13.05.2024
Verschleppung von Migrant:innen und Festnahmen in Tunesien
Auf diesem Platz vor der IOM in Tunis hatten bis 3. Mai People on the move ein Protestcamp aufgeschlagen. Foto: Vanessa Barisch.
Auf diesem Platz vor der IOM in Tunis hatten bis 3. Mai People on the move ein Protestcamp aufgeschlagen. Foto: Vanessa Barisch.

Die Lage ist alarmierend: Über 400 Migrant:innen wurden in Tunesien an die Grenzen verschleppt, zwei Aktivistinnen befinden sich in Polizeigewahrsam. Die Repression des Regimes greift um sich.

In Tunesien spitzt sich die Lage für people on the move und Aktivist:innen des antirassistischen Milieus immer weiter zu. Ende April wurden Geflüchtetenunterkünfte in der Küstenstadt Sfax von der Polizei geräumt und die Bewohner:innen, die aus diversen ost-, west- und zentralafrikanischen Ländern stammen, an die libysche und algerische Grenze verschleppt. Das Gleiche geschah letzten Freitag mit 400 bis 500 people on the move, die vor der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Tunis campierten, um ihren Zugang zum Rückreiseprogramm der IOM zu erwirken.

Vier Tage später wurde die Aktivistin Saadia Mosbah, Präsidentin der Organisation M‘nemty (tunesisch für: „Woher kommst du?“) wegen Verdacht auf Geldwäsche festgenommen, ein Vorwand, den der tunesische Präsident Kais Saied im Zusammenhang mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen oft erhebt, um die Arbeit der Zivilgesellschaft zu delegitimieren. Die Organisation M‘nemty arbeitet zu Rassismus und Migration in Tunesien. Einen Tag später, am 8. Mai 2024, nahm die Polizei die Vorsitzende des lokalen Ablegers von Terre D’asile, Chrifa Riahi, in Gewahrsam mit Bezug auf dasselbe Gesetz wie im Falle von Mosbah. Vier weitere Mitarbeiter:innen der Organisation wurden von der Polizei verhört.

Von der Presse weitgehend unkommentiert blieb die Inhaftierung des kamerunischen Vorsitzenden der Association des Etudiants et Stagaires Aftians en Tunisie (AESAT), Christian Kwongang, der im März festgenommen worden war, als er seinen tunesischen Aufenthaltstitel bei der zuständigen Polizeibehörde abholen wollte. AESAT ist ein in Tunesien eingetragener Verein für Studierende und Praktikant:innen aus Ost-, West- und Zentralafrika. People on the Move und Menschen, die sich für die Rechte dieser einsetzen, sind in Tunesien nicht mehr sicher.

Dieses Vorgehen ist ein weiterer Schritt der Autoritarisierungsstrategie des Präsidenten Kais Saied, der seit seinem Putsch im Sommer 2021 seine Alleinherrschaft immer weiter konsolidiert. Dazu änderte er 2022 die Verfassung, erließ ein Dekret, das die Pressefreiheit stark einschänkt und inhaftierte sowohl Oppositionspolitiker:innen wie Journalist:innen. Neben diesen institutionellen Maßnahmen will er die tunesische Bevölkerung mit einem faschistischen, rassistischen und anti-westlichen Diskurs auf ein polarisierendes Weltbild samt Freund- und Feindesnarrativen einschwören, wie dis:orient bereits im April 2023 berichtete. In der Tat sind rassistische Kommentare Teil des Alltagsdiskurses, in den sozialen Medien salonfähig geworden und allgegenwärtig.

Zielscheibe Zivilgesellschaft

Im Herbst 2023 wurde schließlich ein Gesetzentwurf zur Einschränkung der Arbeit von Vereinen im tunesischen Parlament, das in der Praxis ohne die Zustimmung des Präsidenten kein Gesetz verabschiedet, vorgestellt. Es ist zu beobachten, dass alle staatlichen Institution vorauseilend und eifrig aus eigenem Willen Maßnahmen ergreifen, die in die Linie des Präsidenten passen, um ihre Machtposition zu konsolidieren. Auch diese Gesetzinitiative kann in dieser Lesart verstanden werden. Alle offiziell registrierten tunesischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und sämtliche internationale NGOs, Stiftungen oder Kulturinstitutionen sind im Rahmen des bisher noch geltenden Dekret-Gesetzes 2011-88 tätig, das wohlmöglich sehr bald von dem besagten Gesetzentwurf ersetzt wird.

