30.03.2018
Politik ohne Haltung
Lea Frehse ist langjährige Sharqistin und arbeitet als Journalistin. Grafik: Tobias Pietsch
Lea Frehse ist langjährige Sharqistin und arbeitet als Journalistin. Grafik: Tobias Pietsch

Die deutsche Nahost-Politik orientiert sich wieder an Autokraten statt an Bürger*innen. Und das soll nun realistisch sein? Es ist naiv.

Dieser Text ist Teil der neuen Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne finden Sie hier.

Das verflixte siebte Jahr ist um. Sieben Jahre sind seit der Arabellion vergangen, und man kann sagen: Die „Beziehung“ zwischen Deutschland und seinen „Transformationspartnern“ in Nordafrika und Westasien besteht nur noch auf dem Papier. Ja, die Romanze mit der Idee von Demokratien in Nahost ist mancher*m in der deutschen Außenpolitik fast ein bisschen peinlich. Was waren wir naiv.

Es hat sich in den vergangenen Jahren ein Kurswechsel vollzogen in der deutschen Außenpolitik zum sogenannten Nahen Osten, der so langsam und geräuschlos passiert ist, dass er kaum für Diskussionen gesorgt hat. Unterstützte Deutschland ab 2011 aktiv oppositionelle Kräfte von Marokko bis Syrien, so ist von diesem Engagement kaum noch etwas übriggeblieben. Statt auf demokratische, nichtstaatliche Akteure setzt Deutschland heute wieder stärker auf die Förderung von Handel und auf die „Sicherheitskooperation“ mit zweifelhaften Regimen. Manche sagen, der Realismus sei wieder eingekehrt in die deutsche Nahostpolitik. Doch das zu glauben, ist naiv.

Denn die neue, alte, deutsche Außenpolitik geht an der Wirklichkeit vorbei, und ist damit alles andere als realistisch. Und zwar aus zwei Gründen. Der eine hat mit dem deutschen Verständnis der eigenen Rolle zu tun. Der andere, gewichtigere, mit der deutschen Sicht auf „die Region“.

Die Arabellion von 2011 wurden nicht bloß als Ereignisse wahrgenommen. In Deutschland blickte man plötzlich anders auf die Menschen in „Nahost“

Statt die auch in Deutschland verbreitete Euphorie für die Revolutionen von 2011 tief im kollektiven Gedächtnis zu vergraben, lohnt es sich, noch einmal Revue passieren zu lassen, was sie  bedeutete und was mit ihr geschah. Als 2011 Hunderttausende Menschen in Tunesien, Ägypten, Jemen, und Syrien auf die Straßen gingen, da produzierten diese Ereignisse in Deutschland mehr als nur Schlagzeilen. Die Umbrüche wurden nicht als bloße Fakten rezipiert, die ‚in der Ferne‘ neue politische Realitäten schufen. Vielmehr entstand in Deutschland ein völlig neuer Blick auf die Bürger*innen und Länder der ganzen Region.

Innerhalb weniger Wochen wurden die Menschen in Nordafrika und Westasien im öffentlichen deutschen Diskurs als Akteure wahrgenommen, statt als stille Masse. Im Fokus standen nun politische Anliegen – Freiheit und Würde – statt, wie üblich, Geostrategie oder Humanitäres. Deutsche Medien veröffentlichten Reportagen aus Kleinstädten und Porträts von Aktivist*innen, analysierten Arbeitsmarktpolitiken und Brotpreise. So wurde aus „dem Orient“ für einige Wochen eine deutlich differenziertere politische Landschaft, aus „rückständigen“ Muslim*innen oder Araber*innen wurden junge, komplexe Gesellschaften. Kurz: Es ging um gelebte Realität.

Auch die deutsche Regierung schlug zu dieser Zeit einen neuen, einen ungewohnten Ton an. Als Frankreich dem tunesischen Regime noch militärische Unterstützung gegen die Demonstrant*innen anbot, erklärte die Bundesregierung schon ihren Rückhalt für die demokratische Opposition. Als Zine al-Abidine Ben Ali in Tunesien und kurz darauf Hosni Mubarak in Ägypten stürzten, brachte der Bundestag zügig ein besonderes Budget zur Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen, der freien Presse und demokratischer Institutionen auf den Weg. Die millionenschweren Programme, die daraus folgten, liefen beim Auswärtigen Amt unter dem Titel „Transformationspartnerschaft“.   

Auch in Syrien, wo die Aussichten für einen Sturz des Regimes von Beginn an komplizierter abzustecken waren, bezog Deutschland eine ungewöhnlich klare Haltung und stellte sich hinter die Opposition. Die sogenannte Nationale Übergangsregierung, das offizielle Oppositionsgremium, tagte zum ersten Mal in Berlin. Es waren deutsche Diplomat*innen, die die Genfer Verhandlungen ins Rollen brachten. Für einen kurzen historischen Moment sah es so aus, als bildete sich da so etwas wie eine aktive Nahostpolitik. Als erkenne man Akteure, mit denen man nicht nur (politischen wie wirtschaftlichen) Handel treiben könnte, sondern auch gemeinsam für Interessen eintreten. So als sei Deutschland bereit, klare Ziele abzustecken, Strategien zu entwickeln, in Akteure zu investieren.

Deutschland nahm auch sich selbst ehrlicher wahr: als politischen Akteur statt als vermeintlich neutralen Handelspartner

Das bedeutete auch ein neues Selbstbild. Deutschland gab nicht mehr länger vor, ein politisch unbeteiligter Dritter, ein reiner Handelspartner zu sein. Selbst den Handel mit Waffen hatten deutsche Politiker*innen bisher nach Möglichkeit nicht mit eigenen Interessen erklärt, sondern mit dem Verweis darauf, dass sonst eben andere militärisches Equipment liefern würden. Diese Rhetorik begann sich zu wandeln. Deutschland erkannte sich selbst als politischen Akteur.

