Glossar für Postkoloniale Begriffe

Zugegeben, viele der Begriffe rund um die Postkoloniale Theorie sind nicht immer einfach zu verstehen. Deshalb haben bringen wir in diesem Glossar die wichtigsten Definitionen  des Postkolonialismus knapp und verständlich auf den Punkt und erläutern, warum manche Begriffe nicht passend sind.

Die Begriffe wurden von Zaide Kutay illustriert.

Die Begriffe

Was ist das Problem am Begriff „Arabischer Frühling“? Der Begriff „Arabischer Frühling“ wird verwendet, um die unterschiedlichen Protestbewegungen zwischen 2011 und 2019 in Tunesien, Ägypten, Syrien, Libyen, Irak und weiteren Ländern WANAs zu beschreiben, die meist zum Ziel hatten, die bestehende Regierung zu stürzen. Warum ist der Begriff problematisch?

Es ist eine europäische Fremdbezeichnung, die – wenn überhaupt – erst im Nachhinein auch von Partizipant:innen der Bewegungen verwendet wurde. Frühling, angelehnt an den Begriff „Prager Frühling“, suggeriert, dass nach einem „langen Winterschlaf“ zum ersten Mal eine politische Bewegung erblüht, obwohl WANA eine lange Geschichte der Widerstandsbewegungen hat.

Der Begriff Arabischer Frühling impliziert, dass alle Staaten mit revolutionären Protestbewegungen gleich sind. Der Begriff „Arabisch“ ignoriert, dass WANA generell und die Protestbewegungen im Besonderen viele nicht-arabischen Gruppen umfasst. Kurd:innen im Irak... weiterlesen

Was ist das Problem am Begriff „Ehrenmord“? Der Begriff „Ehrenmord“ beschreibt einen Femizid (= die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts und Vorstellungen von Weiblichkeit) mit dem Tatmotiv einer Familienehre. Warum ist der Begriff im deutschen Diskurs problematisch?

Im deutschen Diskurs lagert der Begriff „Ehrenmord“ das Problem der Femizide auf eine „nicht-deutsche“ Gruppe aus und kulturalisiert es als spezifisch muslimisches Problem. Das lenkt davon ab, dass Gewalt gegen FLINTA* alle Teile der Gesellschaft umfasst. Die Ursache für Femizide ist keine Religion, sondern das Patriarchat.

Der Begriff „Essentialisierung“ beschreibt die Vorstellung, dass Menschen oder eine Kultur feste Merkmale besitzen. Diese sind, so die Vorstellung, naturgegeben, und damit nicht veränderbar. Das Gegenstück ist Konstruktivismus – dieser konzipiert menschliche Eigenschaften und Kultur als ein Produkt aus Normen, Werten und insbesondere Machtbeziehungen.

Orientalistische Vorstellungen von WANA basieren auf einer Essentialisierung: Beispielsweise werden Ereignisse vereinfacht mit Kultur oder Religion erklärt, während Hintergründe ausgeblendet werden. Die koloniale Vergangenheit und Gegenwart spielt für die gesellschaftliche Realität in WANA eine fundamentale Rolle, welche Essentialisierungen aber fast immer ignorieren.

So werden beispielsweise autoritäre Regime in WANA aus europäischer Perspektive damit erklärt, dass das „dort halt so ist“. Kolonialgeschichte oder aber... weiterlesen

Viele Vorstellungen basieren auf Annahmen, die aus einer europäischen Perspektive gedacht werden. Eurozentrismus beschreibt kritisch diese Zentrierung europäischer Konzepte, insbesondere in der Wissenschaft. Der Begriff thematisiert aber auch allgemein die Dominanz, die politische und gesellschaftliche Ereignisse in westlichen Ländern haben, während vergleichbare Situationen in nicht-westlichen Ländern kaum oder gar nicht beachtet werden.

Dipesh Chakrabarty beschreibt „Provincializing Europe“ als Strategie gegen Eurozentrismus. Dieser Ansatz betrachtet Europa von außerhalb, relativiert die Selbstwahrnehmung als Zentrum der Welt und setzt sie in einen historischen Kontext.

