Unfairer Wahlkampf, saubere Wahlen: So lautet zumindest das Resümee vieler Expert:innen zur Präsidentschaftswahl in der Türkei. Stimmt das? haben wir Hila Latifi gefragt. Sie war als unabhängige Wahlbeobachterin in Cizîr (türkisch Cizre).
Hila, du bist in Hamburg politische Bildungsreferentin. Am Wahltag warst du in der Provinz Cizîr im Südosten der Türkei und hast die Wahlen beobachtet. Wie kam es dazu?
Die Fraktion der Partei DIE LINKE in der Hamburger Bürgerschaft hatte zusammen mit der Kurdistanhilfe e.V. zur Wahlbeobachtung in Amed (türkisch Diyarbakır) aufgerufen, im Namen der pro-kurdischen Halkların Demokratik Partisi (HDP, Demokratische Partei der Völker). Viele Kurd:innen konnten aus Sicherheitsgründen nicht selbst in die Türkei einreisen. Umso wichtiger ist die Solidarität von Personen wie uns, die nicht schon bei der Einreise Schwierigkeiten wegen ihrer Identität haben.
Uns war klar, dass die Situation heikel werden würde. Freund:innen im Kurdischen Verein versicherten uns aber, dass es für deutsche Delegationen einen gewissen Schutz gibt und wir uns nicht in Gefahr begeben. Die Präsenz von unabhängigen, ausländischen Wahlbeobachter:innen schützt die Wahlen. Ich kenne den afghanischen Kontext. Für die Frauenproteste war die mediale Aufmerksamkeit lange der einzige Schutz. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen, hinzufahren.
Du sagst, einige aus der Delegation hatten vorher keinen direkten Bezug zu Kurdistan. Wie habt ihr euch vorbereitet und was genau war eure Aufgabe?
Es war klar, dass wir keine offizielle Rolle haben werden, wie etwa die Beobachter:innen der OSZE – damit war offen, ob wir uns vor Ort wirklich umschauen dürfen oder nicht. Präsent sein war unsere Hauptaufgabe. Vorbereitet haben wir uns mit Inputs zur aktuellen politischen Lage und dem türkischen Wahlsystem. Ich war außerdem neugierig, zu hören wie es dazu kam, dass die HDP Kemal Kılıçdaroğlu unterstützt, den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten des Oppositionsbündnisses. Vor Ort wollte ich Eindrücke sammeln, beobachten wie die Wahlen ablaufen und mit Menschen aus der Region über ihre Wünsche und Hoffnungen sprechen.
Die HDP ist Schwesterpartei der Partei DIE LINKE. Wie wurdet ihr vor Ort empfangen?
Unser Besuch war in der Türkei von Menschen aus dem Umfeld der HDP organisiert. Sie begleiteten uns auch während unseres Aufenthaltes, zum Beispiel, um für uns zu übersetzen. 178 Wahlbeobachter:innen sind für die HDP aus verschiedenen Ländern angereist und wurden im Land verteilt. In Amed waren wir zwölf Personen aus Hamburg und hatten einen Abgeordneten der Hamburger Bürgerschaft dabei.
Wir kamen am Freitag vor der Wahl in Amed an und besuchten die letzte Wahlkampfveranstaltung der Yeşil Sol Parti (YSP, Die Links-Grüne Partei), mit denen die HDP gemeinsam zu den Wahlen angetreten ist. Dort herrschte eine sehr hoffnungsvolle Stimmung. Am Samstag sind wir als Gruppe nach Cizîr gefahren.
Cizîr ist eine Stadt in den kurdischen Gebieten der Türkei, die 2015 in den Schlagzeilen war, weil das türkische Militär die Stadt besetzte und 79 Tage von der Außenwelt abschnitt. Wie war die Stimmung am Wahltag?
Die Stimmung hat sich zwischen Hoffnung, Anspannung und Misstrauen bewegt. Sonntag früh haben wir uns in Kleingruppen aufgeteilt und sind mit Übersetzer:innen in kleinere Orte gefahren, wir zum Beispiel nach Basê (türkisch Güçlükonak), ein Ort mit circa 14.000 Einwohner:innen. Dort sollten wir im HDP-Büro eine kurze Einführung zur Lage in der Stadt am Wahltag bekommen. Als wir gerade alle mit einem Glas Çay zusammensaßen, kamen Anrufe rein und dann war erst einmal große Aufregung: Vertreter:innen der Yeşil Sol Parti hatten in verschiedenen Wahllokalen beobachtet, dass Soldat:innen nicht regelkonform gewählt hatten. Da Soldat:innen in der Regel nicht an ihrem Heimatort stationiert sind, sind sie nicht an ein Wahllokal gebunden. Sie haben ein Dokument, das sie mit ihrem Stimmzettel abgeben müssen.
