24.09.2024
Elias Khoury: „Du brauchst einen Traum, um zu schreiben“
Elias Khoury. Foto: Center for the Study of Europe Boston University, Creative Commons
Elias Khoury. Foto: Center for the Study of Europe Boston University, Creative Commons

Einer der größten arabischen Schriftsteller unserer Zeit, Elias Khoury, ist verstorben. Er hinterlässt Schriften und Gedanken zum Verständnis von Geschichte, Politik, und dem palästinensischen Befreiungskampf.

Elias Khoury, einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit, ist am vergangenen Sonntag, dem 15. September 2024, im Alter von 76 Jahren nach einer langen Krankheitsphase verstorben. Mit seinem Tod verlieren wir nicht nur einen großen Schriftsteller, sondern auch einen mutigen Intellektuellen, der sich stets für die Unterdrückten, insbesondere die Palästinenser:innen, einsetzte.

Khoury wirkte in verschiedensten Kontexten, die aufzuzählen vermutlich schon einen ganzen Artikel füllen würden. Er schrieb Prosa, Zeitungsartikel und unterrichtete an renommierten Universitäten in Westasien, Europa und den USA. Er war Herausgeber der libanesischen Zeitungen al-Safīr, des Feuilletons von al-Nahār und des Journal for Palestine Studies. Er war Direktor des Theatre of Beirut, schrieb Kritiken und unterstützte Kulturfestivals. Seine 15 Romane wurden in viele Sprachen übersetzt und erreichten weltweite Bekanntheit.

Politische Kindheit und Jugend im post-kolonialen Libanon

Khoury wurde im Jahr 1948 in Beirut in eine mittelständische christliche Familie geboren. Seine jungen Jahre waren geprägt durch die libanesischen Bürgerkriege, die Gründung des Staates Israels und die damit einhergehende Nakba.

In einem Interview mit Sonja Mejcher-Atassi beschreibt Khoury seine Kindheit und Jugend in Aschrafija, einem christlichen Stadtteil im Osten Beiruts. Literarisch habe ihn besonders seine Großmutter mütterlicherseits geprägt. Eindrücklich beschreibt er damals, wie sie ihm arabische Poesie näherbrachte. Dabei sei er von vorislamischen Dichtern wie Imru al-Qays, aber auch berühmten Literat:innen der Nahḍa1 geprägt worden.

Bereits in seiner Jugendzeit verschrieb er sich dem palästinensischen Befreiungskampf und arbeitete als Lehrer in palästinensischen Flüchtlingscamps und bot dort freiwillig Unterstützung an. Im Alter von 19 Jahren entschloss er sich, nach Jordanien zu reisen, um der zum damaligen Zeitpunkt in Jordanien ansässigen palästinensischen Widerstandsgruppe Palestinian Liberation Organization (PLO) beizutreten. Zum Zeitpunkt des Schwarzen Septembers verließ er Jordanien aber wieder, da das Königreich palästinensische Widerstandsgruppen auswies. Im libanesischen Bürgerkrieg, der im Jahr 1975 begann, kämpfte er an der Seite der Palästinenser:innen.

Durch al-Jabal al-Saghīr [engl. Little Mountain, bisher liegt noch keine deutsche Übersetzung vor] (Beirut, 1977) erlangte Khoury Bekanntheit auch über den Libanon hinaus. In dem Roman werden die komplexen politischen Realitäten im Libanon während des Bürgerkriegs durch verschiedene Charaktere aufgezeigt. Nach der Veröffentlichung wurde Khoury vorgeworfen, dass er kein richtiger Revolutionär sei, da er den Krieg in al-Jabal al-Saghīr kritisierte. Seine Kritik am Bürgerkrieg und damit die Kritik am linken und palästinensischen Lager wurde auch in Abwāb al-Madīna [dt. Tore der Stadt] (Beirut, 1981) und schließlich in al-Wujūh al-Baiḍāʾ [dt. Die Weißen Gesichter] (Beirut, 1981) immer expliziter. Das letzte Buch wurde von Teilen der PLO so stark kritisiert, dass sie das Buch praktisch aus den Bücherregalen verbannte, indem sie Händler:innen unter Druck setzte. Dies war ein Schlüsselmoment für Khoury, der ab diesem Moment verstand, „dass meine Arbeit als Intellektueller und Autor erstens wichtig [ist], und zweitens bedeutungslos und nicht zu meistern, ist, wenn ich mich nicht kritisch mit der Situation, in der ich lebe, auseinandersetze”.

