Rassismus, Diskriminierung und wirtschaftliche Prekarität prägen das Dasein von Syrer:innen im Libanon. Die jüngsten Fälle unrechtmäßiger Deportationen nach Syrien verleihen ihren sowieso schwierigen Verhältnissen einen tödlichen Charakter.
Es ist der Samstag nach Eid Al-Fitr, dem festlichen Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan, H.s Familie sitzt zusammen mit einigen Gästen im Wohnzimmer. Sie trinken Tee und essen Süßspeisen, die Kinder toben in ihren neuen Kleidern durch die Wohnung. Inmitten der familiär-gemütlichen Stimmung starrt H. nervös auf seinen Handybildschirm, swipt weiter von einer Berichterstattung zur nächsten Story. Zu sehen ist eine verwackelte Aufnahme von Personen, die inmitten von Häuserreihen in der Dämmerung in einen Militärtransporter getrieben werden. Rechts und links des Transporters stehen Soldaten der libanesischen Armee, mit Maschinengewehren bewaffnet. Das Video wurde inmitten des Beiruter Stadtteils Bourj Hammoud aufgenommen, wo hauptsächlich armenische und syrisch-stämmige Personen leben.
Die Eid-Feierlichkeiten für Syrer:innen bekommen erneut einen faden Beigeschmack
H. ist sofort klar, was das bedeutet und wer die Personen in dem Video sind. „Die treiben die Leute zusammen und bringen sie zurück nach Syrien.“ Die Feiertagsstimmung weicht zunächst einem bedrückten Schweigen, einige Gäste zweifeln die Echtheit des Videos an, es entsteht eine hitzige Debatte, dann herrscht wieder betretenes Schweigen. In den darauffolgenden Tagen überschlagen sich die Ereignisse jedoch derartig, dass an der Echtheit des Videos kein Zweifel mehr besteht.
Bereits seit einigen Wochen kursieren auf Social-Media-Plattformen sowie unter Syrer:innen selbst Augenzeugenberichte von Personen, deren Familien vom Libanon zurück nach Syrien deportiert wurden – sowohl aus der Hauptstadt Beirut als auch aus der Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze. In einem Bericht der Nachrichtenagentur The National News wird ein Mann mit unkenntlich gemachtem Gesicht, aber sichtlich unter Tränen interviewt. Er berichtet, wie seine Frau und seine zwei Kinder zwei Tage vor Eid während seiner Abwesenheit in ihrem Haus aufgegriffen und nach Aleppo deportiert wurden. Im Anschluss erhielt er einen Anruf vom Geheimdienst der libanesischen Armee, die ihn über den Verbleib seiner Familie informierten.
450 syrische Personen wurden seit Anfang April vom Geheimdienst des Militärs aufgegegriffen und nach Syrien deportiert
Der letzte Kontakt zu den betroffenen Personen und ihren Familien besteht vor dem syrisch-libanesischen Grenzübergang in der Damaskus-Straße. Dort werden Syrer:innen 500 Meter von der Grenze entfernt aus den Lastwägen geladen, von wo aus sie direkt von der syrischen Armee aufgegriffen werden. Danach verliert sich meist jede Spur. Für die Übergabe an der Grenze muss eine direkte Kommunikation zwischen der libanesischen Armee und dem diktatorischen Assad-Regime in Syrien bestehen.
Laut den libanesischen Behörden handelte es sich bei den deportierten Personen um sich im Libanon illegal befindende Syrer:innen oder Personen, deren Papiere abgelaufen sind. Unter ihnen sind aber auch Regimegegner:innen, die auf Assads roter Liste stehen – Verweiger:innen oder Desserteur:innen der syrischen Armee, Teilnehmende der Revolution von 2011, aber auch Personen, die sich beispielsweise in Sozialen Medien kritisch gegenüber dem Assad-Regime äußern. Eine Rückkehr nach Syrien, insbesondere durch Deportation, bedeutete bereits in der Vergangenheit für viele von ihnen den direkten Weg in Assads Gefängnisse und Folterkammern oder Verfolgung und Verschleppung durch das syrische Regime.
Selbst für diejenigen, die zurückkehren könnten, ohne vom Regime belangt zu werden, ist je nach Region die Wahrscheinlichkeit nach dem verheerenden Erdbeben noch ein Zuhause oder eine Grundversorgung vorzufinden äußerst gering. Denn nicht nur in den betroffenen Gebieten, sondern generell hat sich die wirtschaftliche Lage in Syrien nochmals deutlich verschärft. Starke Armut, Lebensmittelknappheit und eine fehlende Stromversorgung sind die Folgen. Eine Deportation bedeutet also auch für diejenigen Syrer:innen, die nicht auf der roten Liste des Regimes stehen, eine Rückkehr in prekäre und aussichtslose Lebensverhältnisse.
