22.10.2024
„Es ist bereits ein regionaler Krieg“
"Hands Off Lebanon" in Basel, 5. Oktober 2024. Foto: Bruna Rohling
"Hands Off Lebanon" in Basel, 5. Oktober 2024. Foto: Bruna Rohling

Nach monatelanger Ungewissheit ist der Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah eskaliert. Was bedeutet das für die libanesische Bevölkerung? Und welche Rolle spielen der Iran und Syrien? Ein Gespräch mit Professorin Dr. Elham Manea.

Frau Manea, Sie sind Professorin der Politikwissenschaft an der Universität Zürich. In Ihrer Forschung befassen Sie sich unter anderem mit fragilen Staaten in Westasien und Nordafrika. Was wollen Israel und die Hisbollah mit den aktuellen Auseinandersetzungen im Libanon erreichen?

Dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 folgte ein verheerender Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen, der sich nun auf den Libanon ausgeweitet hat. Seit dem 7. Oktober werden Befürchtungen geäußert, dass es zu einem regionalen Krieg kommt. Nun, bei allem Respekt, es ist bereits ein regionaler Krieg. Wir haben den Iran, die Huthi-Miliz im Jemen, die Hisbollah im Libanon, die Schiitenmiliz al-Haschd al-Schaabi im Irak. Sie alle sind an diesem Krieg beteiligt.

Aber zoomen wir auf die Situation zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon. Ich möchte damit beginnen, die Situation von der israelischen Seite aus zu betrachten. Einen Tag nach dem 7. Oktober 2023 begann die Hisbollah, ihre Raketen auf die Grenze zu Israel abzufeuern. Aus Medienberichten wissen wir inzwischen, dass die Hamas den Iran und die Hisbollah umworben hatte, in der Hoffnung auf breitere Unterstützung bei dem geplanten Anschlag auf Israel. Schließlich entschied sich die Hamas jedoch zu dem Massaker am 7. Oktober 2023 im Alleingang; das heißt ohne die Unterstützung des Iran oder der Hisbollah und ohne, diesen das Datum des Angriffs mitgeteilt zu haben. Dennoch hat die Hisbollah im Anschluss an das Massaker sofort beschlossen, Israel anzugreifen – für die palästinensische Sache.

Die Reaktion der Hisbollah führte zu einer humanitären Katastrophe und hunderttausende Binnenflüchtlingen auf israelischer Seite. Gleichzeitig begann Israel den Südlibanon anzugreifen, was unzählige Libanes:innen zu Vertriebenen in ihrem eigenen Land machte. Von Anfang an gab es Stimmen in Israel, darunter der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant, die darauf drängten, die Hisbollah in die militärische Reaktion des Landes einzubeziehen. Bis dahin konnte die israelische Haltung eher so beschrieben werden: „Lasst uns auf den Moment warten, in dem wir die Situation in Gaza unter Kontrolle haben, um uns dann der Hisbollah zu widmen.“ Und dieser Moment ist jetzt eingetreten. 

Die Hisbollah genießt hohes Ansehen in weiten Teilen der libanesischen Bevölkerung. Der aktuelle Konflikt wird jedoch auf deren Rücken ausgetragen. Wie schätzen Sie die Haltung der libanesischen Bevölkerung gegenüber der Hisbollah jetzt ein?

Das Land befindet sich mitten in einer verheerenden Wirtschaftskrise und hat seit zwei Jahren keinen Präsidenten mehr. Als ich diesen Mai den Libanon besuchte, war deutlich zu erkennen, dass die Entscheidung der Hisbollah, den Libanon in eine Konfrontation mit Israel zu ziehen, die Wut innerhalb der Bevölkerung weiter anfachen lassen würde. Nun ist die schlimmste Befürchtung vieler Libanes:innen, nämlich ein Angriff Israels, eingetreten. 

Dieser könnte den Libanon tatsächlich so weit destabilisieren, dass es zu einer Implosion innerhalb des Landes kommt. Dabei müssen wir immer bedenken, dass es seitens der Machthabenden weder Bestrebungen gab noch gibt, den libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 aufzuarbeiten noch eine Aussöhnung innerhalb der Bevölkerung anzustoßen. Die damaligen Warlords sitzen bis heute in der Regierung. 

