser Konstellation in ihrem neuen Büro zusammen und wir konnten uns ihre Akten zu Gefangenen aus dem berüchtigten Sednaja-Gefängnis ansehen, ohne Angst vor den Behörden zu haben. Das waren sehr bewegende Momente.
Wie sahen eure Partnerschaften vor dem Sturz aus?
Wir sind seit 2011 in Syrien aktiv, am Anfang mit Unterstützung für medizinische Nothilfe in den aufständischen Gebieten. Später kamen Untergrundschulen hinzu; wir haben uns immer bemüht, mit unbewaffneten, zivilgesellschaftlichen Initiativen Kontakt zu halten. Die Anwält:innen in Damaskus beispielsweise haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten Inhaftierte unterstützt und versucht, die Wahrung ihrer Rechte sicherzustellen.
In den Gebieten außerhalb des Einflusses von Assad konnten wir mehr machen. In Idlib unterstützen wir zum Beispiel ein Frauenhaus, im Nordosten Syriens wurde mit dem Aufbau der Selbstverwaltung unter anderem der Kurdische Rote Halbmond (KRH) zum Partner. Ich selbst war meist mehrmals jährlich vor Ort.
Dabei war uns immer wichtig, die Regionen nicht „gegeneinander“ zu denken – trotz ihrer unterschiedlichen politischen Erfahrungen –, sondern jene zivilgesellschaftlichen Netzwerke zu stärken, die bis heute die Idee eines demokratischen Syriens verteidigen.
Das Zusammendenken ist im letzten Jahr in gewisser Hinsicht einfacher geworden, zum Beispiel weil das Reisen zwischen den Regionen jetzt leichter ist. Gleichzeitig gibt es große Spannungen und immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der neuen Regierung und den Kräften der Selbstverwaltung. Wie nimmst du die Stimmung bei euren Partnerorganisationen wahr?
Erst einmal freuen wir uns für unsere Partner:innen, weil sie wieder Familie und Freund:innen in anderen Regionen besuchen können. Auch Reisen ins Ausland sind für viele zum ersten Mal seit vielen Jahren möglich. Das führt automatisch zu einer Horizonterweiterung, weil sie mit eigenen Augen sehen, wie das Leben in anderen Regionen Syriens aussieht.
In den selbstverwalteten Gebieten war mein Eindruck, dass die Leute den Sturz des Regimes erst einmal als etwas Gutes wahrgenommen haben, auch für sich selbst. Trotzdem gibt es eine große Angst, dass ihnen ihre Rechte genommen werden.
Menschen in der kurdisch-dominierten Selbstverwaltung beziehen die Gewalt gegen die Alawit:innen in Latakia und die Drus:innen in Suwaida sehr schnell auf die eigene Situation. Die meisten verlassen sich aber auch auf den Schutz durch die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF). Mit der Regierung al-Scharaa identifiziert sich kaum jemand, auch nicht unter Kritiker:innen der Selbstverwaltung.
Und welchen Blick haben eure Partner:innen in Zentralsyrien auf die Selbstverwaltung?
In Damaskus war ich überrascht, wie wenig Anteilnahme und Kenntnis davon herrschen, was in den Gebieten der Selbstverwaltung passiert. Einige betrachten das Gebiet – immerhin ein Drittel Syriens – mit einer abschätzigen Haltung. Andere sehen es einfach als Peripherie.
Unter links-liberalen Gruppen ist man sich zwar einig, dass Syrien ein multiethnisches und multireligiöses Land ist und als solches aufgebaut werden sollte. Dahinter steht aber klar die Ablehnung der Selbstverwaltung, da die Idee ein Zentralstaat ist.
Innerhalb unserer Kontakte nehme ich die Polarisierung trotzdem weit weniger toxisch wahr als teilweise in der Community hier in Deutschland. Ein großes Problem ist die weit verbreitete Hetze in den Sozialen Medien, sie führt zu Ressentiments und Gewalt.
Gibt es auch Initiativen, sich zwischen den Regionen zu vernetzen und neu kennen zu lernen?