Oft argumentieren Menschen, „der Islam“ bräuchte eine Phase der Aufklärung, wie das Europa des 18. Jahrhunderts. Das blendet aber nicht nur die bestehende und historische Diversität theologischer Strömungen im Islam aus. Dieses Argument basiert auch auf der Annahme, alle Länder würden in ihrem... weiterlesen

Was ist das Problem am Begriff „Flüchtlingsstrom/ oder -welle“? Der Begriff „Flüchtlingsstrom“ oder „Flüchtlingswelle“ wird häufig für eine erhöhte Mobilität von Flüchtenden benutzt. Das Problem ist nicht nur die Darstellung von illegalisierten Migrant:innen als eine anonyme Masse, ohne individuelle Geschichten und Autonomie.

Das Framing von einem Strom oder einer Welle impliziert darüber hinaus eine falsche Vorstellung von Migration: Eine Welle oder ein Strom sind eine Naturgewalt, dessen Ursachen kaum bis gar nicht beeinflussbar sind. Ursachen für Migration hingegen sind immer im gesellschaftlichen Kontext verankert, beispielsweise durch ökonomische Ungleichheit oder Umbrüche, Kriege, oder die Klimakrise. Das blendet das Framing eines Stroms oder einer Welle aber aus. Dazu suggeriert die Darstellung von illegalisierter Migration als Strom oder Welle auch implizite Reaktionen: Vor einer Welle schützt man sich mit einer Mauer oder einem Deich und einen Strom lenkt man in... weiterlesen

Was ist das Problem am Begriff „Gastarbeiter:in“? Der Begriff „Gastarbeiter:innen“ beschreibt die Arbeiter:innen, die nach dem zweiten Weltkrieg bis 1973 unter den Anwerbeabkommen nach Deutschland migriert sind. Das Wort „Gastarbeiter:in” ist irreführend, da es einen vorübergehenden Aufenthalt als Gast in Deutschland suggeriert und Arbeitsmigrant:innen außerhalb der deutschen Gesellschaft positioniert. Praktisch leben viele Arbeitsmigrant:innen in der mehr als dritten Generation in Deutschland und sind selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft. Der Begriff „Gastarbeiter:in“ blendet dabei die Realität Deutschlands als Einwanderungsland aus.

Was ist das Problem am Begriff „Islamische Welt“? Der Begriff „Islamische Welt“ suggeriert eine abgeschlossene Region mit dem Islam als die wichtigste gesellschaftliche Dimension. Außerdem macht der Ausdruck die religiöse Vielfalt in Westasien/Nordafrika (WANA) unsichtbar. Neben dem Islam sind eine Vielzahl an religiösen Traditionen in WANA verankert. Beispielsweise spielen koptische Christ:innen in Ägypten eine wichtige Rolle, ebenso sind jüdische Communities in einer Vielzahl von Ländern in WANA vertreten. Aber auch indigene nicht-monotheistische Religionen sind Teil von WANA.

Alternative Begriffe sind beispielsweise die „mehrheitlich islamische Region“ oder „mehrheitlich islamische Länder“ sie sind weniger homogenisierend. Noch besser ist in den meisten Fällen einfach „Westasien/Nordafrika“ zu sagen, denn die... weiterlesen

Was ist das Problem am Begriff „Kulturkreis“? Der Begriff „Kulturkreis“ nimmt an, dass die Welt in verschiedene Regionen abgegrenzt werden kann, die eine jeweils feste Kultur besitzen. Dieses Konzept geht maßgeblich auf Samuel P. Huntington zurück, der die Welt in unvereinbare und miteinander im Konflikt stehende Regionen aufteilte. Das ist längst widerlegt, die Vorstellung von Kulturkreisen besteht aber fort.

Die Vorstellung von Kulturkreisen ignoriert, dass Regionen und Kulturen heterogen sind und sich in historischen sowie aktuellen Prozessen verändern. Sie blendet die vielfältigen Verflechtungen der Welt von Handel bis Kolonialismus aus. Auch sieht die Vorstellung Kultur als gegeben, und nicht als wandelnd und kontextabhängig an.

Alternative Begriffe: Keine. Erkläre Länder und Regionen nicht einfach mit „Kultur“!

