11.12.2023
Das Wasserstoff-Märchen: „Grüne“ Energie und koloniale Kontinuitäten
Landnahme, Ressourcenextraktivismus, weiter steigende Wasserknappheit – die Folgen deutscher und europäischer Wasserstoffambitionen treffen besonders Communities im direkten Umfeld der Megaprojekte. Foto: Oliver Knight/flickr.
Landnahme, Ressourcenextraktivismus, weiter steigende Wasserknappheit – die Folgen deutscher und europäischer Wasserstoffambitionen treffen besonders Communities im direkten Umfeld der Megaprojekte. Foto: Oliver Knight/flickr.

Die Sicherung des deutschen Energiebedarfs mit erneuerbarer Energie „aus der Wüste“ soll durch Wasserstoff noch einfacher werden. Dabei verdeckt das grüne Image wirtschaftliche Interessen, ungleich verteilte Kosten und neokoloniale Dynamiken.

Zu dem Noor-Solarkraftwerkkomplex in Ouarzazate im Süden Marokkos erschien bei dis:orient eine dreiteilige Reportage. Oumaima Jmad  recherchierte vor Ort zu den konkreten Folgen des Baus und Betriebs für die Bewohner:innen im benachbarten Dorf Tasselmante. Hier geht es zu Teil 1.

Wasserstoff boomt – und das nicht nur auf der derzeitigen Klimakonferenz (COP 28) in Dubai. So gaben sich bei der COP 27 im letzten Jahr der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der Präsident des Gastgeberlandes Ägypten, Abd al-Fattah al-Sisi, die Ehre und leiteten einen Runden Tisch zur „Zukunft der Energie“ – gemeint war damit sogenannter „grüner“ Wasserstoff. Zahlreiche Staaten nutzten die Plattform, um Wasserstoff-Kooperationen öffentlichkeitswirksam zu verkünden.

In Deutschland erhielt das Thema in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit. „Grüner Wasserstoff ist das Erdöl von morgen“, verkündete 2019 der Staatssekretär des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Der Krieg in der Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise steigerten das politische Interesse an Alternativen zu russischem Gas. Wasserstoff gilt heute als wichtiger Baustein einer mittelfristigen Diversifizierungsstrategie: Handelsabkommen mit verschiedenen Staaten sollen ausgebaut werden, um sich weniger von einzelnen autoritären Staaten abhängig zu machen.

Grüner Wasserstoff als Hoffnungsträger?

Das deutsche Interesse an Wasserstoff ist nicht verwunderlich. CO²-Emissionen und Energieverbrauch sind in Deutschland überdurchschnittlich hoch und das Land weit davon entfernt, seinen enormen Energiehunger erneuerbar sichern. Das kratzt nicht zuletzt am Selbstbild als „Klimavorreiter“. Da klingt das Wasserstoffversprechen verlockend, dass dadurch der ökologische Fußabdruck Deutschlands reduziert werden kann – ganz ohne radikale Emissionsreduktion und Änderung des Konsumverhaltens.

Wasserstoff wird jedoch nicht zwingend aus sogenannten grünen Energiequellen hergestellt. Im energiepolitischen Jargon gibt es mittlerweile eine ganze Farbenlehre des Wasserstoffs, mit der unterschiedliche Herstellungsmethoden beschrieben werden: Von pink über blau, grau, schwarz, türkis und grün. In deutschen Regierungskreisen steht letzterer meist im Fokus. Grün, weil die Energie für die Elektrolyse – also die Spaltung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff – aus erneuerbaren Energiequellen stammt und Wasserstoff als Speichermedium eingesetzt wird. Der CO2-Ausstoß entlang der Produktionskette soll soweit wie möglich minimiert werden. 

Aktuell gilt weniger als ein Prozent der globalen Wasserstoffproduktion als emissionsarm. Dementsprechend ist das Label „grün“ hart umkämpft. Sowohl national als auch auf europäischer Ebene lobbyieren Gaskonzerne und Industrie für eine Erweiterung der Kategorie.[1]  Auch türkiser beziehungsweise pinker Wasserstoff, der aus Methan oder mittels Atomkraft gewonnen wird, soll als clean oder CO²-neutral gelten, trotz radioaktivem Müll, neuen Bohrungen oder dem umstrittenen Carbon Capture and Storage.

„Wo die Sonne immer scheint“

Für eine grüne Wasserstoffproduktion im großen Stil sind enorme Mengen erneuerbarer Energie notwendig. Energiemengen, die trotz technischer Innovation auch künftig kaum in einem Land wie Deutschland produziert werden können. Wo also hernehmen, die Energie, die für die deutschen und europäischen grünen Wasserstoffambitionen nötig wäre?

