NGOs und Hilfsorganisationen leisten wichtige Arbeit in WANA. Aber viele Projekte schaffen neue Abhängigkeiten und entpolitisieren soziale Bewegungen. Was nun? Ein Dossier zur Konferenz „Connecting Resistances II“.
Mit einer Ankündigung im August 2018 sorgte die US-Regierung von Donald Trump für internationales Aufsehen: 200 Milliarden US-Dollar werde sie der staatlichen Organisation für Entwicklungszusammenarbeit (USAid) für ihre Projekte in Gaza streichen. Und Gelder für das «Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten» (UNRWA) stelle sie komplett ein. Bis dato hatten die USA mit 364 Millionen Dollar den größten Beitrag eines einzelnen Staates zur Finanzierung der Organisation geleistet. Sie kümmert sich seit 1950 um die aus dem ehemaligen Mandatsgebiet Palästina geflohenen und geflüchteten Menschen und ihre Nachkommen in Westasien und Nordafrika (WANA).
„Vielleicht ist es eine Chance für die Palästinenser*innen, aufzuwachen”, kommentierte Fayrouz Sharqawi die kontroverse Entscheidung. Die Gelder für humanitäre Hilfe und Entwicklungsprojekte aus dem Ausland würden nicht zur politischen Lösung des Israel-Palästina Konfliktes beitragen. Sie würden vielmehr dazu dienen, den Konflikt zu verwalten und die lokale Bevölkerung ruhigstellen. Die Aktivistin aus Ost-Jerusalem diskutierte diesen und andere Punkte mit den Teilnehmer*innen der Konferenz „Donor Opium – Impacts of the Aid-System and Progressive Alternatives in West Asia and North Africa” vom 24. bis 26. Mai 2019.
Bereits zum zweiten Mal hatten die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Verein dis:orient Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen aus Westasien und Nordafrika, Europa und den USA eingeladen, um unter dem Label „Connecting Resistances” einen Ort für Vernetzung und Austausch zu schaffen. Das System der internationalen Hilfe bietet dafür reichlich Anknüpfungspunkte und betrifft die Veranstalter*innen auch ganz direkt:
Dis:orient berichtet regelmäßig über die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. In diesem Bereich arbeiten einige Mitglieder des Vereins und viele seiner Leser*innen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung kooperiert als Geberorganisation in Westasien und Nordafrika mit vielen Partnern und Projekten. Somit stellt die Konferenz auch eine Reflektion ihrer Arbeit dar.
Einige Überlegungen und Hintergründe der Konferenz möchte dieses Dossier vorstellen.
Internationale Hilfe in Westasien und Nordafrika – von alten und neuen Abhängigkeiten
Als sich die Vereinten Nationen (UN) und die mit ihr verbundenen Organisationen nach dem zweiten Weltkrieg gründeten, lag der Fokus ihrer Arbeit zunächst auf Europa. Die westlichen UN-Geberstaaten wendeten sich seit den 1960er Jahren verstärkt den Ländern des globalen Südens zu, von denen sich viele nach Jahrzehnten der Kolonialherrschaft im politischen und wirtschaftlichen Umbruch befanden. Der Kalte Krieg trug dazu bei, dass sie auch weiterhin ein Interesse daran hatten, ihren Einfluss im Süden geltend zu machen und ihn gemessen an ihrem eigenen Vorbild zu „entwickeln”.
Damit wurde der Grundstein für die heutige Entwicklungspolitik gelegt, an der sich neben internationalen Organisationen auch Staaten(bünde) und private Institutionen als Geldgeber*innen beteiligen.
Seit den 1970er Jahren knüpften Weltbank und IWF die Vergabe ihrer Hilfskredite an die Deregulierung und Privatisierung der Wirtschaft. Das hatte weitreichende Folgen für die lokalen Bevölkerungen: Die Rücknahme von Subventionen führten etwa in Ägypten, Tunesien und Marokko zu den so genannten Brotunruhen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. An der Einbindung in die neoliberale Wirtschaftsordnung hielten die internationalen Geber*innen jedoch fest. Die Strukturanpassungsprogramme (SPA) führten seit den 1980er Jahren schließlich immer mehr zu einem Wegfall staatlicher Leistungen. Dieses Vakuum füllten neben religiösen Wohltätigkeitsorganisationen internationale und lokale NGOs.
