Bei deutschen Debatten über Israel und Palästina lernt man wenig über den Nahen Osten, aber viel über Deutschland. Besonders deutlich wird das in den Reaktionen auf den Krieg von 1967. Ob im Hause Springer oder im Kopf Ulrike Meinhofs: Überidentifikationen mit der einen oder anderen Seite lassen sich interpretieren als Formen der Schuldabwehr.
Westdeutschland hatte Anteil an Israels Sieg im Junikrieg. Die Bundesrepublik belieferte Israel seit den späten 50er Jahren mit leichten Waffen. Ab 1962 kamen großkalibrige Geschütze dazu, außerdem U-Boote, Hubschrauber und Schnellboote. 1964 begann die BRD auf amerikanischen Druck hin, auch Panzer kostenfrei nach Israel zu liefern. Die deutschen Waffenlieferungen müssen im Gesamtkontext der Aufbauleistungen für den israelischen Staat gesehen werden. Durch sukzessive Lieferungen von Rohmaterialien, Fertigungsanlagen, einer Handelsflotte usw. leitete der Reparationsvertrag von 1952 ein gezieltes Modernisierungsprogramm der israelischen Wirtschaft ein. Dazu kamen geheime Entwicklungskredite in den 60er Jahren.
Vergleicht man diese Aufbauleistungen mit denen der USA und Frankreich, dann wird klar, dass die BRD bis 1967 die zentrale Schutzmacht Israels war. Erst nach dem Sechstagekrieg wurde diese Rolle von Washington übernommen. Nun war die Bundesrepublik zu dieser Zeit noch stark von der NS-Vergangenheit geprägt. Unzählige Altnazis, Kriegsverbrecher und sonstige Mitläufer fanden sich nach 1949 in den Institutionen des Adenauer-Staates wieder. Ehemalige Nationalsozialisten waren in hohen gesellschaftlichen Funktionen, teilweise gar im Kanzleramt, in der Presse und als Kulturschaffende vertreten. Von einer Gesellschaft, die bis vor Kurzem noch mit überwältigender Mehrheit Hitler in den totalen Krieg folgte, ließ sich nach 1945 kein grundsätzlicher Wandel erwarten. Wie erklärt sich also das scheinbare Paradox, dass gerade die Bundesrepublik entscheidende Aufbauhilfe für den israelischen Staat leistete?
Gründe der westdeutschen Israelpolitik
Die in Politik und Forschung beliebte These, dass moralische Gründe die deutsche Hinwendung zu Israel erklären, überzeugt schon aufgrund der wohldokumentierten NS-Kontinuitäten nicht. Einleuchtender erscheint dagegen, dass jene Hinwendung dem Bedürfnis entsprang, sich von der Vergangenheit rein zu waschen, ohne diese Vergangenheit konfrontieren zu müssen. Eleonore Sterling, Shoah-Überlebende und frühe Antisemitismusforscherin in der Bundesrepublik, schrieb 1965 in der Zeit, dass die westlichen Mächte Westdeutschland auf Grund der nahen NS-Vergangenheit misstrauisch gegenüberstünden. Weil sich Demokratie und Humanität nicht von selbst bezeugten, so Sterling, bediente sich die Bundesrepublik der „Symbole und Ersatzhandlungen“, darunter ein „fleißig propagierter Philosemitismus“, der „weniger mit Juden“ und mehr mit „Staatsräson und Außenpolitik“ zu tun hätte. Die emotionale Anteilnahme der westdeutschen Presse am israelischen Kriegserfolg 1967 lässt sich im Sinne Sterlings als eine philosemitische Ersatzhandlung verstehen. In der Begeisterung und Überidentifikation mit Israel, die die damalige Berichterstattung über den Nahostkrieg prägte, zeigte sich, was gesellschaftlich, politisch und letztlich individuell-biographisch nicht aufgearbeitet war.
Die Westdeutsche Presse und der Nahostkrieg: ,Israelische Wehrmacht’ und ,Arabische Nazis’
„SIEG! Dajan — Der Rommel Israels“ titelte damals die Bild-Zeitung. Auch Spiegel-Gründer Rudolf Augstein schrieb, dass die israelischen Soldaten „rollten wie Rommel“ – auf dem Spiegel-Titel damals: "Israels Blitzkrieg". Augstein wusste um den deutschen Beitrag zum israelischen Kriegserfolg: „Voraussetzung für den Blitzsieg im Blitzkrieg war eine schlagkräftige Panzertruppe. Die Waffen für diese Truppe hatte die Bundesrepublik vor zwei Jahren in einem Dreiecksgeschäft mit den USA und Italien geliefert.“
Fünfzig Jahre später stolpert man über solche Gleichsetzungen. Man muss sich darüber klar sein, dass Bonn damals noch von Verbrechen sprach, die ‘im Namen des deutschen Volkes’ verübt worden sind. Die deutsche Gesellschaft sah sich selbst als Opfer. Der Wehrmacht wurde keinerlei Schuld zu gesprochen. Ganz im Gegenteil: der Vergleich zwischen Wehrmacht und israelischer Armee verstand sich als Kompliment. Die Judenvernichtung, wenn man sie überhaupt thematisierte, wurde allein Hitler und seinem innersten Zirkel zugeschrieben. Die Kriegskonstellation im Nahen Osten machte damit zwei aufeinander aufbauende Methoden der deutschen Schuldabwehr möglich. Zum einen konnte sich die westdeutsche Presse mit den Überlebenden der eigenen Verbrechen identifizieren, wodurch der Täter/Opfer Gegensatz verwischt wurde. Zum anderen konnte die Rolle der wahren Nazis in diesem Projektionsspiel den arabischen Staaten zugedacht werden.