Was ist das Problem am Begriff „Menschen eine Stimme geben“? Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen und Perspektiven sind in der Öffentlichkeit gleich sichtbar. Teilweise gibt es daher das Bestreben, anderen „Menschen eine Stimme zu geben“. Dieser Begriff, oft gut gemeint, macht aber die Gründe für die fehlende Sichtbarkeit unsichtbar und ist daher unpassend.

Das eigentliche Problem heißt Marginalisierung: Mehrfach diskriminierte Gruppen sind in der Öffentlichkeit häufig kaum sichtbar. Ihnen fehlt die Diskursmacht, um selbstbestimmt ihre Perspektiven einzubringen, und dabei auch in ihrem Sinne verstanden zu werden. Das Problem ist also nicht eine fehlende Stimme, sondern ein ungleicher Zugang zu gesellschaftlicher Macht.

Die Idee, „Menschen eine Stimme geben“ ignoriert diese Machtasymmetrie und stellt die Personen, die für die Marginalisierten sprechen, als Retter:innen dar. Besser ist es, marginalisierten Personen selbst die Bühne zu geben, um selbstbestimmt zu... weiterlesen

Der sogenannte Orient beschreibt Westasien und Nordafrika – WANA – als eine homogene Region mit festen Merkmalen. In der Realität ist WANA natürlich, wie jede andere Region der Welt, vielfältig und geographisch nicht klar abtrennbar.

Praktisch würde kaum jemand Europa als eine feste Kultur beschreiben, in welcher der bayerische Bauer und die spanische Businessfrau gleiche Werte, Normen und Alltag teilen. Die Idee eines „Orients“ täuscht aber eine kulturelle Homogenität vor.

Historisch sind Vorstellungen vom „Orient“ durch kulturelle Repräsentation gewachsen. Von Kinderfilmen wie „Aladin“ bis zu tagespolitischer Berichterstattung mit Fokus auf Kriegen und Konflikten werden unter der Kategorie „Orient“ gesellschaftliche Stereotype produziert, die das Denken im Alltag prägen.

Der Begriff Orientalismus wurde in seiner heutigen Bedeutung von dem palästinensisch-amerikanischen Denker und Autor Edward Said in dem „Orientalismus” zum ersten Mal beschrieben. Er begreift unter Orientalismus die Denkweise, die zwischen „dem Orient" und „dem Okzident", beziehungsweise Westen unterscheidet.

Das beinhaltet sowohl verallgemeinert ablehnende Haltungen gegenüber WANA als auch Romantisierungen und Fetischisierungen von Menschen, Kultur und Orten WANAs. Auch übersteigertes Mitleid und Viktimisierung sind oft Ausdruck von Orientalismus.

Praktische Beispiele sind Reisende, die vornehmlich Menschen in traditioneller Kleidung fotografieren, weil diese das eigene Verständnis von „echter Kultur” bedienen. Aber auch die plötzliche Beliebtheit von Filmen und Büchern zu WANA, die den Ort aber nur als Krieg oder Tragödie darstellen, ist ein Ausdruck von Orientalismus.

Der Begriff „Othering“, auf Deutsch anders machen / als eine:n Andere:n verstehen, beschreibt die gedankliche Distanzierung von Gruppen und ihren Mitgliedern. Diese werden als „anders“ abgegrenzt.

Als „anders“ verstandene Personen oder Orte werden so durch eine Linse des „Andersseins“ verstanden und beurteilt. Gängige Kategorien, in die Menschen als „anders“ einsortiert werden, sind Religion, Hautfarbe, oder Wertvorstellungen. Wer als „anders“ angesehen wird, hängt stark von der Machtverteilung einer Gesellschaft ab: Insbesondere weiße Menschen setzen ihre Werte und Normen als normal voraus und betrachten Abweichungen als „anders“.