Ja, vor allem die Partner:innen aus der Selbstverwaltung im Nordosten. Der KRH hat beispielsweise Hilfskonvois zur medizinischen Versorgung in die Gebiete der Massaker geschickt. Im März wurde ihnen das von der Übergangsregierung gestattet, die Hilfe kam in Latakia an. Im Juli hätten sie nach langen Verhandlungen ihre Hilfsgüter an den Syrischen Roten Halbmond abgeben sollen, der sie nach Suwaida bringen würde. Das haben sie aufgrund des fehlenden Vertrauens in die Regierung nicht gemacht.
Eine andere Partnerorganisation, die Rights Defense Initiative, hat jetzt im Herbst erfolgreich Workshops in verschiedenen Städten ausgerichtet, zum Beispiel in Raqqa, Homs, Aleppo und Idlib. Dort wurden gemeinsame syrische Perspektiven diskutiert. Trotzdem spürten wir: Es ist zwar kein Vergleich mit der Zeit unter Assad, aber die Leute sind vorsichtig mit Blick auf die aktuelle Regierung.
Ein großes Hindernis für die Unterstützung in Syrien waren seit 2011 die internationalen Sanktionen. Die meisten sind im Moment ausgesetzt oder sogar aufgehoben, macht das eure Arbeit leichter?
Bisher spüren wir keine Verbesserung. Es gibt noch keine Bankpartnerschaften, daher sind reguläre Überweisungen noch nicht möglich. Das heißt, in den Nordosten schicken wir weiterhin Gelder über Partner:innen im Irak. Dabei entstehen Transaktionskosten von bis zu 30 Prozent, das heißt, es geht viel Geld verloren.
In Zentralsyrien ist das ähnlich, dort arbeiten wir wie andere Hilfsorganisationen mit dem Hawala-System. Viele Partner haben aber auch Zweigstellen in Deutschland, beispielsweise das Syrian Center for Legal Studies and Research.
Warum fallen eure Gelder für humanitäre Hilfe überhaupt unter die Sanktionen?
Offiziell war humanitäre Hilfe für Syrien immer von den Sanktionen ausgenommen, das gilt jedoch nur für große internationale Organisationen wie die UN. Wir arbeiten mit lokalen Partnern und konnten nie von dieser Ausnahme profitieren.
Hier in Deutschland hat der Regimewechsel viele Menschen beschäftigt. Hat sich das im letzten Jahr auch auf eure Spendeneinnahmen zu Syrien ausgewirkt?
Bei uns hat sich das Spendenergebnis nicht erheblich verändert und das deckt sich mit dem, was wir von anderen Organisationen hören. Wir hatten auf mehr Spenden gehofft und auch viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht.
Wir gehen davon aus, dass das zum einen damit zu tun hat, dass viele Leute natürlich nach Gaza schauen und dafür spenden. Außerdem ist die Situation in Syrien komplex, für viele ist unklar, wie sie zur Übergangsregierung von al-Scharaa stehen.
Unsere Nothilfeaufrufe nach den Massakern in Latakia und in Suwaida haben Spenden eingebracht, aber auch deutlich weniger als ähnliche Aufrufe in der Vergangenheit – zum Beispiel nach türkischen Angriffen auf Rojava.
In Syrien geht es jetzt um den Wiederaufbau. Hat medico Pläne, neue Partnerschaften einzugehen?
Nach unserer Reise nach Damaskus hatten wir viele Ideen und Anfragen, denn es gibt einerseits viel Bedarf und andererseits große Expertise in Sachen selbstorganisierter Nothilfe. In den Kriegsjahren waren viele gezwungen, ohne staatliche Unterstützung zu helfen. Wir unterstützten zum Beispiel die Versorgung von Binnenvertriebenen aus den belagerten Gebieten und Untergrundschulen in Erbin.
Wir haben trotzdem entschieden, erst einmal die bestehenden Partnerschaften zu stabilisieren; es ist letztlich eine finanzielle Frage. Mir geben die neuen Netzwerke trotzdem Hoffnung: Es gibt erstaunlich viel zivilgesellschaftliche Organisation in Syrien. Die Leute haben immer noch Mut, gegen die Regierung aufzustehen – auch gegen die neue.




















