29.05.2024
Hoffen auf ein Lebenszeichen
„Hat er den gefährlichen Weg über das Zentrale Mittelmeer gewagt?", spielt unsere Autorin alle noch so beklemmenden Szenarien durch. Foto: Pauline Fischer
„Hat er den gefährlichen Weg über das Zentrale Mittelmeer gewagt?", spielt unsere Autorin alle noch so beklemmenden Szenarien durch. Foto: Pauline Fischer

Seit über einem Jahr spitzt sich die Lage für Schwarze Menschen in Tunesien zu. Massenverschleppungen in die Wüstenregionen des Landes haben bereits viele das Leben gekostet. In dieser bedrohlichen Lage sucht unsere Autorin nach einem Freund.

In Tunesien überschlagen sich derzeit die Ereignisse. Internationale Medienkanäle berichten in immer kürzeren Abständen von massiver staatlicher Repression und rassistischen Übergriffen durch die Bevölkerung. Schwarz sein ist in Tunesien ein größeres Risiko denn je für die eigene Sicherheit. Die Muster der hier verübten Menschenrechtsverletzungen sind nicht neu in der Maghreb-Region.

Seit rund zwanzig Jahren finden beispielsweise in Marokko rassistisch motivierte Festnahmen, Zwangsverschleppungen in Wüstenregionen und rechtswidrige Abschiebungen statt und werden unter Inkaufnahme von großem persönlichem Risiko durch Menschenrechtsaktivist:innen dokumentiert. Das Ausmaß und die Kadenz der Ereignisse der letzten Jahre zeugen jedoch von neuen Registern, die die Externalisierung der EU-Außengrenzen zieht.

Spurensuche in der Fragilität illegalisierter Existenzen

In diesem fatalen Kontext beschäftigt mich grade eine Frage ganz besonders: Wo ist mein Freund Yves*? Über Soziale Medien ist er nicht mehr erreichbar. Mein Messenger-Dienst sagt mir, dass er zuletzt am 5. Februar online war – mit beiden Konten, die er dort besitzt. Yves, getreu seiner Generation, ist doch sonst so häufig online und hatte es in der Vergangenheit trotz widriger Umstände als Schwarze Person zentralafrikanischer Herkunft in Nordafrika immer wieder geschafft, seine Konten zu reaktivieren und mit mir in Kontakt zu bleiben. Neben der Sorge entwickle ich Schuldgefühle, da mir erst im April auffiel, dass wir uns schon seit Wochen nicht mehr ausgetauscht hatten. Und jetzt: nichts. Kein Indiz seines Verbleibs, nur das Datum. Ich kontaktiere eine gemeinsame Freundin Sara*, die in Tunis lebt, aber auch sie hat seit Anfang des Jahres nichts mehr von Yves gehört. 

Zuletzt soll er sich in Sfax aufgehalten haben, einer Stadt südlich von Tunis, in der es im vergangenen Jahr zu rassistischen Ausschreitungen gegen Schwarze Migrant:innen gekommen ist, nachdem ein Tunesier bei einer Auseinandersetzung mit einer migrantischen Gruppe ums Leben gekommen war. Von hier aus legen viele Boote mit Ziel Italien ab. Yves hatte die letzten anderthalb Jahre in Tunesien verbracht, nachdem er einige Jahre in Marokko gelebt hatte. Auch durch ihn kenne ich die Ereignisse im Land und weiß, wie heikel die Situation vor Ort ist. War es doch Yves, der mich immer wieder kontaktierte und Zeugnis der Ereignisse ablegte, die sich vor seinen Augen abspielten. Irgendwie war Yves immer durchgekommen, konnte sich schützen und war dann immer wieder da, auf der anderen Seite des Bildschirms. 

Das Duchspielen beklemmender Szenarien 

Gemeinsam überlegen Sara und ich, welche Möglichkeiten wir haben, Yves‘ Verschwinden nachzugehen. Dabei spielen wir die Szenarien durch, die sich abgespielt haben könnten – und ich muss erstmal schlucken. Die Bandbreite dessen, was Yves zugestoßen sein könnte, ist erschreckend, die Abgründe erschütternd: Ob in einem libyschen Haftzentrum, am Point Zero zwischen Algerien und Niger oder in Seenot, mit Konsequenzen, die ich jetzt nicht zu Ende denken kann.

Sollte er die Überfahrt nach Italien angetreten sein, könnten er und seine Mitreisenden in Seenot geraten sein. Oder aber sie wurden durch die tunesische Marine abgefangen und in die tunesisch-libysche oder tunesisch-algerische Grenz- und Wüstenregion verschleppt. Vielleicht war er aber auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort und wurde bei einer banalen Alltagshandlung durch die Polizei festgenommen und verschleppt – weil er Schwarz ist. Sein Telefon wurde ihm womöglich entwendet – um die Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen durch die Betroffenen zu erschweren. 

Für die Verschleppten, die sich nach massiven Gewalterfahrungen in Grenzgebieten weit entfernt von überlebensnotwendigen Infrastrukturen wiederfinden, bedeutet dies eine noch größere Orientierungslosigkeit. Eine Situation, die in den vergangenen zwölf Monaten allein in Tunesien zu zahlreichen Todesfällen geführt hat. Die Dunkelziffer der in diesem Limbo verstorbenen Personen dürfte allerdings die offiziellen Zahlen weit übersteigen.

