Seit den 1980er-Jahren ist die „Lila Nadel“in der Türkei ein Symbol der wehrhaften Frauen. Die feministische Bewegung heute erlebt staatliche Repression. Beispiele wie die kurdischen Samstagsmütter zeigen, wie viel Mut diese Frauen vereint.
Ein Traktor, ein Fernseher, eine Pinzette, Çay und eine lila Nadel. Das sind nur einige der Dinge, die der Blog 100 sene 100 nesne (dt.: „100 Jahre 100 Dinge“) in einer Art Enzyklopädie sammelt. Jeder der hundert Gegenstände dient als Symbol für einen Teil der Geschichte der Türkei. Das Projekt will eine alternative Geschichtsschreibung bieten und wirft einen Blick auf das dingliche, kulturelle und menschliche Erbe der türkischen Republik, die am 29. Oktober 2023 ihr hundertjähriges Bestehen feierte.
Über einen dieser Gegenstände, die Mor İğne (dt.: „Lila Nadel“), hat Hakan Altun, einer der Redakteure des Enzyklopädie-Projekts geschrieben. Die „Lila Nadel“ ist das Symbol der gleichnamigen Frauenrechtsbewegung, die Ende der 1980er-Jahre ihren Anfang nahm. Altun selbst ist Theaterregisseur sowie Film- und Medienwissenschaftler und beschäftigt sich unter anderem mit der politischen und sozialen Konstruktion von Identität und Gender. Im Interview sagte er mir, lieber wäre es ihm gewesen, wenn eine Frau den Beitrag über die Mor İğne-Bewegung geschrieben hätte, aus Zeitgründen habe er es selbst getan. In seinem Text betrachtet Altun die Geschichte der Republik aus der Perspektive des feministischen Widerstands gegen Gewalt an Frauen, sexuelle Übergriffe und das Patriarchat.
Der Austritt aus der Istanbul-Konvention ist ein Rückschritt
Obwohl der Gründer der türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk, den türkischen Frauen als erster Staatspräsident Freiheiten und Rechte einräumte, die es zuvor im Osmanischen Reich nicht gegeben hatte, ist die Gleichberechtigung in der heutigen Türkei noch lange nicht verwirklicht. Auch ist die Zahl der Femizide in der Türkei erschreckend hoch. Und der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention im Jahr 2021 bedeutet sogar einen Rückschritt für die Rechte der Frauen, ihnen wurde damit beispielsweise der rechtliche Schutz vor häuslicher Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe genommen.
Altun beschreibt in seinem Text die feministische Bewegung als die wichtigste Form des alltäglichen Widerstands in der Republik. Während die Ursprünge der türkischen Frauenrechtsbewegung im 19. Jahrhundert verankert sind, entwickeln sich laut Altun in den 1980er-Jahren erstmals Widerstandsbewegungen, die als „feministisch“ bezeichnet werden und in der Türkei dem linken Spektrum zuzuordnen sind. Die Mor İğne-Bewegung war eine der wichtigsten Wegbereiterinnen für den Vormarsch der feministischen Bestrebungen in den Jahren zwischen 1980 und 2000.
Im „Kadin Kültür Evi“, (dt.: Frauenkulturzentrum) im Istanbuler Tünel-Viertel, das im Februar 1989 eröffnet wurde, arbeiteten die federführenden Frauen bei zahlreichen Treffen an den intellektuellen Grundlagen der Bewegung. Ihr Ziel war es, auf die strukturellen Bedingungen aufmerksam zu machen, die Gewalt gegen Frauen und sexuelle Übergriffe begünstigten. Frauen waren nicht nur in ihrem eigenen Umfeld in Gefahr, sondern auch an öffentlichen Orten und Plätzen. Es entstanden Slogans wie: „Giysim sarkıntılığa davetiye değildir!“ (dt.: „Meine Kleidung ist keine Einladung zu Übergriffen!“) und „Geceler ve sokaklar kadınların da hakkı!“(dt.: „Auch Frauen haben ein Recht auf Nächte und Straßen!“).