Wir wissen heute, dass trotz der grauenhaften Drohungen mancher arabischer und palästinensischer Politiker Israels Existenz im Jahre 1967 nicht in Gefahr war. Dem israelischen Militär und den NATO Staaten war die militärische Überlegenheit Israels über Nassers Ägypten bewusst. In der israelischen Gesellschaft jedoch existierte, aus allzu nachvollziehbaren Gründen, reale Angst vor einem zweiten Genozid. Tom Segev zeigte in seiner beeindruckenden Studie Die Siebte Million, wie sich jene Angst aus der nahen Vergangenheit speiste und diese Vergangenheit auf die ohnehin schon harsche Realität des Nahen Osten projiziert wurde. Doch auch die westdeutsche Öffentlichkeit sprach von drohender Vernichtung. Freilich waren die Gründe bei den Tätern und ihren Nachkommen andere als bei den Überlebenden. Die auflagenstarke Stuttgarter Zeitung schrieb am ersten Juni auf der ersten Seite: „Wenn die deutsche Öffentlichkeit wieder versagen sollte, würden die zurückliegenden Verbrechen und ihre Folgen abermals auf sie zurückfallen.“ In der Welt las man am sechsten Juni:
„Die Welt begann, sich zu erinnern. Deutschland brauchte es nicht. Wir kennen die Gräber in Europa, über die in 25 Jahren kein Gras gewachsen ist. Durch Deutschland ging in jenen Tagen der Bedrohung und des Kriegsbeginns ein Erstarren. Für uns waren die Haßtiraden des Senders Kairo wie ein Blick in den Spiegel unserer jüngsten Vergangenheit […] Wer bis dahin noch glauben mochte, Auschwitz und der Staat der Juden seien zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun hätten, erfuhr jetzt seinen Irrtum in einer unausweichlichen Erschütterung des Gewissens. Wenn alles geschehen durfte, dies durfte nicht geschehen, daß die Überlebenden von Hitlers Massakern in ihrer alten Heimat ausgelöscht würden.“[1]
Am 10. Juni stand in derselben Zeitung, dass Kairo „dem Volk der Juden die totale Vernichtung“ angedroht hatte. Es wäre, so der Artikel weiter, „ein Verhängnis“ gewesen, wenn die Westdeutschen keine Solidarität mit Israel gezeigt hätten. Der Krieg habe wie „ein reinigendes Gewitter“ auf „Dunst und Schwüle ungereinigter Gesinnungen“ in Westdeutschland gewirkt. Von was aber ‚reinigte‘ dieses ‚Gewitter‘ die deutsche Nachkriegsgesellschaft? Vom Antisemitismus? Oder doch eher von der Last der Vergangenheit? Einige Tage später stand in derselben Zeitung folgendes:
Davor schrieb, im selben Duktus, die Stuttgarter Zeitung:
„In diesen Tagen […] ist ein fast zweitausend Jahre altes Bild vom Typ des Menschen jüdischer Abstammung eingestürzt […] Heute existiert natürlich der Typ des Händlers und des Intellektuellen auch noch; aber er wird überstrahlt vom Bild des Juden als militärischem Strategen und brillantem Soldaten, der sich todesmutig in das Feuer von Panzerarmeen stürzt und das erreicht, was die geheime Sehnsucht aller ist: den Sieg des Kleinen über die Gewaltigen, Drohenden, Erbarmungslosen. Die Identifizierungsbedürfnisse, Schuldgefühle, die in der Geschichte wurzeln, münden in eine Welle von Sympathie.“
Solche Aussagen bedürfen kaum noch einer Analyse, sie geben ihre Intention bereitwillig preis. Das ‚alte Bild‘ das man vom ‚Menschentyp des Juden‘ hatte, wird ausgetauscht durch ein neues. Die Vorurteilsstruktur des Antisemitismus bleibt damit freilich erhalten. Das neue Bild, dass man sich macht, klingt nach wunschvoller deutscher Selbstbeschreibung: der ‚brillante, todesmutige Soldat‘, der ‚militärische Stratege‘, die Juden als ‚heroisches, geniales Volk‘. Der Antisemitismus hört nicht auf, sondern findet vielmehr Erleichterung in dem Gedanken, dass nun auch Juden eine kampfbereite, kriegswillige Nation gebildet haben.