An den Grenzen stößt auch der Aktivismus an seine Grenzen

Ich erinnere mich, wie mir Yves schrieb, 2019, als zum wiederholten Male das Camp Ouled Ziane im gleichnamigen Stadtteil der marokkanischen Metropole Casablanca abbrannte. Er berichtete über die Ereignisse und den Verbleib der migrantischen Bevölkerung vor Ort. Wir hatten uns zuvor im beruflich-aktivistischen Kontext kennengelernt. Er engagierte sich in der Community und war ehrenamtlich in regelmäßigem Austausch mit internationalen Organisationen, insbesondere in Casablanca, um die Bedarfe migrantischer Personen zu erörtern und eine bessere Versorgung anzustreben. Dass ein Teil dieser humanitären Mittel über EU-Kommissions-Gelder, insbesondere den EU Emergency Trust Fund for Africa finanziert wurde, der 2015 auf dem La Valletta-Gipfel als Instrument der Migrationsbekämpfung beschlossen worden war, hielt ich damals für empörend und auch Yves war sich dessen bewusst. Für diejenigen, die in erster Linie in der Versorgung stehen, überschatten die Notlagen und akute Bedarfe vor Ort kritische Fragen zur Herkunft von Fördergeldern und ihren Zwecken.

Ich kenne einige Akteur:innen in der zivilen Seenotrettung und kontaktiere eine Person, von der ich denke, dass sie Sara und mir bei unserer Suche nach Yves behilflich sein kann, sollte Yves sich entschlossen haben, in ein Boot in Richtung EU von den tunesischen Küsten aus zu steigen. Ich schicke Daten zu Yves‘ Person sowie das Datum seines letzten Lebenszeichens – vielleicht hat ja an genau diesem Tag ein Boot die Reise in Richtung Norden angetreten? Von der Enttäuschung, keine Informationen zu erhalten, kommen wir in die Erleichterung – vielleicht hat Yves ja doch nicht den gefährlichen Weg über das Zentrale Mittelmeer gewagt? Wir deklinieren also weiter, was passiert sein könnte und wer uns bei unserer Suche weiterhelfen könnte.

Yves war auch am 24. Juni 2022 die erste Person, die mir Bildmaterial vom brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte auf spanischer und marokkanischer Seite während des Melilla Massakers zusendete. 37 Menschen kamen an diesem Tag an der Grenze ums Leben, 77 Personen gelten bis heute als vermisst. Auch hier entstanden bei mir Erschütterung und die Frage, wie ein Beitrag zur Verurteilung, zur Aufklärung und zur Linderung des Schmerzes der Verbliebenen geleistet werden kann. Einige der Überlebenden kamen im Nachgang in den größeren marokkanischen Städten an, um sich von dem Erlebten zu erholen. Ob Yves Kontakt zu ihnen hatte, weiß ich nicht.

Sollte Yves durch tunesische Sicherheitskräfte abgefangen und festgenommen worden sein, sind tunesische Menschenrechtsorganisationen die richtigen Ansprechpartner:innen. Wichtige Arbeit zur Dokumentation von Daten, Orten und Vorgehen der Sicherheitskräfte während Razzien und Festnahmen werden von diesen Akteuren gesammelt, die Rückschluss darauf geben können, was mit Einzelpersonen passiert ist. Aktuell stellt sich allerdings auch für solidarische Aktivist:innen aus Antirassismus und Antidiskriminierung ein  Sicherheitsproblem, auch sie werden durch den tunesischen Präsidenten Kais Saied massiv bedroht und eingeschüchtert. Zuletzt haben die Festnahmen unter anderem von Saadia Mosbah und Chrifa Riahi, sowie das Öffentlichwerden von Foltervorwürfen gegen zivilgesellschaftlich engagierte Anwält:innen das Ausmaß der Repressionen deutlich erweitert. Sara und ich wollen uns hier behutsam und dem Kontext entsprechend sensibel verhalten und verstehen, dass die Organisationen und die ihnen verbundenen Personen keine weiteren Risiken mehr auf sich nehmen können, etwa durch das Beschaffen von Informationen.

Unzählige leben mit der Ungewissheit als Gewissheit 

Yves ist kein Einzelfall, das weiß ich nur zu gut. Nicht zuletzt durch immer wiederkehrende Aufrufe über diverse Netzwerke nach verschollenen Personen, die ihre Bewegungsfreiheit trotz widrigster Umstände für sich beansprucht haben. Und ein Teil von mir ist beinahe überrascht, dass es nach Jahren von zahlreichen freundschaftlichen und aktivistischen Verbindungen erst jetzt dazu kommt, dass sich die Spur eines Freundes auf diese Weise verliert. Mit großem Respekt schaue ich auf zu den Familien der Vermissten und Verschwundenen, die sich grenzüberschreitend organisieren und austauschen, um Gewissheit zu erlangen; zu den Organisationen und Aktivist:innen, die auf politischer Ebene die globalen Ungleichheiten verurteilen, die sich in der politischen Gleichgültigkeit manifestieren, mit der den Verschwundenen und ihren Angehörigen auf staatlicher und institutioneller Ebene begegnet wird.

Ich weiß, dass es möglich ist, dass Yves am Leben ist, dass es plausible Erklärungen für seine Unerreichbarkeit gibt, die nicht auf der Annahme seines Todes gründen. Ich weiß aber auch, dass ich wohlmöglich lange oder sogar niemals Sicherheit darüber erlangen werde, was Yves widerfahren ist. Die Ungewissheit bleibt dabei die einzige Konstante.

 

* Zum Schutze der Personen wurden ihre Namen von unserer Redaktion geändert.

 

 

 

Pauline Fischer hat mehrere Jahre für eine marokkanische Menschenrechtsorganisation u.a. in der Beratung und Advocacyarbeit gegen die Externalisierungspolitik der EU mitgewirkt. Sie interessiert sich für interdisziplinäre Betrachtungen von Zivilgesellschaft und deren Einwirken auf politische Prozesse in Verbindung mit Migrationspolitiken.
Redigiert von Claire DT, Hanna Fecht