Die Deportationen sind nicht nur grausam, sie sind auch völkerrechtswidrig
H. steht auf ebenjener roten Liste des Regimes, doch das ist aktuell nicht seine größte Sorge. Vor einigen Wochen erst konnte er mithilfe von Schleppern diejenigen Familienmitglieder, die das Erdbeben in Syrien überlebt haben, zu sich nach Beirut holen – in die vermeintliche Sicherheit, trotz Illegalität. Dass sie nun schon wieder mit der Angst leben müssen, das Haus zu verlassen oder mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und deportiert zu werden, bringt H. an den Rande seiner Kräfte.
Abgesehen von der unsäglichen Unmenschlichkeit, stellt sich auch die Frage der Legalität solcher Deportationen. Laut Amnesty International ist der Libanon dem völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung verpflichtet. Konkret bedeutet dies, dass niemand in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem ihm Folter, Verfolgung oder andere Menschenrechtsverletzungen drohen würde. Im Falle einer ausgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung ist den libanesischen Behörden also maximal ein in Gewahrsam nehmen der Personen erlaubt, in keinem Falle aber eine Deportation. Außerdem finden keinerlei Gerichtsverfahren statt, welche den Betroffenen ebenfalls zustehen müssten.
Es ist nicht das erste Mal, dass Syrer:innen im Libanon einer solche Welle von Deportationen ausgesetzt sind. Bereits 2019 und 2020 wurden laut den libanesischen Sicherheitsbehörden ingesamt 6.002 Syrer:innen nach Syrien deportiert. In 66 Fällen, darunter 13 Kinder, hat Amnesty International Beweismaterial, dass diese nach der Deportation direkt inhaftiert oder verschleppt wurden oder Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt waren. Auch sexuelle Gewalttaten sind dokumentiert. Syrer:innen wissen um diese Fälle – und fürchten daher zurecht um ihr Leben.
Warum gerade jetzt wieder?
Geflüchteten kommt im Libanon aktuell auf politischer und gesellschaftlicher Ebene eine immense Welle von Hass, Diskriminierung und Dehumanisierung entgegen. Die libanesische Regierung selbst macht keinen Hehl daraus, ihre ultra-nationalistische und rassistische Politik offen darzulegen. Am Mittwoch letzte Woche setzte das libanesische Innenministerium dem UNHCR eine einwöchige Deadline, die Daten von syrischen Geflüchteten herauszugeben – ergänzend zu ihren eigenen Aufzeichnungen. Eine für Syrer:innen tödliche Datenbank. Wenn im Libanon inmitten der chaotischen Zustände etwas weiterhin funktionieren soll, dann die akribische Überwachung und Schikanierung geflüchteter Personen.
Aber nicht nur auf politischer Ebene erfahren Syrer:innen Diskriminierung und Rassismus, auch die libanesische Gesellschaft hat starke Ressentiments gegenüber Syrer:innen. Selbst in gutbürgerlichen, intellektuellen und teilweise sogar linken Kreisen kursiert die Meinung, dass syrische Geflüchtete aufgrund der finanziellen Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen ein besseres Leben führen als viele Libanes:innen aus ärmeren Schichten.
„Hier wird lieber nach unten getreten, als die seit Jahren Verantwortlichen für die desolaten Zustände im eigenen Land zur Rechenschaft zu ziehen.“
Auch die internationale Solidarität mit syrischen Geflüchteten und damit die Solidarität mit dem Libanon als Aufnahmeland bleibt aus. Der wirtschaftlich aktuell kollabierende Libanon ist mit der Aufnahme und der Versorgung der geflüchteten Personen praktisch auf sich allein gestellt und damit in jeglicher Hinsicht überfordert. Die radikale und tödliche Abschottungspolitik und die Unverantwortlichkeit Europas trägt letztendlich also mindestens genauso zur aktuellen Situation von Syrer:innen im Libanon bei.
Syrer:innen im Libanon sind also weiterhin auf sich alleine gestellt. „Wir können nicht zurück, aber wir sind auch in diesem Land nicht willkommen – Wohin also sollen wir gehen?“ gibt H. frustriert von sich. „Ganz ehrlich, ich möchte einfach mal wieder einen Tag ohne ständiges Wachsam sein verbringen. Die ganze Situation ist auch ohne all das schon eine größere Last als ein Mensch jemals ertragen sollte.“