Die Vertreter:innen hatten beobachtet, dass Soldat:innen die Zettel zwar vorzeigten, aber nicht abgaben. Das bedeutet, dass sie theoretisch an verschiedenen weiteren Lokalen wählen konnten. Die HDP-Mitglieder vor Ort waren sofort in Aktion und baten uns, dieses Vorkommnis aufzunehmen und in unserem Bericht zu den Wahlen festzuhalten. Gleichzeitig war nicht klar: Gibt es Wege, das zu verhindern? Wenn ja, welche? Wie wirkt sich das auf die Wahlen aus? Die anwesenden Mitglieder der HDP wirkten aufgebracht und verzweifelt.
Wie ging es nach diesem beunruhigenden Start weiter? Konntet ihr selbst zu den Wahllokalen fahren?
Ja, wir haben uns über die Wahllokale informiert und sind los zur ersten Schule. Das Gelände war durch schwer bewaffnete Soldat:innen und Polizist:innen bewacht. Zwar haben sie keine Ausweise kontrolliert, aber sie ließen immer nur einzelne Wähler:innen durch das Tor. Als wir durch das Tor wollten, hielten sie uns an. Unser Übersetzer hat uns vorgestellt und darauf hingewiesen, dass der Besuch erlaubt ist. Tatsächlich konnten wir dann in Begleitung von zwei Soldaten auf den Schulhof.
Ziemlich schnell kam aber ein Polizist dazu, der meinte wir müssten wieder gehen. Wir haben, beziehungsweise unser Übersetzer, hat uns wieder vorgestellt und gesagt, dass wir aus Deutschland kommen und einfach nur da sein möchten. Gleichzeitig drängten uns die Soldat:innen Richtung Ausgang. Nach einer Viertelstunde Diskussion war die Stimmung angespannt. Zur gleichen Zeit wie wir waren zwei offizielle Wahlbeobachter:innen der EU mit entsprechenden Ausweisen da. Sie durften ins Wahllokal und haben angeboten uns mitreinzunehmen. Der Polizist lehnte auch das ab.
Konnten sie als offizielle Beobachter:innen etwas bewirken?
Nein. Wir sind zwar gemeinsam zur nächsten Schule gefahren, aber wir wurden direkt wieder angehalten. Die Situation war hektisch, unser Übersetzer war im Gespräch mit den Soldat:innen, sodass wir wenig verstanden haben. Die beiden offiziellen Beobachter:innen sind ohne uns ins Wahllokal gegangen. Das war in Ordnung: Sie wollten uns helfen, aber es hat nicht geklappt. Sie, als offizielle Beobachter:innen, hatten eine andere Aufgabe als wir. Sie hielten sich nicht lange auf, sondern liefen einmal durch jedes Wahllokal. Wir dagegen wollten einige Zeit an den Wahllokalen präsent sein und mit Wähler:innen und Wahlhelfer:innen ins Gespräch kommen.
Das heißt, von eurer Gruppe hat niemand ein Wahllokal von innen gesehen?
Doch, eine Person aus unserer Gruppe schaffte es ins Wahllokal. Problematisch wurde das, als der Polizist von der ersten Schule dazu kam. Er wurde wohl informiert. Ihm fiel auf, dass eine Person fehlte. Polizist:innen haben unser Gruppenmitglied dann aus dem Wahllokal geholt. Als sie uns nach unseren Ausweisen fragten, haben wir ihnen diese ausgehändigt. Dann wurde es aber angespannt und ungemütlich. Die Soldat:innen räumten den Schulhof und wir wurden eingekesselt.
Die Situation hatten wir bis dahin ganz anders eingeschätzt und gehofft, dass sie uns – sobald wir uns vorstellen und sagen, weshalb wir vor Ort sind – erlauben würden zu bleiben. Es hieß dann, sie verdächtigen uns. Warum, erfuhren wir nicht. Das war der Zeitpunkt, an dem ich einfach wegwollte. Die Soldat:innen ließen uns aber nicht gehen. Das war schon genug Schikane, aber wir mussten uns dann abtasten lassen, obwohl wir kaum etwas bei uns trugen. Es war absurd, wie wir als Kriminelle behandelt wurden. Nach der übertrieben gründlichen Kontrolle gaben sie uns die Ausweise zurück und wir mussten den Ort sofort verlassen.
Was habt ihr nach dem frühen Ende eurer Mission gemacht?