Der europäische Traum vom grünen, billigen Strom aus der Wüste ist schon Jahrzehnte alt: „Wir brauchen Orte, die viel Platz haben. Viel ökonomisch ungenutzten Platz, am besten an Orten, an denen die Sonne immer scheint und an denen der Wind bläst. Das ist es, was Marokko zum Wohle der Welt nutzen kann“, meint Professor Franz-Josef Radermacher, Mitglied im Club of Rome, im Jahr 2016 in einem Video der Desertec-Kampagne. In dieser Kampagne schlossen sich in den 2000er-Jahren Unternehmen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen zusammen, um die Produktion von erneuerbaren Energien an energiereichen Standorten zu fördern. Aus Wüstenregionen in den USA, in Spanien und insbesondere in nordafrikanischen Staaten sollte in Staaten des Globalen Nordens mit hohem Energiebedarf exportiert werden.

Das Märchen der kostenlosen Energie aus der Wüste

Im zitierten Video steht Radermacher vor der Noor-Anlage, einem riesigen Solarpark nahe der marokkanischen Stadt Ouarzazate am Rande der Sahara. Der Desertec-Traum galt im Jahr 2014 als gescheitert, namhafte Geldgeber:innen wie Siemens und die Deutsche Bank verließen das Projekt. Die verbleibenden Unternehmen, die deutsche RWE-Tochter Innogy, die saudische ACWA Power und State Grid Corporation China, wirken vor allem beratend – auch beim Noor-Solarprojekt. Insgesamt vier Solarparks (Noor I bis IV) wurden so in Ouarzazate errichtet auf einer Fläche, die etwa 4.200 Fußballfeldern gleichkommt.

Das Märchen von freiem Platz und endloser Sonne, das auch Rademacher erzählt, ist falsch – und gefährlich. Es wird suggeriert, dass Sonnenenergie kostenfrei und „die Wüste“ unbesiedeltes Niemandsland sei. Dabei wirkt eine doppelte Dynamik von Peripherie und Kapitalismus – einerseits zwischen Europa und Nordafrika, andererseits aber auch innerhalb Marokkos. Denn die tatsächlichen hohen sozialen wie ökologischen Kosten vorgeblich „grüner“ Projekte, die besonders die lokalen Bevölkerungen auf dem Gebiet und im Umfeld der Megaprojekte treffen, werden ignoriert. Der wirtschaftliche Gewinn solcher Großprojekte hingegen geht in den globalen Norden zu multinationalen Unternehmen oder bleibt bei kleinen Eliten in Marokko vor Ort.

Deutsche Wirtschaftsinteressen

Mit dem deutschen Engagement für Wasserstofftechnologien sind enorme wirtschaftliche Interessen verbunden. So das BMBF: „Deutschland nimmt im Bereich der Technologie-Exporte weltweit eine Führungsposition ein. (…) Wasserstoff –Technologien ‚made in Germany‘ sollen künftig in großem Stil exportiert werden.“ Im Jahr 2021 stammte jede fünfte weltweit verkaufte Elektrolyseanlage aus Deutschland. Bei der Umsetzung des bereits erwähnten Noor-Kraftwerkskomplexes in Marokko war ein deutsches Ingenieurbüro beratend beteiligt, das Nürnberger Unternehmen FLABEG (mittlerweile aufgekauft von ACWA Power) lieferte eine halbe Million Parabolspiegel, Siemens lieferte die Turbine, BASF das verwendete Flüssigsalz.

Das „Testprojekt“ Noor wurde von einem Konglomerat aus (multi)nationalen Unternehmen, (semi-)staatlichen Akteur:innen und internationalen Kreditgebenden umgesetzt. Die Logik solcher Public-Private-Partnerships beschreibt der Forscher und Aktivist Hamza Hamouchene als die „Privatisierierung von Gewinnen und die Vergesellschaftung der Verluste“. Die hohe Verschuldung der marokkanischen Energieagentur MASEN im Zuge des Bau und Betriebs des Noor-Solarparks dient hier als warnendes Beispiel.

„Shipping Sunshine“[2]

Maßgeblich für staatliche Investitionen in Deutschland sind sogenannte Energiepartnerschaften, die die deutsche Regierung in den letzten Jahren mit zahlreichen Staaten im Globalen Norden und Süden abgeschlossen hat. Deren Ziel ist es laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, „dass deutsche und europäische Investoren in Energieprojekten ein günstiges und stabiles wirtschaftliches Klima vorfinden und wir uns auch langfristig auf sichere und zuverlässige Energieimporte verlassen können“. Deutschland solle perspektivisch „auch auf große Quellen erneuerbarer Energien im Ausland zurückgreifen“ können.[3]

Im Rahmen der Energiepartnerschaft mit Marokko soll über die deutsche öffentlich-rechtliche Förderbank KfW die erste Anlage für grünen Wasserstoff in Marokko mit 300 Millionen Euro unterstützt werden. Schon an Noor I waren das deutsche Umweltministerium und das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit durch die KfW mit knapp 830 Millionen Euro beteiligt. Eine Absichtserklärung sah 2020 zudem den Ausbau einer Schiffsroute zwischen Hamburg und der marokkanischen Hafenstadt Tangier zum Transport von Wasserstoff vor. Parallel dazu entstehen staatliche wie privatwirtschaftliche Pläne transkontinentaler Stromtrassen und Wasserstoffpipelines, wie dem SoutH2 Corridor.

