30.04.2024
Popcorn und Kufiya
15 Jahre ALFILM. Foto: Jamil Zegrer
15 Jahre ALFILM. Foto: Jamil Zegrer

Das ALFILM in Berlin öffnet vom 24. bis 30. April seine Kinosäle. Die diesjährige Ausgabe legt erneut einen Fokus auf das palästinensische Kino und versucht, mit einem breiten Filmspektrum die komplexe Vielfalt der WANA-Region abzubilden.

Schallender Applaus dringt durch die Reihen. Im prall gefüllten Saal des Kino Arsenal am Potsdamer Platz hält es niemanden mehr auf den Sitzen. Es ist Mittwochabend, der erste Tag des arabischen Filmfestivals ALFILM, das alljährlich in Berlin stattfindet und in diesem Jahr in seine fünfzehnte Runde geht. Der Film „Bye Bye Tiberias“ soll gleich das Festival eröffnen, doch zuerst leitet die Festivalleiterin Pascale Fakhry mit einer flammenden Rede den Abend ein. Die gebürtige Libanesin kritisiert das derzeitige Klima in Deutschland. Sie findet scharfe Worte für die Zensur palästinensischer Stimmen und die Entfremdung arabischstämmiger Communitys. Sie spricht über Solidarität und den Wunsch, in Würde leben und sich entfalten zu können und trotzdem an der Seite Palästinas zu stehen. Die Stimmung ist elektrisierend. Das Klatschen im Saal scheint kein Ende zu finden.

Das ALFILM-Festival steht dieses Jahr unter dem Motto: „Here is Elsewhere: Palestinian Cinema and Beyond“. Eine bunte Mischung aus arabischen Filmen ist vertreten. Es werden sowohl zeitgenössische Filme als auch alte Klassiker gezeigt, von denen einige frisch restauriert sind. Das Festival bietet in seinem vielfältigen Sonderprogramm Kurzfilmabende, Podiumsdiskussionen und zwei Workshops von anerkannten Größen des arabischen Kinos. Ein Kino, das es besonders in Europa selten auf die Kinoleinwände schafft und stets um seine Sichtbarkeit kämpfen muss.

Im Eröffnungsfilm „Bye Bye Tiberias“ verarbeitet die französisch-palästinensisch-algerische Regisseurin Lina Soualem die Jugendgeschichte ihrer Mutter Hiam Abbas. Sie ist Schauspielerin und durch namhafte Produktionen wie Blade Runner 2049 oder Succession international bekannt geworden. Damals ließ Hiam Abbas ihre Mutter und Familie in Palästina zurück, um in Frankreich ihrem Traum einer Schauspielkarriere nachzugehen. Durch den intimen Blick einer Tochter, die ihre Mutter bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zur Seite steht, spüren wir einer gemeinsamen Vergangenheit nach. Es geht um Schuld, Trennung, Exil und die Frage, nachdem „was wäre, wenn?“, wie Soualem es selbst ausdrückt. Was wäre, wenn sie damals geblieben wäre? Mit neuen und alten Filmaufnahmen verwebt Lina Soualem die Geschichte einer ihr fernen und doch seltsam vertrauten Vergangenheit zu einem poetischen Familienporträt.

„Es war unglaublich herausfordernd, diese Festivaledition vorzubereiten“, erzählt Fakhry im Anschluss an die Eröffnung. „Wir stehen alle unter viel Druck und haben natürlich auch Angst vor Rückschlägen“. Das Thema Palästina hat sich in den letzten Monaten emotional stark aufgeladen. Bisher ist Fakhry aber sehr zufrieden mit der Resonanz. Laut Fakhry ist es die größte und am besten finanzierte Ausgabe in der 15-jährigen Geschichte des Festivals – auch jene mit den meisten Presseanfragen. Im letzten Jahr stand das palästinensische Kino ebenfalls im Mittelpunkt. „Eigentlich hatten wir nicht vor, einen neuen Fokus auf Palästina zu legen“, sagt Fakhry. Doch mit Beginn des Krieges sei es unmöglich erschienen, die palästinensische Frage auszuklammern. Dennoch verweist Fakhry darauf, dass bei jeder Ausgabe palästinensische Filme ins Programm Eingang finden, die mit ihrer Qualität überzeugen.

Palästina ist überall

Das Festival ist gut besucht. Besonders bei den palästinensischen Filmen verzögern lange Schlangen den ein oder anderen Filmstart. Über die Kinositze breiten die Gäste ihre Jacken und Kufiyas aus, im Dunkel tuscheln Menschen auf Arabisch. Viele der Filmschaffende sind selbst vor Ort und stehen nach Filmende für eine rege Diskussion bereit.

Der wohl bekannteste zeitgenössische Regisseur des palästinensischen Films, Elia Suleiman, konnte nicht persönlich dabei sein. Sein Film „Vom Gießen des Zitronenbaums“ (It Must be Heaven) ist hingegen bei ALFILM vertreten. Darin spielt sich Suleiman selbst auf der Suche nach Finanzierung für seinen neuen Film. Surreale Szenen spielen sich vor den Augen des Protagonisten ab, der im gesamten Film gerade mal vier Worte verliert. Drei davon „I am Palestinian“. In langsamen Einstellungen durchstreifen wir stumm die Städte Nazareth, Paris und New York. Suleiman, der in einer Szene als „der perfekte Fremde“ vorgestellt wird, erscheint dabei seltsam abgetrennt von seiner Umgebung. Plötzlich rollen Panzer über die kleinen Gassen in Paris, eine Gruppe Polizisten, die argwöhnisch einer verarmten Frau folgen und ein Obdachloser, den ein Krankenwagen mit Essen versorgt. Die Parallelen zu Suleimans Herkunft sind schwer zu ignorieren und die Anspielungen auf Militarisierung, Kriminalisierung und Hilfslieferungen unverkennbar. Es ist Ausdruck der „Palästinisierung der Welt“, wie es der Regisseur selbst bezeichnet. Der Konflikt seines Heimatlandes exportiert sich in die ganze Welt, auch weil sich die palästinensische Diaspora überall in der Welt verteilt und ihre Geschichten mit sich trägt.