Diese Gespräche hatten viel Zeit in Anspruch genommen und es war nicht mehr viel Zeit bis zur Schließung der Wahllokale. Nach diesen Erlebnissen war klar, dass wir nicht willkommen waren. Wir sind zurück nach Cizîr gefahren und haben uns dort mit den anderen Kleingruppen getroffen. Unsere Organisatorin wollte nicht über Nacht dortbleiben, da sie nicht einschätzen konnte, wie die Situation sich am Abend entwickeln würde. Wir sind also direkt nach Amed zurückgefahren. Ein großer Teil der türkischen Medien sind staatlich, somit regierungsnah. Kurdische Medien sind größtenteils verboten, deswegen haben wir uns auf Sozialen Medien über die aktuelle Lage zu informiert.
Haben die anderen Beobachter:innen der HDP auch Repression durch Polizei und Militär erfahren?
Wir haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Viele wurden von der Polizei abgewiesen. Einige wurden willkommen geheißen und durften sich die Wahllokale anschauen, auf den Schulhöfen bleiben und wurden respektvoll behandelt. Wir hatten den Eindruck, dass der Umgang davon abhängt, wie der Ort politisch eingestuft wird. Je sicherer eine große Unterstützung der Regierungspartei ist oder auch anderer rechter Parteien, desto weniger war der Zugang zu den Wahllokalen kontrolliert. In Basê wählen wohl circa 80 Prozent HDP und dementsprechend war dort viel Militär und Kontrolle präsent.
In der internationalen Berichterstattung hieß es, dass der Wahlkampf unfair war, aber die Wahlen seien sauber abgelaufen. Wie passt das mit deinen Beobachtungen zusammen?
Am Wahlabend haben wir in unserer Hamburger Gruppe viel diskutiert und waren uns nicht immer einig. Eine Person sagte: „Von Wahlmanipulation können wir auf keinen Fall sprechen, weil wir keine Beweise haben.“ Ich finde diese Aussage schwierig. Hinweisen von Augenzeug:innen, die Ungereimtheiten beobachtet haben, kann in der aktuellen Situation in der Türkei nicht nachgegangen werden. Wahlbeobachter:innen abzuweisen verhindert außerdem, dass sie Beweise sammeln können. Dazu kommt, dass unser Einblick zeitlich auf wenige Momente beschränkt war, was es unwahrscheinlich macht, dass ausgerechnet wir Beweise finden.
Daher ist es mir wichtig, dass wir Aussagen von Personen, die vor Ort leben und die Dinge besser einordnen können, für glaubwürdig erachten und sie dokumentieren. Wir sollten sie nicht in Beweispflicht bringen – Soldat:innen werden sich nicht dabei filmen lassen, wie sie mehrfach wählen. Ich habe dazu eine klare Position: Es gab so viele Ungereimtheiten, dass ich nicht davon ausgehe, dass diese Wahlen demokratisch abgelaufen sind.
Was wegen der Stichwahl um das Amt des Präsidenten im Schatten steht, sind die Parlamentswahlen, die gleichzeitig stattfanden. Wurde dieser Teil des Wahlergebnisses vor Ort mehr diskutiert?
Ja. In der Wahlnacht konnte ich Gespräche in Amed mithören und mir übersetzen lassen. Auch wenn es viele im Vorfeld erwartet hatten, dass die Wahlen nicht fair ablaufen würden – der Moment als ihnen klar wurde, dass sie über die demokratischen Wahlen keine Änderung des Systems erreichen können, war hart. Seit den Wahlen wurde auch öffentlich reflektiert und Strategien diskutiert. Das laufende Verbotsverfahren gegen die HDP, das im Vorfeld unklar gemacht hat, ob die Partei überhaupt zu den Wahlen jetzt im Mai zugelassen wird, ist weiterhin offen und es besteht bei der Opposition große Sorge vor Repressionen.
Am 28. Mai 2023 geht es in die Stichwahl – wie schätzt du die Situation in Cizîr ein? Werden die Leute nach der Enttäuschung im ersten Wahlgang noch einmal auf die Wahlurnen setzen?
In einigen Provinzen ist noch nicht klar, wie dort die Wahlen abgehalten werden. In der Provinz Şirnex (türkisch Şırnak) wurde zum Beispiel nach dem ersten Wahlgang eine Ausgangssperre verhängt. Unter anderem sind dort Menschen noch am Wahlabend auf die Straßen gegangen. Diese Anspannungen haben sicher Einfluss auf den Wahlgang. Es ist offen, ob die offiziellen Wahlbeobachter:innen der OSZE trotzdem dorthin können. Fest steht, dass Delegationen wie unsere dort keinen Zugang haben werden. Gleichzeitig wurden in den letzten Tagen über hundert Abgeordnete der HDP und YSP verhaftet. Der Zusammenhang und die Botschaft der Regierung an die Bewohner:innen ist klar: Wir lassen eure Stimmen nicht zählen.