Zum Kinostart von „No other land” in Deutschland flammt eine Debatte wieder auf. Um die Menschen in Masafer Yatta, die durch die israelische Armee vertrieben werden, geht es dabei nicht.
Der preisgekrönte Dokumentarfilm „No Other Land“ unter Regie des palästinensisch-israelischen Filmemacher-Duos Basel Adra und Yuval Abraham zusammen mit Hamdan Ballal und Rachel Szor läuft seit dem 14. November in deutschen Kinos. Er erzählt von der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus Masafer Yatta im südlichen Westjordanland, der Gemeinde von Basel Adra. Seit Jahrzehnten kämpfen die Bewohner:innen gegen Zwangsräumungen durch die israelische Armee, die auf der Fläche der Dörfer Truppenübungsplätze errichten will und dies mit Gewalt umsetzt.
Ich besuchte die Deutschlandpremiere des Films am 11. November und das anschließende Video-Gespräch mit den beiden Filmemachern im ausverkauften Babylon Kino Mitte, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg Stiftung. Der Film erschüttert und lässt das Publikum mit der Frage zurück: Was können wir tun, damit dieses Unrecht aufhört? Sie liegt dem aktivistischen Filmprojekt zugrunde. Das Filmen selbst sei zum einzigen Werkzeug des Widerstandes geworden, sagt Adra. Doch trotz des großen internationalen Erfolgs des Films verschlechtert sich laut Adra die Situation für die Bewohner:innen von Masafer Yatta zunehmend.
Zwischen Standing Ovations und Antisemitismusvorwurf
Abraham, ein Israeli, der im Film an der Seite des Palästinensers Adra die Vertreibung dokumentiert und sich gegen die Besatzung ausspricht, appelliert ans Publikum, dass die Situation sich nicht von innen heraus verbessern wird. „Wir brauchen die internationale Community“, sagt er und warnt vor falscher Hoffnung, die das Bild eines gemeinsamen Filmprojekts zwischen einem Israeli und einem Palästinenser erwecken mag. Schon auf der diesjährigen Berlinale im Februar bei der Verleihung des Dokumentarfilmpreises wies Abraham in seiner Dankesrede darauf hin, dass die beiden gleichaltrigen jungen Männer in ein paar Tagen zurück in ein Land kehren, „in dem wir nicht gleichberechtigt sind. Ich lebe unter Zivilrecht, Basel unter Militärrecht. Wir leben 30 Minuten entfernt voneinander, aber ich habe Wahlrecht, Basel hat kein Wahlrecht.“ Er forderte, „die Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit muss enden.“
Wie auf der Berlinale im Februar, ernten Adra und Abraham auch an diesem Abend im November Standing Ovations. Doch genau wie damals bleibt es nicht dabei – der Abend der Berlinale-Preisverleihung wurde im Nachhinein in deutschen Medien als „Antisemitismus Skandal“ betitelt. Ranghohe Politiker:innen distanzierten sich in sozialen Medien von gemachten Aussagen, wie zum Beispiel Adras Forderung, deutsche Waffenlieferungen nach Israel auszusetzen. Dabei setzten sie Israelkritik weitgehend mit Antisemitismus gleich. Um den Inhalt des Films ging es längst nicht mehr, die öffentliche Debatte in Deutschland drehte sich lieber selbstgefällig um die eigene Achse und blockierte nuancierte Auseinandersetzungen mit einem ernsthaften Thema. Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, sagte treffend, es ginge bei der Debatte nicht um konstruktive Ideen, sondern nur um Symbolpolitik.
Berliner Hauptstadtportal: Film habe „antisemitische Tendenzen“
Am 12. November, kurz vor dem offiziellen Kinostart von „No Other Land“ taucht auf dem Berliner Hauptstadtportal berlin.de eine Filmbeschreibung auf, die streng genommen mehr Wertung als Beschreibung ist. Hier heißt es, der Film habe „antisemitische Tendenzen“ und „der Angriff der Hamas auf Israel findet in dieser Dokumentation keinen Niederschlag“.
Völlig losgelöst vom eigentlichen Inhalt des Films wird zum wiederholten Male der Fokus verzerrt. Das Leiden der palästinensischen Bevölkerung in Masafer Yatta, von dem der Film erzählt, wird zur Nebensache. Ungeachtet der Tatsache, dass es schlichtweg falsch ist, im Film werde nicht auf den 7. Oktober 2023 verwiesen, verwundert es mich, dass die Anforderung an einen Film aus Israel/Palästina nun pauschal die Erwähnung des 7. Oktobers 2023 zu sein scheint. Zur Einordnung: Der zeitliche Rahmen von „No Other Land“ bewegt sich zwischen 2019 und 2023, im Oktober 2023 wurde der Film fertiggestellt, im Epilog wird darauf verwiesen und die Folgen des 7. Oktobers für die Bewohner:innen von Masafer Yatta werden gezeigt.
Doch damit nicht genug. Den Film als antisemitisch zu bezeichnen, lenkt von der echten Gefahr des steigenden Antisemitismus ab. Zurecht empört sich Abraham, dass das Wort damit seiner Bedeutung entleert werde. Auch die Direktorin der Berlinale, Tricia Tuttle, meldet sich am Tag des Kinostarts zu Wort: Ihrer Meinung nach handele es sich nicht um einen antisemitischen Film. Dieser Vorwurf bringe die Filmemacher in Gefahr.
Ja, der Film zeigt eine bestimmte Perspektive auf die Besatzung, er ist aktivistisch und kritisch gegenüber Israels Besatzungspolitik. Und das ist okay, weil es sich um den persönlichen Blickwinkel Adras und Abrahams handelt. Antisemitisch ist er nicht.
Kritik an der Besatzungspolitik löst eine reflexartige Antisemitismusdebatte aus
Mittlerweile hat das Berliner Hauptstadtportal die Beschreibung korrigiert und darauf verwiesen, dass der Text von einem externen Dienstleister stammte und eine falsche Bewertung beinhaltete. Dennoch lässt das Narrativ, in dem die Debatte aus dem Februar nachhallt, tief blicken. Der Vorfall zeigt abermals, dass in Deutschlands Öffentlichkeit nicht etwa die Vertreibung tausender Menschen aus ihren Dörfern für Empörung sorgt. Der Aufschrei richtet sich stattdessen gegen Kritik und Widerstand an der Besatzung, ungeachtet menschenrechtlicher Grundsätze oder internationalen Rechts. Legitime Kritik an der Besatzungspolitik Israels im Westjordanland – auch von jüdischen Menschen kommend – löst eine reflexartige Antisemitismus Debatte in Deutschland aus, in der es weder um Palästinenser:innen, noch um Jüdinnnen und Juden in ihrer politischen Vielfalt geht. Das ist nicht fair, sondern gefährlich und wird der Komplexität der Situation nicht gerecht.
Der Kern des Films wird somit übersehen: Die Dokumentation eines friedlichen Widerstands gegen eine unerträgliche Situation, die seit Jahrzehnten eine Lösung sucht. Der Film verdient Aufmerksamkeit für das, was er abbildet und nicht für das, was andere in ihn hineininterpretieren. Ich frage mich, wie die Menschen in Masafer Yatta auf die Debatten blicken, die in Deutschland rund um den Film, der sie zeigt, geführt werden. Und ich weiß, sie haben andere Probleme.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.