„Das palästinensische Kino ist ein Kino der Diaspora“, sagt Iskandar Ahmad Abdalla. Er ist Teil des Spotlight- und Progammkuratoriums bei ALFILM. Die Themen des palästinensischen Kinos seien stets mit Verlust verbunden: Verlust des Landes und Verlust der Geschichte. Daher spielt die Erinnerung eine große Rolle. Palästinenser:innen müssen ihre Geschichten und Erinnerungen immer wiederholen, um am Leben zu bleiben und gegen das Verschwinden anzukämpfen, bekräftigt Rabih El-Khoury, Programmkurator und -koordinator bei ALFILM, im Gespräch mit Lina Soualem. Diese verweist dabei auch auf die Chance, die in der Diaspora liegt: Sie gebe einem die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden, während der stetigen Rückkehr zu seiner Geschichte und seinen Wurzeln. 

Der Blick von außen

Auch Regisseure des globalen Nordens sind vertreten. Dazu zählen schillernde Figuren wie der griechisch-französische Filmemacher Costa-Gavras mit seinem Film „Hannah K.“ und Jean-Luc Godard mit seinem Werk „Here and Elsewhere“ (Ici et Ailleurs).

Die Bearbeitung der palästinensischen Geschichte durch ausländische Regisseure hat im palästinensischen Kino Geschichte. „Dabei gibt es problematische und bevormundende Narrative“, sagt Abdalla insbesondere in Bezug auf das syrische und ägyptische Kino. Ein erfrischendes Gegenbeispiel präsentiert das Festival mit „The Dupes“ von Tewfik Saleh. Der 1972 erschienene und kürzlich restaurierte Film basiert auf einer Erzählung von Ghassan Kanafani, dem wohl bekanntesten palästinensischen Schriftsteller. Der Film entfernt sich dabei von dem Versuch, Palästinenser:innen als Opfer darzustellen. „Das war auch der Grund, weshalb Palästinenser sich damals von diesem Film repräsentiert sahen“, betont Abdallah. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmvorführungen endete diese Vorstellung ohne Applaus. Eine tiefe Erschütterung hatte den Saal nachhaltig zum Schweigen gebracht.

Kino für mehr Dialog

„Wir warten noch immer auf den Rest unserer Gäste“, teilt mir Abdallah nach dem Eröffnungsfilm sorgenvoll mit. Wie schon letztes Jahr ist die Einreise für viele der Filmschaffenden schwierig und unsicher. Für den aus Gaza stammenden Mohamad Jabaly ist das aufgrund seines norwegischen Visas kein Problem mehr. Sein langer und beschwerlicher Weg als „Staatenloser“ bis zu diesem wichtigen Stück Papier verarbeitet er in seinem neuesten Film „Life is Beautiful“. Der junge Jabaly wurde damals auf ein Filmfestival in Norwegen eingeladen. Währenddessen brachen kriegerische Auseinandersetzungen aus und eine Einreisesperre nach Gaza verhinderte seine Rückkehr. In ständiger Ungewissheit über seine Zukunft verzweifelt er langsam an seiner ausweglosen Lage. „Wir werden Gaza gemeinsam wieder aufbauen“, sagt Jabaly mit Blick auf die jüngsten Ereignisse. Der 34-Jährige plädiert für Frieden und für ein Ende der Gewalt. Dabei strahlt er eine bewegende Hoffnung aus. Genau wie sein Film, der es mehrmals schaffte, das Publikum zum Lachen und zum Weinen zu bringen.

Filme schaffen Austausch

Das ALFILM-Festival versteht sich als Plattform, die arabische Perspektiven auf die arabische Welt durch Filme bietet. Laut Fakhry ist die palästinensische Frage dabei zentral für die Konstruktion arabischer Identitäten. Das Festival möchte aber auch eine „Brücke zwischen Kulturen“ sein, betont sie. Es sei ein Ort des Austauschs und des Dialogs zwischen deutschen und arabischen Perspektiven und diene dazu, die Realitäten arabischer Gesellschaften sichtbar zu machen – auch innerhalb arabischer Gemeinschaften. Menschen aus der WANA-Region können hier einen Bezug zu ihrer Identität finden und vielleicht ein kleines Stück Heimat. 

Der Erfolg des Festivals in den letzten Jahren sieht Fakhry ein Stück weit in der Entwicklung arabischer Communitys in Deutschland. Lange Zeit war die arabische Diaspora in Deutschland geprägt von der prekären Situation von Geflüchteten und Gastarbeiter:innen, die stets um Aufenthaltsrechte und finanzielle Absicherung bangen mussten. Spätestens in den letzten zehn Jahren hat sich einiges verändert: sozialer Aufstieg war möglich und Kultur kein Luxusgut mehr. Der andauernde Erfolg des ALFILM-Festivals verdeutlicht, wie tief arabisches Leben inzwischen in der deutschen Gesellschaft verankert ist.

 

 

Jamil studiert Kulturwissenschaft und Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und beschäftigt sich theoretisch wie praktisch mit dem Medium Film. Er schrieb seine Bachelorarbeit über das algerische Kino. Nebenbei arbeitet er freiberuflich als Videograf, Journalist und Editor.
Redigiert von Hannah Jagemast, Dorian Jimch