Je nach Ausrichtung übernehmen die NGOs damit eine Vielzahl an Funktionen innerhalb von Politik und Gesellschaft: Sie leisten humanitäre Hilfe in Notsituationen, bieten Bildungsprogramme an und versorgen die Bevölkerung mit Gütern des täglichen Bedarfs, ermöglichen rechtlichen Beistand zur Ermächtigung marginalisierter Bevölkerungsgruppen und führen Lobbyarbeit im Sinne der Menschenrechte durch. In den Augen vieler Geldgeber*innen des globalen Nordens gelten sie deswegen als bevorzugter Garant für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.[1] NGOs werden zudem meist mit einer funktionierenden Zivilgesellschaft gleichgesetzt.[2] Deswegen wird angenommen, dass sie mit Hilfe internationaler Gelder die Demokratisierung in autoritären Staaten vorantreiben.[3]
(De)Politisierung und NGOisierung von Widerstand
Mit Blick auf Westasien und Nordafrika ist das aber nur bedingt der Fall: Auch wenn es lokalen Lobby-NGOs in vielen restriktiven Staaten gelingt, nationale und internationale Aufmerksamkeit durch ihre Kampagnen zu erzeugen, oblag die politische Mobilisierung für Massenproteste im letzten Jahrzehnt anderen Organisationsformen. Ob nun bei den Protesten 2011[4] oder den aktuellen Demonstrationen in Algerien und Sudan: Gewerkschaften, Berufsverbände und teils lose organisierte Bewegungen von Aktivist*innen scheinen eher in der Lage zu sein, Menschen für das Einfordern von demokratischer Mitsprache sowie von politischen und wirtschaftlichen Rechte auf die Straße zu bringen.
Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen kritisieren hingegen, dass das vermehrte Auftreten von NGOs zu einer Depolitisierung und Deradikalisierung von Widerstand und sozialen Bewegungen beiträgt – ein Prozess, der unter dem Stichwort „NGOization” diskutiert wird.[5] Die Argumentation liegt auf der Hand: Übernehmen serviceorientierte NGOs immer mehr staatliche Funktionen, gibt es für die Bevölkerung keinen Grund mehr, diese von den Regierungen einzuklagen. Im Unterschied zu einem Staat, sind NGOs aber nicht den Empfänger*innen ihrer Leistungen Rechenschaft schuldig. In erster Linie gilt ihre Rechenschaft den Geldgeber*innen[6]. Diese wiederum sind meist nicht an radikalen Ansätzen zur Änderung des staatlichen und wirtschaftlichen Status Quo interessiert, sondern an der Stabilität.
Viele progressiv eingestellte NGOs befinden sich damit in einem Zustand der Ambivalenz: Auf der einen Seite wollen sie politische und wirtschaftliche Missstände neoliberaler Politik überwinden, reproduzieren diese aber gleichzeitig.[7]
Von neuen Klassen und wechselnden Richtlinien
Wenn Widerstand zu einem „9 to 5 job”[8] wird, sich also immer mehr professionalisiert, verändert sich zudem auch seine soziale Zusammensetzung der Gesellschaft: Neue sozio-ökonomische Klassen entstehen, deren Angehörige aufgrund ihrer Sprachkenntnisse und Bildung zwar Förderanträge für internationale Geldgeber*innen schreiben können – von den Lebensrealitäten der Menschen, die sie versorgen, sind sie aber meist weit entfernt.
Dazu tragen auch die Gehälter bei, die im Gegensatz zu reinem Aktivismus im Rahmen von NGO-Arbeit gezahlt werden. Internationale Gelder ermöglichen, dass viele Angestellte lokaler NGOs deutlich mehr verdienen als ihre Mitmenschen. Ganz zu schweigen von der Diskrepanz der Gehälter in internationalen NGOs, die zwischen lokalem und internationalem Personal bestehen und von vielen Teilnehmer*innen der Konferenz „Connecting Resistances” kritisiert wurden. Die Entstehung von neuen gesellschaftlichen Klassen wird demnach auch im Stadtbild von „Hilfs-Hotspots” wie Ramallah oder Gaziantep deutlich, in denen rings um den NGO-Sektor neue Industrien und Dienstleistungen entstehen, die zur Segregation von der lokalen Bevölkerung beitragen.
Für internationale Geldgeber*innen ist diese Institutionalisierung von Hilfe allerdings förderlich: Sie haben klare Ansprechpartner*innen, die sie – nach einem Abbild geschaffen – in unterschiedlichen Länderkontexten wiederfinden. Für Menschen, die jedoch nicht über die nötige Bildung verfügen oder sich nicht in die Organisationsform der NGO pressen lassen (wollen), ist es schwierig, internationale Förderung zu beziehen.