Sollte dies so eintreten, wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Einerseits würde dies die zivilgesellschaftliche Opposition Kais Saieds in ihrer Handlungsfähigkeit stark einschränken – und im selben Atemzug die Arbeit internationaler Akteur:innen wie der INGO Terre D’Asile oder den deutschen politischen Stiftungen massiv erschweren. Auch auf Seite der internationalen Akteur:innen kommt es zu Polizeidurchsuchungen und die Devisenkonten von einigen internationalen NGOs wurden gesperrt.

Konkret geht es nämlich in dem Gesetz um mehr staatliche Kontrolle über die Vereine, NGOs und INGOs: Während es im aktuellen Rechtsrahmen genügt, eine Vereinsgründung den zuständigen Behörden mitzuteilen, soll es hierfür in Zukunft einer Genehmigung bedürfen, die ebenso gut verweigert werden dürfte. Zudem sollen internationale Finanzierungen im Voraus vom Außenministerium genehmigt werden müssen und alle Vereine sollen der Kontrolle des für ihr Themengebiet zuständigen Ministeriums unterliegen.

Jüngste Entwicklungen vor dem Hintergrund italienischer und EU-Migrationspolitik

Auffällig ist außerdem, dass das Vorgehen gegen Migrant:innen zeitlich auf den jüngsten Besuch Giorgia Melonis in Tunis vom 17. April folgt. Im Zuge dessen handelte die italienische Premierministerin ein Abkommen zwischen Italien und Tunesien aus, das sich hauptsächlich auf Migration fokussiert: Neben Schlepperbekämpfung und Rückführungen von Drittstaatenangehörigen von Tunesien in die jeweiligen Herkunftsländer ging es auch um legale Migrationswege für Tunesier:innen nach Italien.

Wichtig ist auch zu bedenken, dass der EU-Migrationspakt in Anbetracht dieser Entwicklungen verheerende Folgen hat: Laut der am 10. April vom EU-Parlament verabschiedeten und zuvor jahrelang verhandelten Regelung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), sollen im Schengenraum abgelehnte Asylbewerber:innen in Transitländer abgeschoben werden können. Hier bedarf es allerdings der Zustimmung des besagten Transitlandes, womit dieser Mechanismus bisher nur zwischen Italien und Tunesien durch das jüngste Abkommen eindeutig festgelegt ist.

Das Prinzip der Abschiebung in Transitländer war von zahlreichen INGOs stark kritisiert worden. Schon bei der Aushandlung des Paktes im Ministerrat im Frühsommer 2023 berichtete dis:orient über die sich zuspitzende Lage für people on the move in Tunesien im Lichte des Paktes. Damals ergab sich eine ähnliche Dynamik wie nach dem jüngsten Besuch Melonis: Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der niederländische Ministeripäsident Mark Rutte und Giorgia Meloni unterzeichneten ein Memorandum of Understanding mit Tunesien, das unter anderem von Verhinderungsmechanismen für illegale Einreisen nach Europa handelt.

Auch damals waren zahlreiche Menschen aus Ost, West- und Zentralafrika aus einem Camp im Stadtzentrum der Küstenstadt Sfax, an die libysche und algerische Grenze abgeschoben worden. Das Bild der Leichen einer Mutter mit ihrer Tochter in der libyschen Wüste ging um die Welt.

Verheerende Folgen für Aktivist:innen und Communities

Das harte Vorgehen des tunesischen Staates der letzten Tage wird wohl kein Einzelfall bleiben, denn schon jetzt zeichnen sich weitere Schritte gegen andere Aktivist:innen des links-liberalen Spektrums ab: Eine Gruppe, die zunehmend auf die Zielscheibe des Präsidenten geraten könnte, ist die LGBTI+ Community, die nach der Revolution einige Meilensteine für die Freiheiten und die Wahrnehmung von queeren Menschen in Tunesien erreichen konnte. Schon jetzt weigern sich öffentliche Veranstaltungsorte, Events zu besagtem Themengebiet auszurichten. NGOs wie Mawjoudin schraubten im Laufe des letzten halben Jahres ihre Öffentlichkeitsarbeit zurück und erhöhten ihre Sicherheitsmaßnahmen.

Dennoch kritisieren weiterhin viele Menschen die Verschleppungen migrantischer Schwarzer Personen – unter anderem auf sozialen Medien – und gehen weiterhin auf die Straße, um sich für die Gewährleistung von Grundrechten und ihre eigene Meinungsfreiheit einzusetzen: So wie bei einer Demonstration vor der italienischen Botschaft am 08. Mai, unmittelbar nach den Festnahmen der beiden Aktivistinnen.

 

 

 

 

Artikel von Bertha Klement
Redigiert von Pauline Fischer, Rebecca Spittel