21.02.2024
Sprachliche Gewalt in Kurdistan: Wenn die Muttersprache verboten ist
Auch in Bashur erfahren Kurdisch sprechende Schüler:innen trotz der Autonomie irakisch-Kurdistans Diskriminierung. Foto: Rebaz Majeed
Auch in Bashur erfahren Kurdisch sprechende Schüler:innen trotz der Autonomie irakisch-Kurdistans Diskriminierung. Foto: Rebaz Majeed

In der Türkei sprechen die Hälfte der jungen Erwachsenen aus kurdischen Familien kein Kurdisch – das Ergebnis jahrzehntelanger Unterdrückung. Zentral für die Ausübung sprachlicher Gewalt ist die Schule. Berichte aus vier Regionen Kurdistans.

Katastrophenschutz, humanitäre Hilfe, rechtliche, medizinische und psychologische Versorgung – Sprachliche Gewalt gibt es in vielen Bereichen. Einer der intergenerational bedeutendsten Orte ist dabei jedoch das Schulsystem. Das gilt für viele Kulturen und Kontexte, in denen es zu Gewalt gegenüber marginalisierten oder indigenen Sprachen kommt. Auch in Kurdistan ist das Bildungssystem zentral für das kontinuierliche Auslöschen kurdischer Identität und Kultur.

Wenngleich Form und Grad der Unterdrückung von Kurdisch an Schulen in den vier Regionen Kurdistans variieren, erfahren Schüler:innen überall Diskriminierung, Unterdrückung und sogar Bestrafung, wenn sie ihrer kurdischen Identität Ausdruck verleihen. Kurdische Schüler:innen wie Lehrer:innen aus den vier Regionen berichten von Erfahrungen mit sprachlicher Gewalt an Schulen.

Bakur (innerhalb türkischer Staatsgrenzen) – Kurmandschi und Zazakî

„Aufeinanderfolgende türkische Regierungen haben das Unterrichten der kurdischen Sprache als spaltende, existenzielle Bedrohung betrachtet und nicht als ein Instrument der Einheit und ein Symbol der reichen Vielfalt des türkischen Staates.“ – Georgetown Journal of International Affairs

In der Türkei ist es grundsätzlich illegal Kurdisch als Unterrichtssprache zu verwenden. Artikel 42 der türkischen Verfassung verbietet das „Beibringen einer anderen Sprache als Türkisch als Muttersprache für türkische Staatsbürger in einer Bildungseinrichtung“. Während die Einschränkungen des kurdischen Sprachunterrichts in den letzten zehn Jahren etwas gelockert wurden, folgten auf jeden Fortschritt schnell Rückschläge. Das führte 2013 zur Schließung der wenigen kurdischen Bildungseinrichtungen, die nur für kurze Zeit in Betrieb waren. Manche Schulen trotzen den Verboten, indem Lehrer:innen in Privatwohnungen unterrichten, sogar unter der Gefahr, verhaftet und als Terrorist:in gebrandmarkt zu werden.

„Stell dir vor, du bist ein Kind und wächst mit deinen Eltern in einem Dorf auf, in dem alle dieselbe Sprache sprechen, aber wenn es um deine Ausbildung geht, lernst du in einer Sprache, die du noch nie zuvor gehört hast“, sagt Rojda Arslan, eine Zazakî-Sprecherin. „Die Kinder wurden gezwungen, schwierige Aufgaben zu lösen, Mathe, Physik und andere Fächer in der dominanten Sprache zu lernen.“

Den kurdischen Kindern die Ausbildung in ihrer Muttersprache zu verwehren, führt zu schlechten Leistungen, niedrigem Selbstbewusstsein und anderen negativen Folgen. Das bestätigen mehrere Gesprächspartner:innen. Jiyan*, eine Kurmandschi-Sprecherin und Lehrerin aus Bakur, erzählt von ihren Erfahrungen mit kurdischen Schüler:innen während des Erdbebens im Februar 2023 in der Türkei und Syrien:

„Ich habe meine eigene kurdische Identität offen gezeigt und so eine Verbindung ermöglicht, die ihnen bei der Integration half. Noch komplizierter wurde es, als die Schüler:innen anfangs zögerten, ihre kurdische Identität preiszugeben. Die Angst vor Ausgrenzung und das Unwohlsein, die einzigen Kurd:innen in einer Privatschule zu sein, lasteten schwer auf ihnen.“

„Wir mussten eine Erklärung vorlesen, dass wir Türkisch sind“

Wie diese Schüler:innen, erlebte Sevim Zelal Tombul Unterdrückung ihrer Muttersprache, als sie in der Türkei zur Schule ging:

„Meine Muttersprache ist Nordkurdisch (Kurmandschi), Türkisch habe ich erst in der Schule gelernt. Unsere Lehrer:innen waren türkisch; sie sprachen kein Kurdisch und es gab keine Lehrassistenz für kurdische Schüler:innen. […] Wir waren gezwungen jeden Morgen eine Erklärung vorzulesen, dass wir Türkisch sind. Uns war bewusst, dass wir Kurd:innen waren, die Kurmandschi sprechen, aber man hatte uns gewarnt, nichts zu sagen, sonst würden wir Ärger bekommen.“

Sevims Geschichte zeigt, wie die türkische Sprache als Waffe eingesetzt wurde, um nicht nur das gesprochene Kurmandschi zu unterdrücken, sondern auch die kurdische Selbstidentifikation der Schüler:innen. Untersuchungen haben ergeben, dass nur wenige Kurd:innen Kurdisch sprechen, lesen oder schreiben können, obwohl sie etwa ein Fünftel der türkischen Bevölkerung ausmachen. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 beherrschen weniger als die Hälfte der Befragten im Alter von 18 bis 30 Jahren ihre Muttersprache.

„Die Wahrnehmung der kurdischen Sprache als gefährlich hat für Generationen von Kurd:innen in der Türkei schwerwiegende Folgen beim Zugang zu ihren Grundrechten […] gehabt. Kurd:innen sind seit langem systematischer Unterdrückung und Segregation innerhalb des Bildungssystems und der Gesellschaft ausgesetzt. Mehr als zwanzig Millionen Kurd:innen wurde ihr Menschenrecht auf Bildung in ihrer Muttersprache genommen, das die internationalen Menschenrechtsgesetze vorschreiben.“ – Georgetown Journal of International Affairs

Rojava (innerhalb syrischer Staatsgrenzen) – Kurmandschi

Tavge*, eine Lehrerin, Übersetzerin und Kurmandschi-Sprecherin aus Rojava in Syrien, floh vor dem Syrischen Bürgerkrieg 2011 mit ihrer Familie nach Bashur (Kurdistan im Irak). Da ihr der Zugang zu Unterricht auf Kurdisch verwehrt war, lernte Tavge* Kurmandschi von ihren Eltern:

„Ich hatte an der Schule nie Unterricht auf meiner Muttersprache, da die Schulsprache Arabisch war, unsere Muttersprache in der Schule zu sprechen nicht erlaubt [und] ich immer Gewalt und Hass meiner Mitschüler:innen ausgesetzt war.“

Bashur (innerhalb irakischer Staatsgrenzen) – Sorani und Kelhorî

Nach Jahren des politischen Kampfes, wurde Sorani 2005 in Bashur Amtssprache. Dennoch sind Kurd:innen im Irak weiterhin Sprach-bezogener Gewalt im Alltag ausgesetzt.
Sarah Ali Mohammad Amin ist eine College-Studentin und Sorani-Sprecherin aus der Stadt Kirkuk, die in der irakischen Verfassung als umstrittenes Gebiet zwischen der Region Kurdistan und der irakischen Regierung gilt. Ihre Erfahrungen mit Gewalt gegen die kurdische Sprache gehen auch auf ihr Universitätsstudium zurück.

„In den Universitäten halten Professoren ihre Kurse vorwiegend auf Arabisch, was für Kurd:innen, die die Hälfte aller Studierenden ausmachen, eine große Herausforderung darstellt. Die Folge ist, das kurdische Eltern ihre Kinder mittlerweile auf arabische Schulen schicken, um ihnen das Universitätsstudium zu erleichtern. Das mag für manche unbedeutend erscheinen, ist aber ein großes Problem für die Studierenden. Sie haben Schwierigkeiten, in ihrer Muttersprache zu lesen und zu schreiben."

Rojhelat (innerhalb iranischer Staatsgrenzen) – Sorani, Kurmandschi und Hewramwî

Während das iranische Regime die kurdische Community öffentlich lobt, um sich ihre Unterstützung zu sichern, werden kurdische Lehrer:innen und Aktivist:innen fast täglich überwacht, schikaniert und verhaftet. Manche kurdische Sprachaktivist:innen kamen nicht lebend aus dem iranischen Strafsystem heraus.