Die „Lila Nadel“: Von der Waffe zur Selbstverteidigung zum Symbol des Widerstands
Den Slogans folgte ein Manifest, das von Nesrin Tura verfasst wurde. In diesem hielt sie fest, dass die Frauen sich frei bewegen wollten und es satt hatten, überall Übergriffen durch Männer ausgesetzt zu sein. Die Frauen selbst beschreiben sich bei der ersten Aktion der Lila-Nadel-Bewegung öffentlich so:
„Biz tacize karşı mor iğne kampanyasında bir araya gelmiş olan bir grup kadınız. Öğrenciyiz, çalışanız, genciz, yaşlıyız, işçiyiz, avukatız. Kadınız… Sokakta rahat yürümek istiyoruz. Otobüste tedirgin olmak istemiyoruz. Gece sürekli etrafı kollamak zorunda olmak istemiyoruz“ (dt.: „Wir sind eine Gruppe von Frauen, die sich in der Lila-Nadel-Bewegung gegen sexuelle Belästigung zusammengeschlossen haben. Wir sind Studentinnen, Angestellte, jung, alt, Arbeiterinnen, Anwältinnen. Wir sind Frauen... Wir wollen in Ruhe auf der Straße laufen. Wir wollen uns im Bus nicht unwohl fühlen. Wir wollen uns nachts nicht ständig umschauen müssen“).
Eine der Frauen, Saadet Özkal, hatte die Idee, eine lila Nadel als Symbol des Widerstands zu verwenden. An die Kleidung geheftete Nadeln waren in Istanbul der 1980er-Jahre eine gängige Methode, um sexuelle Übergriffe durch Männer in öffentlichen Verkehrsmitteln abzuwehren. Die Frauen machten die Nadel zum Symbol des Widerstandes und kombinierten sie mit der Farbe Lila, die ohnehin schon von der Frauenbewegung genutzt wurde.
Das feministische Manifest gleicht einem Verkaufstext, der die Nadeln anpreist
So wurde die Nadel als Waffe der Selbstverteidigung benannt und von folgendem Slogan begleitet: „Utanma haykır, susma iğneyi batır!“ (dt.: „Schäm dich nicht, schrei, schweig nicht und stich mit der Nadel!“). Die Scham, ungewollt angefasst zu werden, sollte so von den Opfern auf die Täter übertragen werden. Frauen sollten darin gestärkt werden, sich lautstark gegen Übergriffe zu wehren.
Das Manifest, welches die lila Nadel als Symbol des Widerstands etablierte, ist im selben Stil geschrieben wie Verkaufstexte, die für den Verkauf von Alltagsgegenständen auf den berühmten Fähren Istanbuls benutzt wurden. Filiz Karakuş, eine weitere Aktivistin aus dem Frauenkulturzentrum, las das Manifest am 2. November 1989 auf einer Istanbuler Fährfahrt zwischen Kadıköy und Karaköy vor, während die anderen Frauen lila Nadeln verkauften.
Hakan Altun bezeichnet diese Öffentlichkeitsarbeit in seinem Beitrag als „Performance” und „Installation”, und tatsächlich lag der ganzen Aktion eine kreative und handwerkliche Arbeit zugrunde, wie Handan Koç, Mitbegründerin der Bewegung, in einem Interview erzählte. Die Gruppe verzierte unzählige Nadeln von Hand mit lila Köpfen oder Bändern. Für die Aktion auf der Fähre zogen die Aktivistinnen sich festlich an. Während ihrer Kundgebung mussten die Frauen Haltung und Miene bewahren, als sie von Männern angerempelt und beschimpft wurden.