Diejenigen, die Förderung für projektbezogene Arbeit erhalten, sehen sich mit ständig wechselnden Richtlinien konfrontiert. „Mal liegt der Fokus auf Frauen, dann auf Jugend und neuerdings auf Entrepreneurship”, beschwerte sich etwa ein Teilnehmer aus dem Irak. Die Mitbegründerin einer syrischen NGO, die aus der deutschen und türkischen Diaspora heraus agiert, kann hingegen wenig mit den gender-spezifischen Projektvorgaben ihrer Geldgeber*innen anfangen. Sie kritisiert, dass lokalen Kontexten gesellschaftliche Konzepte aus den Geldgeberstaaten übergestülpt würden.
Viele Teilnehmende der Konferenz berichteten, wie NGOs binnen weniger Jahre ihre Zielgruppe und damit ihre Beschreibung ändern mussten, um weiterhin internationale Förderung zu beziehen. Damit lässt sich die Nachhaltigkeit von NGO-Arbeit nur schwer sicherstellen und lokal erarbeitete Konzepte finden kein Gehör, wenn sie nicht in bestimmte Raster passen.
Internationale Hilfe und NGOs: Viel Kritik. Was nun?
Die Liste der Kritikpunkte ist lang, die sich aus dem komplexen System der internationalen Hilfe mit seinen verschiedenen Akteur*innen zusammensetzen. Das Anliegen der Konferenz war aber nicht, eine reine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation mit all ihren Missständen zu liefern.
Ein solches auf-der-Stelle-treten ist angesichts der vielen wichtigen Funktionen, die internationale Hilfe und NGOs in Westasien und Nordafrika einnehmen, nicht nur anmaßend, sondern auch wenig solidarisch: In Ländern wie Ägypten sehen sich besonders progressive Menschenrechts- und Lobby-NGOs massiven Repressionen ausgesetzt, stellen dort aber eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten dar, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren.
Vielmehr stellte die Konferenz den Versuch dar, der Kritik an internationaler Hilfe konstruktiv zu begegnen und Alternativen zum bestehenden System aufzuzeigen. Anhand von Kurztexten und Interviews soll dies für die jeweiligen Länderkontexte skizziert werden:
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Riad Othman von medico international erklärt, was der Leitspruch der international agierenden NGO «Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden» im konkreten Kontext von Israel und Palästina bedeutet.
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Mohamadd Katoub von der Hilfsorganisation Syrian-American Medical Society (SAMS) berichtet von Strategien, um Druck auf die UN auszuüben und was es bei den Diskussionen über den Wideraufbau Syriens zu beachten gilt.
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Karin Mlodoch von der internationalen NGO Haukari e.V. verdeutlicht, wie man die Zusammenarbeit mit lokalen Partner*innen in irakisch-Kurdistan auf Augenhöhe gestalten kann.
- Aktivistin Fayrouz Sharqawi von «Grassroots Jerusalem» stellt eine Alternative zur Abhängigkeit von internationalen Geber*innen vor.
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[1] Kamat, Sangeeta (2004): The Privatization of Public Interest: Theorizing NGO Discourse in a Neoliberal Era, Review of International Political Economy, 11/1, pp. 155-176.
[2] Challand, Benoit (2014): Revisiting Aid in the Arab Middle East, Mediterranean Politics, 19/3, 281-298.
[3] Jad, Islah 2004): The NGOization of the Arab women's movements, Review of Women's Studies, 2, 42-56.
[4] Beinin, Joel (2014): Civil Society, NGOs, and Egypt’s 2011 Popular Uprising, South Atlantic Quarterly, 113/2, 396-406.
[5] Vgl. Alvarez, Sonia (1999): Advocating feminism: The Latin American Feminist NGO 'Boom', International Feminist Journal of Politics, 1/2, 181-209. & Jad, NGOization.
[6] Kamat. Privatization.
[7] Ismail, Feyzi & Sangeeta Kamat (2018): NGOs, Social Movements and the Neoliberal State: Incorporation, Reinvention, Critique, Critical Sociology, 44/4-5, 569-577.
[8] Roy, Arundhati (2014): The NGOization of Resistance, Speech at Democracy Now Conference 2014. Investigatin’Action 2018.