Diese Zuschreibungen des „Andersseins“ stimmen oft nicht damit überein, wie sich die Menschen selbst identifizieren. Auch kann das „Othering“ sich auf Räume beziehen – so wird WANA teils als „anders“ zu Westeuropa dargestellt. Genauso werden aber auch Gruppen innerhalb einer... weiterlesen

Der Begriff „postmigrantisch“ thematisiert die Aushandlungsprozesse in einer durch Zuwanderung geprägten Gesellschaft. „Post-“ bedeutet nicht, dass die Zuwanderung abgeschlossen ist. Es lenkt vielmehr den Fokus auf die Prozesse nach der erfolgten Migration, insbesondere das Einfordern von Gleichberechtigung und Teilhabe durch ehemalige Migrant:innen.

Anstelle der Kategorie „Deutsch“ und „Nicht-Deutsch“ rücken in der postmigrantischen Gesellschaft Fragen der (Un-)Gleichheit ins Zentrum. „Postmigrantisch“ umfasst demnach nicht nur Fragen der (ehemaligen) Migration und Inklusion, sondern beschreibt das umfassende Ringen um eine gleichberechtigte Gesellschaft.

Die Idee von einem „Ressourcenfluch“ behauptet, dass Länder gerade wegen des Rohstoffreichtums unter Armut, Korruption und Autoritarismus leiden. Das Problem dabei: Ausbeutungsverhältnisse, wie (Neo-)Kolonialismus, werden ignoriert und das Problem auf die Existenz der Rohstoffe geschoben.

Dabei gibt es kein Naturgesetz, dass Rohstoffvorkommen zu Korruption und Autoritarismus führen. Ein solches Argument würde zum Beispiel kaum jemand auf die Kohlevorkommen Deutschlands anwenden. Es gibt dabei auch politisch-ökonomische Argumente, dass der Rohstoffexport den realen Wechselkurs erhöht und dadurch Armut begünstigt wird. Eine einfache Kausalität ist dennoch unter Expert:innen umstritten.

Anstelle dieser verkürzten Erklärung eines „Ressourcenfluchs“ sollte das Augenmerk darauf liegen, welche regionalen und globalen Mächte, aber auch Unternehmen, von dem Rohstoffexport profitieren und wie sich das auf die politischen Entwicklungen im jeweiligen Land auswirkt.

Romantisierung oder Fetischisierung beschreibt die positive Assoziation von nicht-weißen Menschen oder Gesellschaften aufgrund von ihr zugeschriebenen Eigenschaften. Während die meisten orientalistischen Vorurteile negativ behaftet sind, fallen einige auch vermeintlich positiv aus.

Im WANA-Kontext wird beispielsweise das Essen oft als exotisch gelobt, aber auch Menschen werden aufgrund ihrer „Andersheit“ als begehrenswert betrachtet – fetischisiert. Trotz der oberflächlich positiven Assoziation stecken dahinter Vorstellungen, die Menschen und Kulturen objektivieren und verallgemeinern.

Romantisierung kann aber gesellschaftliche Missstände schönreden. Prekäre Lebenswelten können beispielsweise als besonders authentisch glorifiziert werden, ohne die Bedürfnisse der betroffenen Personen oder zugrunde liegende Gründe für Armut, beispielsweise Ausbeutung und neokoloniale Strukturen, zu thematisieren.

Romantisierungen und Fetischisierungen können aber auch mit... weiterlesen

Der Begriff WANA, manchmal auch SWANA, steht für (Süd-)Westasien und Nordafrika. Er ist eine Alternative für den Begriff MENA – „Middle East/North Africa“, „Arabische Welt“, „Islamische Welt“ oder „Orient“. Warum sind diese Begriffe nicht geeignet?

MENA beinhaltet „Middle East“, auf Deutsch würde man „Naher Osten“ sagen. Diese Bezeichnung ergibt nur aus einer europäischen Perspektive Sinn, denn für Zentralasien wäre die Region eher der „Nahe Westen“. Der Begriff WANA ergibt aus allen geographischen Perspektiven Sinn, nicht nur aus Europa.

Der Name „Arabische/Muslimische Welt” setzt eine homogene Region voraus, in der ausschließlich Muslim:innen oder Araber:innen leben. Das ist realitätsfern, denn WANA ist viel diverser. Aber auch die Idee, eine Region mit einer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit zu beschreiben, ist absurd. „Orient“ – der Name selbst sagt es... weiterlesen