08.11.2018
Interview: Jerusalem am Scheidepunkt? Die Stichwahl um das Bürgermeisteramt

Am 30. Oktober fanden in Israel im ganzen Land Kommunalwahlen statt. 251 Städte und Gemeinden waren dabei zur Wahl aufgerufen. Viele aufmerksame, mitunter auch besorgte Blicke gingen dabei nach Jerusalem, wo der amtierende Bürgermeister Nir Barkat angekündigt hatte, nicht für eine weitere Amtszeit zu kandidieren. In Jerusalem, einer Stadt die vor großen Herausforderungen steht, wird in Zukunft auch viel von den politischen Entscheidungen und Handlungen des nächsten Bürgermeisters abhängen. Am 13.11. treten die zwei Kandidaten, die am 30.10. die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten, zur Stichwahl an. Alsharq sprach mit Marik Sthern über die neuesten Entwicklungen. Sthern ist in Jerusalem aufgewachsen und erforscht die politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in der Stadt.

Marik, kannst Du dich kurz selbst vorstellen?

Ich bin Marik Sthern, ein Humangeograph mit Schwerpunkt auf politischen Prozessen in Städten. Momentan bin ich ein Postdoktorand an der University of California in San Diego. Ich habe fast mein gesamtes Leben in Jerusalem verbracht. Mein Aktivismus und meine akademische Arbeit sind fast ausschließlich auf Jerusalem bezogen.

Was würdest Du sagen, ist der momentane politische Status Quo in der Stadt?

Der Status Quo wird in der Stadt permanent herausgefordert. Die Frage nach Öffnungszeiten von Cafés und Restaurants am Shabat, die Frage der Segregation von Frauen und Männern im öffentlichen Raum und die Frage der Zuwendung von öffentlichen Geldern werden ständig als politische Konflikte sichtbar. Sie spalten zunehmend die jüdisch-israelische Bevölkerung Jerusalems. Die Tatsache, dass säkulare Israelis sich von einer starken Mehrheit in der Stadt zu einer schrumpfenden Minderheit entwickelt haben, verändert das Gesicht der Stadt und viele Annahmen über die Zukunft der Stadt werden dadurch nichtig. Bezogen auf West- und Ost-Jerusalem gibt es einen Status quo, der sich nicht stark verändert hat. Israel ist der dominante Part, während die Palästinenser*innen mehrheitlich zu Passivität gezwungen sind und unterdrückt werden.

Warum spielen die Kommunalwahlen, die am 30.10.2018 stattfanden, eine so wichtige Rolle für Jerusalem?

Die Kommunalwahlen spielen in Israel nur für die jüdisch-israelische Bevölkerung eine wichtige Rolle. Die Wahlen entscheiden über die zukünftige Stadtentwicklung, über die Balance zwischen konservativ-religiösen und liberal-modernen Kräften in der Stadt. Das ist der Grund, warum die religiöse und ideologische Identität bzw. Affinität der Kandidaten für die Bürgermeisterämter und für die Parteien, die in den Stadtrat einziehen, so entscheidend für die Zukunft der Stadt ist.

Wer waren die zentralen Kandidaten bei den Wahlen zum Bürgermeister in Jerusalem?

Es gab einige Kandidaten, die es in die engere Auswahl geschafft haben. In die Stichwahl am 13.November ziehen die beiden Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich versammeln konnten: Das wäre zunächst Ofer Bekovitch. Er ist ein Kandidat der Mitte und des liberalen Lagers. Seine Partei „Hitorerut“ (Erwachen auf Hebräisch) ist aus einer Bewegung entstanden, die sich aktiv für eine liberale Entwicklung Jerusalems und eine Öffnung der Stadt einsetzt. Er ist der Kandidat für säkulare und moderate orthodoxe Jüdinnen und Juden in der Stadt. Ich würde sagen, er ist ein großartiger Kampagnenführer, dabei an der Grenze zum Populismus. Auch stehen seine Erfahrung und seine tatsächlichen Fähigkeiten stark zur Debatte.