Doch damit ist längst wieder Schluss. Sowohl der klare Blick auf die politischen Gegebenheiten als auch der ehrliche Blick auf die eigene Rolle als politische Kraft in der Region sind den alten Stereotypen gewichen.

Wann genau das begonnen hat, ist kaum zu datieren. Viele Faktoren haben den Anflug von außenpolitischer Haltung nach und nach erodieren lassen. Dazu zählen zum einen politische Entwicklungen in den betreffenden Staaten selbst, darunter die Eskalation des Krieges in Syrien im Zuge der russischen Intervention, die Machtübernahme des Generals Abd al-Fatah al-Sisi in Ägypten, und die zunehmende Einschränkung der Pressefreiheit unter anderem in Marokko. In der Summe haben sie in Deutschland dazu geführt, dass die Aufmerksamkeit von Medien und Politik sich von den Lebensumständen und politischen Interessen ziviler Kräfte zurück auf die Ebene von Staatschefs, Waffensystemen und Geopolitik verlagert hat.

Dazu gehören aber auch deutsche, innenpolitisch motivierte Eigeninteressen – in erster Linie die Obsession mit einer militärisch-polizeilichen Abschottung gegen Flucht und Migration. Das Erstarken der Rechtspopulist*innen, insbesondere nach der Ankunft vieler Asylsuchender im Jahr 2015 hat den öffentlichen Diskurs deutlich nach rechts verschoben und kollektivierenden Stereotypen zum sogenannten Nahen Osten Vorschub geleistet. Dies geschah vor dem Hintergrund zunehmender Instabilität der internationalen Beziehungen.

Die Bündnisse, an denen sich die deutsche Außenpolitik lange orientierte (und hinter denen sie sich in gewissem Maße verstecken konnte), sind erschüttert; in erster Linie die Europäische Union durch den Brexit und die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten durch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten. In Deutschland haben diese Erschütterungen auch dazu beigetragen, dass „politische Stabilität“ als Wert an sich eine Renaissance erlebt hat. In Hinblick auf Westasien und Nordafrika allerdings bedeutet „politische Stabilität“ klassischerweise: Repressionen und das Regieren an der Wirklichkeit der Menschen vorbei.

Der neue Kurs: Deutschland ist überall dabei, will aber nichts erreichen

Seit sich die Ereignisse in Syrien und Ägypten, aber auch im Westen überschlagen – etwa durch außenpolitische Entscheidungen Trumps oder neue Allianzen in Europa –, ist Deutschland als proaktiver Akteur in arabischen Ländern quasi verschwunden. Deutschland ist kein Impulsgeber mehr, sondern gibt sich wieder als vermeintlich neutraler „Vermittler“ und Kriegsvermeider, etwa im Streit zwischen Iran, Saudi-Arabien und den USA. Dabei wird immer deutlicher, dass die deutsche Außenpolitik somit an der Realität vorbeigeht.

Deutschland ist längst wirtschaftlich wie politisch zu einflussreich, um sich aus dem politischen Geschehen der Region herauszuhalten. Was die auswärtige Politik aber tut, ist viel zu klein, um wirklich etwas zu bewegen. Das gilt für Militärisches – Deutschland stationiert Truppen in Afghanistan, aber nicht um zu kämpfen – ebenso wie für sogenannte Entwicklungshilfe – Deutschland fördert zivilgesellschaftliche Institutionen in Marokko, fährt aber nach und nach den öffentlichen Rückhalt für regimekritische Aktionen zurück. Überspitzt ausgedrückt: Deutschland ist überall dabei, will aber nichts erreichen.

Das Wort „Transformation“ ist aus dem Vokabular des Auswärtigen Amtes so gut wie verschwunden, die Beziehung zu den jeweiligen Sicherheitsbehörden jedoch deutlich vertieft worden. So rüstet Deutschland unter anderem das tunesische Militär zur Grenzsicherung aus. In Hinblick auf Syrien und Jemen hat Deutschland heute nicht mehr zu bieten als Worthülsen und Geld für Humanitäres. Die Verantwortlichen im Ministerium verweisen bei jeder Gelegenheit auf den Genfer Friedensprozess, wohl wissend, dass dieser längst gescheitert ist.

Sieht sich die Bundesregierung doch gezwungen, aktiv zu sein, dann agiert sie vor allem symbolisch. Man schickt ein paar Soldat*innen in den Nordirak, aber nicht, um selbst zu kämpfen. Man verurteilt den Krieg im Jemen, aber genehmigt Rüstungsausfuhren an Saudi-Arabien. Der neue Außenminister Heiko Maas (SPD) hat in seiner Antrittsrede Mitte März gesagt, er wolle eine Außenpolitik machen, in der Deutschland sich nicht länger „wegducke“.

Der Blick auf das eigene Gewicht also könnte realistischer werden. In Hinblick auf Westasien und Nordafrika ist er bisher vage geblieben. Wirklich realistischer würde die Außenpolitik dort, wenn sie den Blick von 2011 wieder einnimmt: den auf Menschen statt Staatschefs. Auf gelebte Realitäten.

Lea ist seit 2011 bei Alsharq. Sie hat Internationale Politik und Geschichte in Bremen und London (SOAS) studiert und arbeitet seitdem als Journalistin. Mehrere Jahre hat sie in Israel und Palästina gelebt und dort auch Alsharq-Reisen geleitet. Lea ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung Die Zeit.