So gestattete Deutschland den Juden ihre Assimilation erst im Nahen Osten. Wir sehen: dass der israelische General Moshe Dayan zum Rommel stilisiert und der ägyptische Staatschef Nasser zum Hitler gemacht wurde, hatte mit der Kriegsrealität im Nahen Osten wenig zu tun. Solche Projektionen erklären sich vielmehr aus dem deutschen Diskurs über die eigene Vergangenheit und dem deutschen Antisemitismus nach 1945. Verstörend, aber ganz in der Logik des oben Zitierten, ist außerdem die alte deutsche Härte, die sich 1967 in der westdeutschen Presse gegenüber den arabischen Verlierern zeigte. Der Journalist Matthias Walden schrieb im völligen Taumel eines postnazistischen Deliriums in der Welt: „Natürlich wird es noch diese und jene geben, die in fossiler Verblendung mit dem großmauligen, grandios bestraften Feind der Juden, Nasser, sympathisieren. Aber sie sind stumm, weggeduckt in die Winkel ihrer Gesinnungsnacht.“
Rechts, Links oder Deutsch?
Interessanterweise werden in der heutigen Forschung derartige Projektionen kaum in den Blick genommen. Dabei erfahren sie aktuell, so ließe sich argumentieren, eine Wiederkehr im Diskurs der Neuen Rechten in Europa. Von Geert Wilders bis Marine Le Pen zu Christian Strache: ein aufdringliches proisraelisches Gebahren wird verknüpft mit antimuslimischen Rassismus und völkischem Nationaldiskurs. Auch die AfD verweist auf den “Import” von Antisemitismus durch Muslime. Dabei ist natürlich die AfD der lebende Beweis dafür, dass Antisemitismus und Rassismus in Deutschland nicht erst noch importiert werden müssten. Aber eben der Verschleierung dieses Umstandes dient hier die philosemitische, oder eher philozionistische Einstellung. Auch das in Deutschland unter den Neuen Rechten hochfrequentierte blog “Politically Incorrect” lebt seinen antimuslimischen Hass vor einem dünnen Schutzschild pro-amerikanischer und pro-israelischer Einstellungen aus.
In der Forschung beliebter ist das Thema des weit weniger staatstragenden Antisemitismus von links. Auch hier stellt 1967 bekanntermassen den Wendepunkt dar. In der Bundesrepublik war es nach 1967 die Neue Linke, die anfing sich mit den arabischen Staaten und vor Allem den Palästinensern zu solidarisieren. Der Antisemitismus von Teilen der Neuen Linken, der sich in Extremfällen auch zu Gewalttaten gegen Juden steigerte, hängt mit dem verdächtigen deutschen Enthusiasmus im Junikrieg zusammen. Die Neue Linke bezog sich explizit auf den offenen Revisionismus, der hinter weiten Teilen der westdeutschen Israelbegeisterung nach 1967 stand. So schrieb im Juli 1967 Ulrike Meinhof noch sehr hellsichtig in der konkret über den „Blutrausch“ den der israelische Kriegserfolg in der westdeutschen Presse auslöste: „Blitzkriegtheorien schossen ins Kraut, BILD gewann in Sinai endlich, nach 25 Jahren, doch noch die Schlacht von Stalingrad.“ Meinhof erfasste den Grund der Israelliebe im Hause Springer:
„Nicht die Erkenntnis der Menschlichkeit der Juden, sondern die Härte ihrer Kriegsführung, nicht die Anerkennung ihrer Rechte als Mitbürger, sondern die Anwendung von Napalm, nicht die Einsicht in die eigenen Verbrechen, sondern der israelische Blitzkrieg, die Solidarisierung mit der Brutalität, der Vertreibung, der Eroberung führte zu fragwürdiger Versöhnung. Es ist der Geist des „Wer Jude ist, bestimme ich", der sich da mit Israel verbündete.“
1972 unterstütze Meinhof, nun Teil der RAF, das palästinensische Olympia-Attentat auf die israelische Mannschaft und sparte dabei nicht an Gleichsetzungen zwischen Israel und dem Nationalsozialismus. Der Moment ihrer Erkenntnis währte nur kurz. Und so fanden im Jahre 1967 in Deutschland die alten politischen Kräfte und Teile der Neuen Linken ihre Nation im Nahen Osten wieder. Die Folgen dessen sind auch heute noch in der deutschen Öffentlichkeit präsent.
Fußnote:
[1] Dieses und folgende Zeitungszitate im Abschnitt aus Kenneth Lewan, Der Nahostkrieg in der Westdeutschen Presse, 1970.
Ebenfalls in dieser Serie erschienen:
Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.
Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam
Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte
Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall
Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es
Die Folgen des Juni-Kriegs 1967,in Israel
1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabischi
Der Gazastreifen vor und nach 1967: Von Fremdherrschaft zu Fremdherrschaft
Die Folgen von 1967 in Ägypten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg
Nasser und der Krieg 1967: Zwischen politischem Kalkül und Improvisation
Wenn über Erinnerungen Gras wächst – palästinensische Ruinen im Ayalon Canada Park
Israel und die Golan-Drusen: 50 Jahre Provisorium
1967 – Als der Zionismus in die eigene Falle ging
Folgen von 1967 in Jordanien: Eine palästinensische Identität entsteht
Vom Messianismus zur Mittelklasse: Israelische Siedlungen im Westjordanland