Dann gibt es noch Moshe Leon, einen modernen orthodoxen misrachischen Juden. Er ist der Kandidat, der von der ultraorthodxen Community stark unterstützt wird. Er ist erst vor fünf Jahren nach Jerusalem gezogen und wird von zwei prominenten, rechtsgerichteten Politikern aus der Regierung unterstützt: von Avigor Liebermann und Ariyeh Deri.

Erstmalig gab es auch einen palästinensischen Kandidaten, der zu den Kommunalwahlen in Jerusalem angetreten ist. Dies ist insofern speziell, als dass die palästinensische Bevölkerung Jerusalems (um die 40%) die Wahlen in Jerusalem weitestgehend boykottiert, um die Annexion Ost-Jerusalem an Israel nicht anzuerkennen. Dieses Jahr ist mit Ramadan Dabash erstmalig ein Palästinenser aus Süd-Jerusalem angetreten. Was ist daran so besonders?

Es ist sehr mutig, sich als Palästinenser für den Stadtrat aufstellen zu lassen. Dies bringt dich in Konflikt mit der palästinensischen Führung höchstpersönlich, die die Auffassung vertritt, dass das Wählen für die Kommunalwahlen eine Anerkennung der Besatzung Ost-Jerusalems legitimiert. Auch musste er gegen viele innere Widerstände seiner eigenen Gesellschaft und gegen einen Mangel an politischer Erfahrung und Unterstützung ankämpfen.[1]

Wenn Du eine Vorhersage wagen kannst: wer wird zum Bürgermeister gewählt werden?

Es scheint so, als ob Moshe Leon einen erheblichen Vorteil hat, um am 13.11. die Wahlen für sich zu entscheiden. Seit dem Ausscheiden der anderen Kandidaten ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die Ultraorthodoxen für einen säkularen Kandidaten wie Ofer Berkovich entscheiden werden. Die offene Frage ist aber, wie sich die traditionellen Israelis und reform-orthodoxen Bevölkerungsgruppen entscheiden werden, die ein Drittel der Bevölkerung Jerusalems ausmachen. Es scheint aber so, dass Moshe Leon, als religiöser und rechtsgerichteter Kandidat, diesen Gruppen mehr zusagt als Berkovitch.

Was ist Deine persönliche Vision für Jerusalem, abseits aller politischen Realitäten?

Es sieht momentan so aus, als würde sich alles Richtung mehr Extremismus, mehr Klientelismus und mehr Unterdrückung entwickeln, vor allem auch im Hinblick auf stärkere Konfrontationen zwischen Juden und Arabern in der Stadt. Das ist, was meine Zahlen zu den demographischen Entwicklungen mir sagen. Dennoch, trotz aller deterministischer Szenarios, gibt es auch andere Entwicklungen. Jerusalem ist Teil einer globalisierten Welt, in der moderne Technologien eine wichtige Rolle spielen. Auch lassen Menschen sich nicht mehr leicht in Schubladen einsortieren. Identitäten werden durchlässiger und viele weigern sich, sich nur noch mit ihrer eigenen Bezugsgruppe zu identifizieren. Auch in Jerusalem.

 

[1]Anmerkung der Redaktion: Ramadan Dabash hat die Hürde von 7000 Stimmen, die er für einen Sitz im Stadtrat gebraucht hätte, mit nur 3000 für ihn abgegebenen Stimmen, verfehlt. Er wird somit nicht als erster Palästinenser in Jerusalem in den Stadtrat einziehen.

Amina ist seit 2010 bei dis:orient, war lange im Vorstand aktiv und konzentriert sich mittlerweile auf die Bildungsarbeit des Vereins in Deutschland. Sie promoviert an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Fach Soziologie im Bereich kritische Sicherheitsforschung und arbeitet in Berlin als Bildungsreferentin bei der Kreuzberger Initiative...
Redigiert von Julia Nowecki