Der Deal mit dem Libanon reiht sich in die Liste von Abkommen der EU mit Drittstaaten ein. In neokolonialer Manier weitet die EU ihre Kontrolle von Mobilität immer weiter aus und fördert Menschenrechtsverletzungen, schreibt Julia Winkler.
Seit dem 02. Mai 2024 ist es offiziell: Wenige Monate vor der Europawahl hat die EU nun auch einen Deal mit dem Libanon abgeschlossen, der zum Ziel hat, Migrierende im Land zu halten und politische Handlungsfähigkeit demonstrieren soll. Erst im März schloss die EU einen Deal mit Ägypten über mehr als sieben Milliarden Euro ab; ende letztes Jahres einen weiteren mit Tunesien über mehrere hundert Millionen Euro. In der Praxis bedeutet diese sogenannte „Externalisierungspolitik“, dass Migrierende europäischer Kontrolle und Abschottungspolitik ausgesetzt sind, lange bevor sie tatsächlich EU-Gebiet erreichen.
Der Deal
Konkret bedeutet das: Die libanesischen Behörden sollen sich darum kümmern, dass möglichst keine Boote mehr Richtung Zypern (oder Italien) ablegen. Auf dem nur knapp 200 Kilometer entfernten Inselstaat waren in den letzten Monaten im Vergleich zum Vorjahr vermehrt Menschen angekommen – auch trotz systematischer und brutaler Pushbacks der zypriotischen Behörden, die sogar Patrouillenboote unmittelbar vor libanesische Hoheitsgewässer entsandten, um Boote zurückzudrängen. Insgesamt zählten Behörden bis Ende März etwa 2038 Ankünfte, im Vorjahr waren es gerade einmal 78. Anfang April setzte Zypern kurzerhand alle Asylverfahren aus.
Die EU will nun die libanesischen Streitkräfte und Sicherheitsbehörden bei der Grenzkontrolle unterstützen, indem sie Training, Infrastruktur und Equipment bereitstellt. Auch eine Zusammenarbeit mit Frontex wird angestrebt. Im Gegenzug sollen bis 2027 insgesamt eine Milliarde Euro in den Libanon fließen, mit denen auch Investitionen in Bildung, soziale Sicherung und Gesundheit finanziert werden sollen. Außerdem wird erwartet, dass der Libanon wirtschaftliche - und Bankreformen gemäß den Vorgaben des Internationalen Währungsfonds durchführt.
Mit diesem hatte der Libanon 2022 ein erstes Abkommen abgeschlossen, um umfassende Finanzhilfen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise zu erhalten. Die Unterstützung des IWF ist an bestimmte, teilweise kontroverse Reformen im Finanzsektor geknüpft, welche bislang nicht umgesetzt wurden.
Sündenbockpolitik gegen Syrer:innen
Der Libanon zählt etwa 5 bis 5,5 Millionen Einwohner:innen. Laut UNHCR sind zusätzlich 210.000 palästinensische und 784.884 syrische Geflüchtete im Libanon registriert, wobei Schätzungen von insgesamt 1,5 Millionen Syrer:innen ausgehen, die wirklich im Land leben. Seit knapp vier Jahren leidet das Land unter einer schweren Wirtschaftskrise. Hinzu kommt eine politische Krise, die sich durch ein jahrelanges Scheitern von Wahlen auszeichnet. 80 Prozent der Libanes:innen leben unter der Armutsgrenze, 36 Prozent in extremer Armut. Syrische Geflüchtete dienen vielen Politiker:innen als willkommene Sündenböcke.
Im selben Maße, in dem die Wirtschaftskrise das Leben von immer mehr Menschen zerstört hat, hat die Feindseligkeit gegenüber Syrer:innen zugenommen, gefördert durch Stimmungsmache libanesischer Mainstream-Medien und staatlicher Stellen. Die Rhetorik hat sich zunehmend verschärft; der libanesische Gewerkschaftsverband rief kürzlich eine nationale Kampagne zur „Befreiung des Libanon von der syrischen demografischen Besatzung" aus. Organisationen berichteten von Misshandlungen auf offener Straße. Der jüngste Anstieg an Booten, die Richtung EU ablegten, ist auch vor dem Hintergrund der eskalierenden Feindseligkeiten zu sehen, die viele Syrer:innen dazu bewegen, das Land zu verlassen.
Die EU gießt Öl ins Feuer
Der Deal mit der EU facht dabei den anti-syrischen Diskurs weiter an. Die Milliarde wird weithin als „europäische Bestechungsgeld“ bezeichnet, mit der der Libanon „seine eigenen Interessen verrate", indem er sich „verpflichte, Syrer:innen im Land zu halten". „Der Libanon wird von der EU gepachtet", kritisierte Gibran Basil von der „Freien Patriotischen Bewegung“ und erklärte, dass das Land „weder zum Kauf noch zur Miete stehe“. Andere bezeichneten den Deal als „demütigend für die Würde und Souveränität des Libanon“. Als Reaktion auf die Kritik am Deal kündigte der Ministerpräsident Miqati bereits eine neue Abschiebeoffensive nach Syrien an.
Syrien, ein sicheres Herkunftsland?