Zwar wird stetig betont, von Energieprojekten solle auch die lokale Bevölkerung im produzierenden Land profitieren, es wird aber nur allzu deutlich, dass das letztliche Ziel nationaler Strategien und des europäischen Green New Deals die Versorgung europäischer Energiemärkte ist.

Greenwashing und der Erhalt globaler Machtstrukturen

Die „Pflege guter Beziehungen“ zu Export- und Transitländern erneuerbarer Energien ist zentrales Ziel deutscher Energiepartnerschaften. Eine solche Herangehensweise birgt jedoch die Gefahr, repressive Regime durch Kooperationen zu stärken. Während in Deutschland die Kritik an Importen fossiler Energieträger von autoritären Staaten in den letzten Jahren lauter wurde, bleiben diese Aspekte bei erneuerbaren Energien oft unberücksichtigt. Durch das grüne Label scheint auch die Box „moralisch in Ordnung“ getickt. Außenpolitische Belange, die gegen eine Kooperation sprechen könnten, fallen weniger ins Gewicht. Die Folge: eine Entpolitisierung „grüner“ Investitionen.

Das propagierte grüne Image täuscht aber darüber hinweg, wie eng wirtschaftliche, klimabezogene und hegemoniale Interessen auch bei den erneuerbaren Energien verflochten sind – und dass damit globale und koloniale Machtverhältnisse weiterbestehen. In der kritischen Forschung wird dies als „Grüner Kolonialismus“ bezeichnet. Darunter versteht Hamouchene „die Ausweitung kolonialer Verhältnisse von Ausbeutung und Enteignung auf das grüne Zeitalter der erneuerbaren Energien mit der Abwälzung der soziologischen Kosten auf periphere Länder und Gemeinschaften“.

Für Hamouchene bleibt das System das gleiche – nur die Energiequelle ändert sich. Es werden Ressourcen ausgbeutet, Land wird angeeignet und kommodifiziert (Greengrabbing). Die hierfür getätigten Investitionen dienen in erster Linie den Konsument:innen im Globalen Norden und bereits etablierten Energiekonzernen. Die Wissens-, Wirtschafts- und „grüne“ Technologiemonopole bleiben im Globalen Norden.

Trotz des hohen Handlungsdrucks angesichts der Klimakrise dürfen solche Bedenken nicht ignoriert werden. Erste Ansätze, den Begriff der „grünen“ Energie um sozioökonomische und Fairness-Komponenten zu erweitern, gibt es bereits. Zusätzlich braucht es aber ein Bewusstsein für historische und gegenwärtige Machtstrukturen: für die Kontinuitäten von Ausbeutung, globaler Ungleichheit und Wissenshierarchien. Wie kann die Energiewende sozial, ökologisch, dezentral und demokratisch abseits neokolonialer Dynamiken gestaltet werden – im Globalen Norden und im Globalen Süden? Diese Frage ist dringlicher denn je.

 

 

[1] So auf nationaler Ebene beispielsweise der Verband Zukunft Gas und der Bundesverband Energie- und Wasserwirtschaft, die sich für Wasserstoffnutzung in Bereichen wie dem Heizungssektor einsetzen, in denen dieser nachgewiesenerweise nicht sinnvoll ist, und mit dem Scheinargument der Sozialverträglichkeit aus Erdgas gewonnenen, grauen Wasserstoff propagieren. Auf EU-Ebene aktiv ist die von Unternehmen dominierte Clean Hydrogen Alliance, die europaweit für eine Anerkennung von pinkem und blauem Wasserstoff lobbiiert. Welchen Einfluss diese Stimmen haben, zeigt sich daran, dass solche Vorschläge auch im EU-Ministerrat debattiert werden. Auch in der Neuauflage der Nationalen Wasserstoffstragie 2023 der Bundesregierung gibt es für die Gaslobby weiterhin Schlupflöcher.

[2] Shipping Sunshine ist der Name der Energiepartnerschaft zwischen Australien und Deutschland.

[3]  Für Westafrika gab das BMBF  beispielsweise einen „H2Atlas Africa“ in Auftrag, der die möglichen Produktionskapazitäten und mögliche „Wasserstoff-Wertschätzungsketten“ für grünen Wasserstoff in verschiedenen westafrikanischer Länder darstellt. Auch dieser  „Potenzialatlas" folgt oben genannten neokolonialen Mustern.

 

 

 

Rebecca hat Politikwissenschaften und Soziale Arbeit in Freiburg und Haifa studiert. Seit Anfang 2022 ist sie bei dis:orient und unterstützt im Magazin und bei den Redigaturen. Bei dis:orient freut sie sich besonders an kritischem Austausch und der Vielfalt an Menschen, Themen und Perspektiven.    
Redigiert von Clara Taxis, Pauline Fischer, Charlotte Hahn