Am 17. und 18. September 2024 explodierten dann im Libanon Walkie-Talkies und Pager, die Mitgliedern der Hisbollah gehörten. Das war bloß der Anfang der aktuellen Invasion Israels im Libanon. Aus einer rein analytischen Perspektive betrachtet war diese israelische Militärstrategie gegen die Hisbollah strategisch beachtlich. Natürlich spreche ich nicht über die furchtbaren Folgen für die libanesische Bevölkerung und die menschlichen Kosten. Aber die Aktion löste einen Schock innerhalb der Führungsriege der Hisbollah und seiner Kommunikationskanäle aus. Die anschließende Tötung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah am 27. September 2024 war eine weitere sehr deutliche Botschaft, dass Israel sich ab sofort nicht mehr gegen die Hisbollah zurückhalten würde. Denn trotz der kontinuierlichen Anfeindungen zwischen Israel und Hisbollah im letzten Jahr waren beide Seiten darauf bedacht, ihre Anfeindungen nicht eskalieren zu lassen.  

Können Sie näher beschreiben, was die Tötung Hassan Nasrallah´s im Libanon sowie bei den Verbündeten der Hisbollah auslöste? 

In bestimmten Gegenden Syriens feierten die Menschen den Tod Nasrallahs. Das liegt daran, dass die Hisbollah den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad während des Aufstands gegen sein Regime unterstützt hat. Das Ansehen Irans wiederum hat stark gelitten. Einerseits weil aus Teheran – außer auf die beiden Raketenangriffe auf Israel im April und Oktober diesen Jahres – kein direktes Eingreifen ins Kriegsgeschehen in Gaza oder jetzt auch in Libanon erfolgt ist. Andererseits setzt Teheran die geschwächte militärische und politische Macht der Hisbollah zu. 

Im Libanon löste die Tötung Nasrallahs gemischte Gefühle aus. Diese reichen von einer gewissen Erleichterung bis hin zu Angst und Schock. Die Menschen fragen sich: Was bedeutet das für uns? Gleichzeitig ist ein politisches Vakuum entstanden, da die Hisbollah eine einflussreiche Rolle im Staat spielt. Einige libanesische Politiker:innen überlegten, ob dies der Moment sei, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Bisher blockierten die Abgeordneten der Hisbollah diesen Prozess nämlich. Naim Kasim, der aktuell stellvertretende Generalsekretär und Interimsführer der Hisbollah, weigert sich aber, in diesen Krisenzeiten politische Entscheidungen zu treffen. 

Ob die libanesische Regierung in der Lage sein wird, einen Waffenstillstand umzusetzen, bleibt fraglich. Auch ob sie es schafft, funktionierende staatliche Strukturen aufzubauen, bleibt abzuwarten. Denn das Land ist stark geschwächt und befand sich auch vor Beginn des Krieges in einer sehr schwierigen politischen wie wirtschaftlichen Lage. 

Sie haben Syrien erwähnt. Seit Ausbruch des Krieges fliehen viele Syrer:innen zurück in ihr Heimatland. Auch Libanes:innen suchen dort Zuflucht. Was bedeutet das für die geopolitische Rolle Syriens und den syrischen Machthaber Baschar al-Assad?

Obwohl der Iran Syrien als Puffer gegen Israel und als Umschlagsplatz zwischen Irak und Libanon braucht, haben wir in den letzten Monaten eher von der Hisbollah im Libanon, den Huthis im Jemen, oder der Haschd al-Schaabi im Irak gehört. Das Regime von Baschar al-Assad hat klar gemacht, dass es kein Interesse hat, sich an Aktivitäten gegen Israel zu beteiligen. Dem syrischen Regime geht es hier ums eigene Überleben. Vor dem Massaker am 7. Oktober 2023 gab es jedoch durchaus eine Zeit, in der die Golfstaaten Baschar al-Assad und sein Regime umwarben, um ihn zu einer Normalisierung der arabischen Verhältnisse zu bewegen.

Würden Sie dem Argument zustimmen, dass die militärischen Operationen Israels in Palästina und nun auch im Libanon zu einer sogenannten Radikalisierung der Region führen?

Mit Blick auf die gesamte Region, sehe ich durchaus das Potenzial für eine Radikalisierung. Wut und Frustration sind stark spürbar und es herrscht weiterverbreiteter Unmut darüber, dass die politischen Führer keine entschlossenere Haltung einnehmen. Zudem gibt es ein Narrativ, das von panarabischen Ideologen verbreitet wird: Wenn alle Araber vereint gegen Israel kämpfen würden, wäre die Lage in der Region besser. Mit diesem Narrativ bin ich bereits aufgewachsen. Doch es lässt keinen Raum für eine Zukunft, in der Zusammenarbeit und ein friedliches Nebeneinander möglich sind–einen Raum für Frieden, der den Menschen Hoffnung gibt.

 

 

 

Bruna Rohling hat Stadtplanung in Berlin, Trondheim und Beirut studiert. Bei dis:orient liegt ihr Fokus auf Stadtentwicklung, Migration und Umweltgerechtigkeit in WANA. Bruna ist Doktorandin an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich im Bereich Stadtentwicklung und -politik.
Redigiert von Eva Hochreuther, Jasmin Schol