Einer von ihnen, dessen Andenken unter Kurd:innen und progressiven Iraner:innen weiterlebt, ist Ferzad Kemenger. Die Islamische Republik beschuldigte den kurdischen Grundschullehrer der moharebeh, des „Kriegs gegen Gott“. Während seiner vierjährigen Haft in iranischen Gefängnissen wurde er gefoltert und unter Druck gesetzt, Vergehen zu gestehen, die er nicht begangen hatte.

Briefe aus dem Gefängnis

Dennoch schrieb Kemenger im Evin Gefängnis über seine Sprache und Identität. Seine letzten, herausgeschmuggelten Briefe, fragten: „Ist es dort, wo eine Dürre von Recht und Gerechtigkeit herrscht, möglich Lehrer zu sein und nicht das Alphabet der Hoffnung und Gleichheit zu lehren?“. Kemenger wurde 2010 durch den Strang hingerichtet.

Gordyaen Jermayi ist Menschenrechtsaktivist aus der Stadt Urmia, in der die Mehrheit der Bevölkerung Kurmandschi spricht und sich selbst Sorani beibringt. Seine Erfahrungen als Jugendlicher brachten ihn zu seinem heutigen Kampf für Sprachgerechtigkeit.

Alles, was nicht persisch ist, gilt als „unzivilisiert“

„Wir lernen Kurmandschi von unseren Familien, Sorani lernte ich online und von Mitschüler:innen. Die andauernde Gewalt geht über die Unterdrückung der kurdischen Sprache hinaus, bis zur Darstellung aller nicht-persischen Sprachen als ‚unzivilisiert‘. Die Behörden drängen auf perfektes Persisch in den Schulen und setzen Leistung mit Bildung gleich. Dieser Zwang wirkt sich auf alle Aspekte unseres Lebens aus.“

Gordyaen kennt viele Online-Ressourcen zum Erlernen der kurdischen Dialekte, darunter Online-Lernplattformen, Apps, Podcasts und Online-Wörterbücher. „Diese Art der Ressourcen können helfen, die kurdische Sprache zu erhalten, sind aber nicht perfekt. Kurdisch muss Teil des Bildungssystems werden, um wirklich geschützt zu sein“, sagt Gordyaen.

Das Erdbeben in Syrien und der Türkei im Jahr 2023 brachte die tief verwurzelten Muster der Diskriminierung und Vernachlässigung der kurdischen Sprache ans Licht. Sie haben zum Ausmaß der Zerstörung beigetragen, die die kurdischen Gemeinschaften unverhältnismäßig stark traf.

Die systematische sprachliche Gewalt inklusive der Unterdrückung kurdischer Identität an Schulen geht jedoch weit über das Erdbeben hinaus und war über die letzten Jahrzehnte ein Merkmal der Bildung in ganz Kurdistan; trotzdem kämpfen junge Kurd:innen weiter für Gerechtigkeit.

* Einige Namen wurden geändert, um die Privatsphäre und Sicherheit der Projektteilnehmer:innen und ihrer Angehörigen zu schützen. Vor dem Hintergrund, dass mehrere kurdische Namen in ganz Kurdistan von den Besatzungsregimen verboten wurden, weisen wir darauf hin, dass wir uns für die Verwendung von verbotenen Namen entschieden haben.

Dieser Artikel erschien im Englischen Original als Teil des „Kurdish Storytelling“ Projektes der NGO Respond – Crisis Translation. Im Rahmen des Projekts sind unter dem Titel „Ein Jahr nach dem Beben: Linguizid und Resilienz der kurdischen Sprache“ noch weitere Texte auf Englisch erschienen, in denen Kurdisch-Sprecherinnen aus Kurdistan und der Diaspora zu Wort kommen. In den Texten geht es um die Schwierigkeiten des Zugangs zur kurdischen Sprache während des Erdbebens 2023 und anderer Katastrophen, um die Bedeutung der kurdischen Sprache für die kurdische Identität und die Geschichte der antikurdischen Politik und des kurdischen Völkermords. Außerdem befasst sich das Projekt mit der Diskriminierung und Zwangsassimilierung kurdischer Menschen, und den Bemühungen und Forderungen, die Sprache vor dem Aussterben zu bewahren.

 

 

 

Raman ist der Leiter des kurdischen Sprachenteams bei Respond Crisis Translation. Er absolviert derzeit seinen Master in Interdisziplinären Nahoststudien an der Freien Universität Berlin. In seinem Heimatland arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und unterrichtete an einer Oberschule. Außerdem sammelte Raman Erfahrungen als Dolmetscher...
Redigiert von Jana Treffler, Hannah Jagemast
Übersetzt von Jana Treffler