Im Libanon fliehen seit Beginn der Woche Tausende vor israelischen Angriffen, die Hisbollah Stützpunkten im Süden und Osten des Landes gelten sollen. Ein Ende des Konflikts ist nicht absehbar, die Bevölkerung steht unter Schock. Drei Libanes:innen erzählen, wie sie die letzten Tage erlebt haben.
„Wir standen 15 Stunden im Stau. Die Menschen haben sich gegenseitig Wasser gegeben, Essen geteilt, geredet. Und das, während um uns herum in den Bergen Raketen einschlugen.“
So erinnert sich Shadi an die Flucht aus seiner Heimatstadt Sour im Süden des Libanon. Am vergangenen Montag floh der 19-jährige Student mit Freund:innen im Auto Richtung Beirut. Seine Eltern waren schon morgens vorgefahren. Erst war er zögerlich, doch dann wurde auch ihm klar: Es ist Zeit zu gehen. Die Flucht war hastig: „Die Hunde mussten wir erstmal zurücklassen, das ist schon traurig, wir haben ihnen Futter und Wasser dagelassen.“
Massenflucht aus dem Süden
Wie Tausende andere reihte er sich auf die Hauptstraße ein, die vom Süden des Libanon nach Beirut führt. Videos auf Social Media am Montag und Dienstag zeigten kilometerlange Schlangen von Autos, voll mit Familien und älteren Menschen, die meisten hatten nur das Nötigste dabei. Sie hofften auf eins: In Sicherheit sein, so weit weg wie möglich von den Raketen der israelischen Armee, die weite Teile des Südens bombardierte.
Stundenlang standen sie im Stau, erinnert sich Shadi. Erst um sechs Uhr morgens am Dienstag traf er in Beirut ein. Fürs erste ist er bei Freund:innen untergekommen, seine Eltern sind in den Bergen. Seine Zukunft: Ungewiss. Lebhaft erzählt er am Telefon von seiner Flucht: „Der Weg war sehr hart, doch irgendwie fühlte ich mich als Teil einer Gemeinschaft. Es kamen auch immer wieder Menschen, die einem geholfen haben. Unser Auto fuhr plötzlich nicht weiter, wir hatten kein Benzin mehr. Der Benzinpreis war auf einmal viel teurer als sonst, 150 Dollar für 20 Liter. Aber dann sind Leute gekommen, die uns kostenlos Benzin gebracht haben. Es gibt Menschen, die nutzen die Situation aus, aber viele helfen einem einfach.“ Etwas, was man in diesen Tagen so oft hört: Geschichten von Hilfsbereitschaft, aber auch Menschen, die die Not anderer ausnutzen: Plötzlich seien die Mieten gestiegen, andere erzählen von Personen, die überteuert Wasser und Nahrung verkaufen sollen.
Noch hat Shadi Hoffnung, dass er bald wieder zurückkehren kann, er hat Pläne, will weiter studieren und erzählt stolz von seinem Onlinegeschäft für Kleidung, um das er sich auch kümmern müsse. Doch nach einer Waffenruhe sieht es vorerst nicht aus.
Einer der tödlichsten Angriffe seit Jahrzehnten
Am Montag startete die israelische Armee einen groß angelegten Angriff auf den Süden und Osten des Libanons. In einem der tödlichsten Angriffe seit Jahrzehnten, kommen laut libanesischen Angaben an einem Tag knapp 500 Menschen ums Leben, darunter Frauen, Kinder und Rettungskräfte. Über Tausende wurden verletzt und vertrieben. Laut Angaben der israelischen Armee sei ihr Ziel wichtige Stellungen der Hisbollah zu eliminieren und die Bewohner:innen im Norden Israels in ihre Häuser zurückkehren zu lassen. Die Israelische Armee wirft der Miliz vor, angeblich gezielt Angriffswaffen in Häusern zu verstecken. Berichte aus dem Süden des Landes zeigen die Zerstörung von Wohnhäusern und Infrastruktur. Währenddessen setzt auch die Hisbollah ihre Angriffe weiter fort, schießt Raketen auf israelisches Gebiet.
Den ganzen Tag bis in die Nacht fliegen israelische Kampfjets Angriffe auf Dörfer in der Nähe der libanesisch-israelischen Grenze, sie weiten in den darauffolgenden Tagen die Angriffe aus, in den Osten und Nord-Osten, in der Bekaa-Area und in Baalbek.
Seit Beginn der Bombardierungen fliehen zehntausende Menschen aus den südlichen Gebieten Richtung Norden, nach Beirut oder weiter in die Berge, kommen unter bei Verwandten, Freund:innen, Fremden, die ihre Türen öffnen oder suchen Schutz in Schulen. Offizielle Schutzbunker gibt es nicht, auch weil die libanesische Regierung versäumt hat, das Land auf ein mögliches Szenario vorzubereiten.
Seit dem 8. Oktober liefern sich die beiden Erzfeinde, die Hisbollah, die pro-iranische, schiitische Miliz und stärkste militärische Kraft im Land und die IDF, immer wieder Schusswechsel. Die Angriffe beschränkten sich zuerst auf das Grenzgebiet, wo tausende Bewohner:innen auf beiden Seiten ihre Häuser verlassen mussten. Doch die israelische Armee bombardierte immer mehr Ziele im Landesinneren, bis zu 60 km von der Grenze entfernt und im Westen des Landes, angebliche Hisbollah-Stützpunkte. Die Opfer allerdings sind immer wieder Zivilist:innen.