Der Deal erhöht das Risiko für Syrer:innen, nach Syrien abgeschoben zu werden, immens. Schon jetzt sind Syrer:innen akut von Abschiebungen bedroht. Insbesondere in den letzten Monaten häufen sich Berichte. Pushbacks durch Zypern führten zudem nachweislich zu Kettenabschiebungen, bei denen die libanesischen Behörden regelmäßig alle Syrer:innen an Bord beschlagnahmter Boote im Anschluss dem syrischen Regime übergibt. Libanesische Menschenrechtsorganisationen berichteten etwa von einem Fall im Juni 2023, bei dem infolge eines Pushbacks durch Zypern mindestens 73 Menschen direkt weiter nach Syrien abgeschoben wurden. Mit dem Abschluss des Deals unterstützt die EU zumindest indirekt diese Praxis.
Laut Miqati und der zypriotischen Regierung soll der neue Deal zudem den Weg ebnen, Teile Syriens durch die EU als sicherere Herkunftsländer einzustufen, damit Abschiebungen legal und ganz offiziell durchgeführt werden können. Zypern besuchte im Vorfeld des Deals Dänemark, Tschechien sowie Griechenland, um für einen solchen Vorstoß innerhalb der EU zu werben. Von der Leyen kündigte bereits an, Bemühungen in einen „strukturierteren Ansatz für die freiwillige Rückkehr“ syrischer Geflüchteter zu intensivieren. Menschenrechtsorganisationen stellen den „freiwilligen“ Charakter solch einer Rückkehr vehement infrage.
Der Kampf gegen „Schleuser"
Derweil wird die Figur des „Schleusers“ auch im Deal mit dem Libanon als zentrales Feindbild heraufbeschworen und seine Bekämpfung als Legitimation herangezogen. So betonte Ursula von der Leyen in der gemeinsamen Pressekonferenz am 02. Mai in Beirut: „Es sind wir, die Europäer, die entscheiden, wer nach Europa kommt und unter welchen Umständen. Und nicht das organisierte Verbrechen der Schmuggler.“ Man zähle auf den Libanon bei der Bekämpfung der Schleuserei.
Es handelt sich dabei um ein Narrativ und Argumentationsmuster, das sich bei allen derartigen Deals wiederfindet. Dabei wird nicht nur ein Sicherheitsdiskurs etabliert, der „den Schleuser“ als eine der zentralen Bedrohungen europäischer Sicherheit inszeniert, da dieser vermeintlich „entscheidet, wer in die EU einreist". Der „Schlepper“ fungiert hier als Sündenbock und Feindbild, das dann zum Einsatz kommt, wenn weitere Abschottungsmaßnahmen zu legitimieren oder die tödlichen Konsequenzen des Grenzregimes nicht mehr zu leugnen sind.
Auch führt dies dazu, dass die EU auf neokoloniale Weise mittels finanzieller Druckmittel ihre Vorstellungen von legitimer und unzulässiger Mobilität Drittstaaten aufzwingt und folglich Kriminalisierung entlang europäischer Bedürfnisse fördert. Die konkreten Auswirkungen im Libanon bleiben abzuwarten. Erfahrungen aus anderen Ländern wie dem Niger, Tunesien oder Marokko zeigen jedoch, dass dies oft zu einer Ausweitung der Definition und einem Anstieg von Verhaftungen im Kontext der sogenannten „Schleuserkriminalität“ geführt hat.
Das Narrativ des Schleppers als der primäre Schuldige und zentrale Bedrohung für Europa mobilisiert die europäische Gemeinschaft und lenkt von wichtigen Fragen zu Flucht und Migration ab.
Ernsthafte Auseinandersetzung mit Migration?
Der Deal wird am Ende voraussichtlich dazu führen, dass noch mehr Syrer:innen – angesichts einer noch feindseligeren Haltung und einem erhöhten Risiko der Abschiebung nach Syrien – versuchen werden, das Land zu verlassen. Aufgrund gleichzeitig verstärkter Grenzkontrollen werden sie dabei noch mehr Gewalt ausgesetzt und erst recht auf Schleuser:innen angewiesen sein.
Der Deal mit dem Libanon steht somit exemplarisch für eine milliardenschwere Externalisierungspolitik, die wenig mit der Realität zu tun hat, und auch ihr eigenes Ziel der „Migrationsabwehr“ in der Regel verfehlt. Stattdessen festigt sie neokoloniale Machtverhältnisse und verursacht extremes Leid für die Betroffenen. Zu den Folgen zählen die Verlagerung und Intensivierung rassistischer Gewalt, Internierung in Lagern, Massendeportationen sowie die Umleitung von Migration auf gefährlichere Routen. Indem die EU auf die Figur des „Schleusers“ als Feindbild setzt, werden dabei grundlegende Fragen zur Flucht und Migration verdrängt.
Denn eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Migration, die die Würde und Rechte eines jeden Menschen in den Mittelpunkt stellt, würde zwangsläufig in einer Kritik an globalen, kapitalistisch-rassistischen Ausbeutungsverhältnisse münden, und somit bestehende Machtverhältnisse infrage stellen.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.