Neue Wege in der libanesischen Literaturszene

Literarisch brach Khoury mit seinen engagierten Kolleg:innen auf verschiedene Arten: Die Rolle des Schriftstellers war im Libanon zu dieser Zeit stark von den Werken Khalil Gibran Khalils (†1931) und seiner eher romantischen Schule geprägt, die den Schriftsteller als eine Art Prophet sah. Das widerstrebte Khoury, denn er verstand den Schriftsteller als Teil der Gesellschaft und der Sprache der alltäglichen Menschen.

Sein Verständnis des Schriftstellers als sprachlich und sozial in die Realitäten des Alltags eingebunden stellte er durch die Verwendung der arabischen Sprache her: Bisherige arabische Veröffentlichungen nutzten fast ausschließlich Klassisches bzw. Modernes Hocharabisch in ihren Texten. Khoury hingegen gab seinen Charakteren in Dialogen eine tatsächlich im Alltag gesprochene Sprache, z.B. Libanesisch. Damit brachte er einen literarischen Wandel hervor, der den Schriftsteller näher an die Seite der Lesenden und ihren Alltag rückte und versuchte, diesen in Teilen abzubilden.

Ein weiteres Charakteristikum seiner Werke ist die nicht-lineare Erzählweise, mit der er bereits in al-Jabal al-Saghīr experimentierte und die sich in späteren Romanen immer wieder zeigen sollte. Diese Erzählweise schaffte es, seinen Erzählungen eine völlig neue Dimension zu geben, die insbesondere politische und historische Zusammenhänge aus verschiedenen Perspektiven greifbar machte. Diese Art Literatur zu produzieren, stammte auch aus seiner Überzeugung, dass Zeit weder evolutionär noch zyklisch verlaufen würde. Damit richtete er sich einerseits gegen Vorstellungen einer immer weiter voranschreitenden Entwicklung der Gesellschaft, deren Ursprünge häufig auf Autor:innen der Aufklärung zurückgeführt werden. Andererseits aber auch gegen eine Vorstellung des zyklischen (sozialen) Wandels, nach der Gesellschaften und Staaten einem Zyklus, vergleichbar dem Lebenszyklus eines Organismus, folgen würden. Dieses Modell wird auf den arabischen Intellektuellen Ibn Khaldun (†1406) zurückgeführt. Diese Punkte bekräftigte er auch noch vor zwei Jahren in einem Interview mit dem Historiker Ilan Pappé.

In diesem Interview beschreibt Khoury außerdem den politischen Charakter seines Schreibens: Dies bezeichnete er als „writing in present“, das Schreiben im Hier und Jetzt. Ohne sich auf die Realität einzulassen und ihr entgegenzutreten, könne man keine Literatur produzieren, so Khoury. Ein großer Einfluss für dieses Verständnis des Schriftstellers als politisch engagierter Akteur stellte für ihn der revolutionäre palästinensische Schriftsteller und Journalist Ghassan Kanafani († 1972) dar, da dieser häufig direkt oder indirekt konkrete politische Ideen in seinen Romanen und Theaterstücken vermittelte.

Unterstützung der palästinensischen Befreiungsbewegung

Nachdem Khoury in jungen Jahren der PLO beigetreten war, kritisierte er diese später regelmäßig in eigenen Schriften. Dies geschah insbesondere im von Mahmoud Darwish ins Leben gerufene Journal Shuʿūn filasṭiniyya [dt. Palästinensische Angelegenheiten]. Khoury verstand die Kritik an palästinensischen Gruppierungen wie der PLO als einen wichtigen Drahtseilakt: die Aufgabe, eine ausgewogene Kritik zu liefern, die dennoch nicht die Unterstützung für die eigenen Werte untergräbt. Denn für seine Überzeugungen einzustehen und ihnen treu zu bleiben, das war für Elias Khoury das Wichtigste, so sagte er beim Shubbak Festival 2015 in London. Manchmal sei es anstrengend, manchmal unmöglich. Sicher sei nur, dass es sehr, sehr schwierig sei. Diesen Schwierigkeiten zum Trotz verwob Khoury bis ins hohe Alter sein kulturelles Interesse und Schaffen mit politischen Überzeugungen.