„Geceleri de sokakları da terketmiyoruz!“ (dt.: „Wir verlassen weder die Nächte, noch die Straßen!“)
Im Jahr 2008 erlebt die Mor İğne-Bewegung eine zweite Hochzeit. In der Silvesternacht 2007/2008 wird ein Übergriff auf zwei Frauen auf dem zentralen Istanbuler Taksim-Platz gefilmt. Die Täter werden lediglich wegen einer Ordnungswidrigkeit verurteilt, die mit einer geringen Geldstrafe geahndet wird. Daraufhin versammeln sich in Istanbul vom 4. Januar bis zum 8. März 2008 jeden Freitagabend Feminist:innen, von denen einige wie Filiz Karakuş die Bewegung schon 1989 in Gang gesetzt hatten, auf dem Taksim-Platz, verkaufen lila Nadeln und machen auf sexuelle Übergriffe aufmerksam. Ein Jahr später, in der Silvesternacht des Jahres 2008/2009, demonstrieren Frauen auf der İstiklal Caddesi, einer der bekanntesten Straßen Istanbuls, mit dem Slogan „Geceleri de sokakları da terketmiyoruz!“ (dt.: „Wir verlassen weder die Nächte, noch die Straßen“).
Die Journalistin Emine Özcan berichtet in ihrem Artikel vom November 2008 auf dem unabhängigen Nachrichtenportal Bianet über die Lila-Nadel-Bewegung und ihre persönlichen Erfahrungen. Sie erzählt von herablassenden Kommentaren ihrer männlichen Mitbewohner über Postkarten der Mor İğne-Bewegung, die sie im gemeinsamen Wohnzimmer der Studierenden aufgehängt hatte. Zu oft wird vergessen, dass sich Frauen, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen, sich Mobbing, Erniedrigung oder gar Gefährdung aussetzen müssen.
Die kurdische Frauenrechtsbewegung steht vor den größten Herausforderungen
Jedes Jahr am 8. März, dem Weltfrauentag, findet in Istanbul eine Demonstration für die Gleichberechtigung von Frauen statt, der gesamte Stadtteil Beyoğlu mit der İstiklal Cadesi ist an diesem Tag lila gefärbt. Die Proteste werden seit einigen Jahren immer wieder von der Polizei gewaltsam gestört und unterbunden, so dass sie seit dem Jahr 2020, auch aufgrund der Corona-Pandemie, nicht mehr in diesem Umfang stattfinden.
Auch die so genannten Samstagsmütter, eine Gruppe von mehrheitlich kurdischen Frauen, die sich seit 1995 jeden Samstag auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul versammeln und eine Mahnwache für ihre verschwundenen Familienangehörigen abhalten, werden immer wieder ihres Demonstrationsrechts beraubt. Ein Beispiel ist die Klage von Maside Ocak, der Schwester des verschwundenen Hasan Ocak, vor dem Verfassungsgericht. Dieses gab ihr Recht und entschied im Februar 2023, dass das Auflösen der Proteste von Seiten der Polizei rechtswidrig ist und gegen das Recht zur friedlichen Versammlung verstößt. Und trotzdem geschieht dies bereits seit 2018 immer wieder. Die Familie Ocak gehörte zu den ersten, die seit 1995 in Istanbul auf die Straße gehen, um auf das gewaltsame Verschwindenlassen ihrer Familienmitglieder aufmerksam zu machen.
Laut Hakan Altuns Beitrag im Blogprojekt 100 sene 100 nesne zur Lila Nadel sind es vor allem die kurdischen Frauen, die in den gegenwärtigen, sehr heterogenen Frauenbewegungen der Türkei vor den größten Herausforderungen stehen. Er erklärt, dass sie sich nicht nur gegen die hegemonialen Kräfte der türkisch dominierten Gesellschaft durchsetzen wollen, sondern sich auch gegen die Menschenrechtsverletzungen zur Wehr setzen, die sie und ihre Angehörigen als Kurd:innen erleben.
Laut Amnesty International versammeln sich die Bürgerrechtler:innen der Samstagsmütter-Bewegung seit April 2023 trotzdem wieder regelmäßig. Ihr Bedürfnis nach Gerechtigkeit ist größer als die Angst vor den Folgen des zivilen Ungehorsams. Sie fordern die Aufklärung der Verbrechen, die hinter dem Verschwinden ihrer Angehörigen stehen.