Während die Libanes:innen wie in Schockstarre leben, hilflos zusehen, wie das Land immer weiter ins Chaos abdriftet, heißt es von beiden Seiten: „Wir wollen nicht eskalieren.“ Doch die Eskalation ist längst da. Schon zum zweiten Mal musste die 25-jährige Dayana ihr Haus verlassen. Das erste Mal, als der hochrangige Hisbollah Kommandeur Fuad Schukr Ende Juli in einem israelischen Angriff mitten im dicht besiedelten Beiruter Vorort Haret Hreik getötet wurde, floh sie mit ihren Eltern zu dem Haus ihrer Großmutter in die Berge.
„Damals hatte ich große Angst. Aber seitdem ist irgendwie alles so egal geworden. Man fühlt nicht mehr wirklich die Angst. Wir denken gerade einmal darüber nach, was morgen passiert. Wenn man aus dem Haus geht, dann weiß man nicht, ob man wieder nach Hause kommt.“
Jetzt ist sie wieder weiter, nach Kayfoun, in einem kleinen Dorf konnte sie bei Verwandten unterkommen. Von dort konnte sie die Raketen sehen, sagt sie, „Es war furchtbar“. Die meisten ihrer Familie und Freund:innen sind geflohen. Doch auch sie bekommt Nachrichten von Bekannten, die bei Angriffen ums Leben kamen. „Da wo ich herkomme, kennt man sich einfach. Und dann hört man, dass der oder die gestorben ist. Das ist furchtbar.“ Am Dienstag soll erneut ein ranghoher Befehlshaber der Hisbollah bei einem Angriff der israelischen Luftwaffe in Dahyie getötet worden sein. Dabei sterben etliche Zivilist:innen; für Dayana ein Schock: „Das ist ein Viertel, wo ich täglich bin. Dort gibt es alles: Mechaniker, Shops, Restaurants. Dort verbringen Menschen ihren Alltag.“
Der libanesische Staat ist hilflos
Für Dayana ist die Hisbollah eine legitime Kraft im Libanon. Bis jetzt glaube sie noch daran, dass die Hisbollah Israel besiegen, oder zumindest zurückdrängen kann. Die Miliz sei in ihren Augen nötiger Widerstand, denn an den Staat glaubt sie nicht. Auch jetzt sei es die Hisbollah, die den Menschen im Süden helfen würde.
„Es gibt sowieso keinen Staat, der dir hilft. Es gibt noch nicht mal richtig Elektrizität. Der Staat macht nichts, auch jetzt in dieser Situation.“ Ein Status quo, mit dem die meisten Libanes:innen sich abgefunden haben und der viele in die Arme von extremistischen Gruppen, wie der Hisbollah, treibt. Dort aber, wo staatliche Institutionen fehlen, greift die Zivilgesellschaft. Strukturen für NGOs und Hilfsorganisationen gibt es im Libanon viele: Seit der verheerenden Explosion im Hafen vor vier Jahren und der darauffolgenden verheerenden Wirtschaftskrise, unterstützen zahlreiche Initiativen den Aufbau von Gebäuden oder helfen denjenigen, die sich nicht mehr selbst versorgen können.
Auch jetzt rücken die Libanes:innen zusammen, denn wie schon so oft in Krisen wissen sie, dass sie auf sich allein gestellt sind. Und während Raketen fliegen, berichtet die Nachrichtenplattform „Megaphone“, dass die libanesische Regierung die Brotpreise anhebt. Die Sozialen Netzwerke sind voll mit Aufrufen leere Wohnungen abzugeben, Spenden zu sammeln und Menschen zu versorgen. Menschen öffnen ihre Türen für unbekannte.
„Ich weiß nicht was nächste Woche sein wird“
So auch der 33-jährige Mehyo. Auch er kommt aus dem Süden, lebt schon länger in Beirut und arbeitet eigentlich als Koch in der deutschen Botschaft. Und plötzlich bereitet er hunderte von Mahlzeiten zu, ehrenamtlich, für die, die alles hinter sich lassen mussten. Zusammen mit der NGO Nation Station versorgt er die Geflüchteten mit Gerichten. Die Organisation wurde nach der Explosion 2020 gegründet und versorgt Anwohner:innen seither mit Essen und Hygieneartikeln, mitten in Beirut, im Stadtteil Getawi.
„Als die Bombardierung angefangen hat, wollte ich einfach helfen. Und was kann ich am besten? Kochen. Also koche ich jetzt für die Menschen.“ „Wir haben am Montag mit 600 angefangen, jetzt kochen wir schon 1200. Doch ich weiß nicht, wie es nächste Woche weitergehen wird.“ Noch hat er diese Woche frei, alle Kolleg:innen würden ihn unterstützen, sich verständlich zeigen, berichtet er.
Doch wie es weitergeht, ist noch unklar, wie lange die Spenden ausreichen, wie viele Freiwillige noch täglich kommen können, um die Essensvorbereitung zu unterstützen. „Im Moment haben wir 100 Freiwillige, doch was ist, wenn die Zerstörung so groß ist, dass sie nicht mehr kommen können?“ Mehyo klingt resigniert und voller Sorge. Seine Eltern sind noch im Süden, in der Stadt Saida, vorerst wollen sie da bleiben. „Ob ich noch Hoffnung habe? Ich weiß es nicht, ich habe gar keine Zeit darüber nachzudenken, ehrlich gesagt. Man ist einfach nur beschäftigt ständig seine Familie anzurufen, ob alles okay ist.“
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.