Das Zusammenspiel zwischen Literatur und Erinnerung als nostalgische Kraft und als produktives Mittel im palästinensischen Ringen um Freiheit zeigte sich sehr deutlich im Jahr 2013: In diesem Jahr besetzten palästinensische Aktivist:innen einen Teil des von Israel als „E1“ deklarierten besetzten Gebiets im Westjordanland, östlich Jerusalems. Dieses Camp nannten sie „Bab al-Shams“, benannt nach dem Roman Khourys, der die Geschichte des palästinensischen Freiheitskämpfers Yunes erzählt. Khourys Schrift hatte bei den Aktivist:innen einen starken Eindruck hinterlassen und schaffte es in diesem Jahr nicht nur, sich in Erinnerungen und Erzählungen, sondern auch in der politischen Realität Palästinas zu manifestieren. Während der nur zwei Tage andauernden Besetzung, die durch israelisches Militär geräumt wurde, sprach Khoury über Skype zu den Aktivist:innen und drückte seine Solidarität aus. Nach der Räumung merkte er an „das Dorf mag zerstört werden, Literatur kann man nicht zerstören“.

Literatur war einer der wichtigsten Wege für ihn, der systematischen Entrechtung von Palästinenser:innen entgegenzutreten. Seit einigen Jahren fasste Khoury diese unter dem Begriff der al-nakba al-mustamirra [dt. Die fortwährende Nakba/Katastrophe] zusammen. Diesen Titel trug auch eine seiner letzten Veröffentlichungen, ein Sammelband auf Arabisch, der verschiedene Stimmen zu diesem Thema einfing. In der Einleitung stellte Khoury nicht nur eigene Überlegungen an und Einblicke in seine persönliche Verbindung zur Nakba auf, sondern wirft viele Fragen auf: Wie lesen wir Geschichte, wann sprechen wir von Vergangenheit, wann von Zukunft und wie können wir einen Prozess beschreiben, wenn er noch immer andauert? Fragen, die weiterhin von zentraler Bedeutung bleiben werden, um Geschichte zu verstehen.

Optimismus als Notwendigkeit

Elias Khoury wird auch nach seinem Ableben in den Herzen und Gedenken vieler Leser:innen und Aktivist:innen bleiben – als ein Gigant der arabischen Literatur und Meister der umfassenden Erzählung; und als kritischer Mensch, der sich bis zu seinem Tod für die palästinensische Befreiung einsetzte. Und in Zeiten, in denen der Aktivismus für diese Sache insbesondere in Deutschland mit mehr Repressionen denn je verbunden ist, soll ein Ausspruch Khourys aus erwähntem Interview mit Pappé Platz finden:

„Du brauchst einen Traum, um zu schreiben. Du brauchst einen Traum, um eine Revolution hervorzubringen. Du brauchst einen Traum, um zu lehren. Du brauchst einen Traum aus deinem tiefsten Herzen. Ansonsten ist es bedeutungslos.“


1Unter der Nahḍa wird häufig eine Periode zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem 20. Jahrhundert verstanden, in der ein kultureller (insbesondere literarischer Art) Wandel in vielen arabischen Ländern stattfand. Dieser Terminus wird aber auch kritisch diskutiert.

 

 

 

 
Sören Lembke studiert derzeit Soziologie und Arabistik und Islamwissenschaften an der Universität Leipzig und ist aktiv in der Gruppe „Kritische Islamwissenschaftler*innen und Arabist*innen" – kurz KIARA. Er interessiert sich besonders für postkoloniale Ansätze in der Soziologie und der Islamwissenschaft und Dekolonialismus.
Redigiert von Regina Gennrich, Emilia SC