Kurdische Frauen in Iran sind an vorderster Front der Proteste. Geprägt wurden sie durch Jahrzehnte währende Gewalt und Traumata. Und sie stehen für einen historischen Widerstand gegen das Regime.
Wie könnte man die Situation der kurdischen Frauen in Kurdistan-Iran besser beschreiben, als mit dem Fall von Jîna Amini zu beginnen? Ihr Gesicht wurde zum Symbol des Widerstands gegen die Islamische Republik Iran.
Bei Jînas Beerdigung entschlossen sich die kurdischen Frauen einmal mehr, dass sie genug hatten: genug von Ungerechtigkeit, genug von Gewalt, genug von Entmenschlichung. In ihrer Empörung und Trauer legten die Frauen ihre Kopftücher ab und begannen, den kurdischen Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ (dt.: Frau, Leben, Freiheit) und „Tod dem Diktator!“ zu skandieren.
Es ist mittlerweile bekannt, dass ihr Widerstand schnell landesweite Proteste entfachte, die schon drei Monate andauern. In den letzten Wochen hat der iranische Staat die Gewalt und Unterdrückung in den von Kurd:innen und anderen Minderheiten bewohnten Regionen verschärft.
Bevor wir diesen Artikel schrieben, haben wir, die Autorinnen, mit kurdischen Frauen in Kurdistan-Iran gesprochen. Dadurch sollen Kurdinnen über ihre Erfahrungen berichten und ihre Stimmen und Vision von Freiheit ausdrücken. Sie haben uns persönliche Details aus ihren Leben mitgeteilt. Wir möchten ihnen für ihren Mut danken.
JIN – FRAU
Im Verlauf dieser Revolution betonen viele Beobachter:innen immer wieder die Tatsache, dass die Proteste zuerst unter kurdischen Frauen ausgebrochen sind. Dieses Detail ist von grundlegender Bedeutung, da die kurdischen Frauen in Iran eine besonders vulnerable Position einnehmen und eine lange Geschichte des Widerstands haben.
Für kurdische Frauen war der Tod von Jîna Amini kein alleinstehender Einzelfall. Er rief tiefe Traumata und historische Tragödien wach und erinnerte sie in aller Deutlichkeit an die systematische Unterdrückung, die sie in ihrem täglichen Leben ertragen müssen.
Um den Kontext zu verstehen, in dem kurdische Frauen leben, müssen wir zunächst verstehen, dass Iran ein Land ist, in dem alle Menschen, die die Islamische Republik kritisieren oder sozialen Aktivismus betreiben, ihre Freiheit, ihre Sicherheit und ihr Leben aufs Spiel setzen. Es gibt große sozioökonomische Missstände. Millionen von Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze und die Arbeitslosenquote ist hoch. Bestimmte Faktoren erhöhen für die Menschen jedoch die Betroffenheit von Diskriminierung und Gewalt.
Frauen im Allgemeinen werden durch die Gesetze und Praktiken diskriminiert, unter anderem in den Bereichen Heirat, Scheidung, Beschäftigung und Erbschaft. Darüber hinaus gibt es keine funktionierenden Gesetze zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt.
Nicht-persische Frauen sind sogar noch schlechter dran. Nach Angaben der Sonderberichterstattung der Vereinten Nationen über Gewalt gegen Frauen ist die staatliche Diskriminierung anderer ethnischer und religiöser Gruppen in Iran institutionalisiert. Frauen aus diesen Gruppen erleben vielfältige Formen der Marginalisierung.
Für Kurdinnen, Belutschinnen, Araberinnen und Bahá‘í-Frauen, um nur einige zu nennen, umfassen diese Mehrfachdiskriminierungen neben dem Geschlecht auch die ethnische Zugehörigkeit und die Religion, so dass sie dreifach unterdrückt werden.
Aus diesem Grund muss die Stellung dieser marginalisierten Frauen getrennt von der der „iranischen Frauen“ analysiert und problematisiert werden. Die Lage und Lebensbedingungen zwischen den Bevölkerungsgruppen innerhalb der iranischen Grenzen sind sehr unterschiedlich.
JIYAN – LEBEN
Die Kurd:innen in Iran sind seit der Gründung der Islamischen Republik Zwangsassimilation, Verfolgung, Folter und Hinrichtungen ausgesetzt.
Manchmal sind die repressiven Maßnahmen des Staates sehr subtil: So wird beispielsweise die kurdische Sprache im privaten Bereich oft toleriert, während sie im öffentlichen Leben verboten ist. Zu anderen Zeitpunkten sind sie offener: jegliches kurdisches soziale und politische Engagement kann zum Ausgangspunkt für Strafverfolgung, lange Gefängnisstrafen und sogar die Todesstrafe werden.
Der Fall der 29-jährigen Zahra Mohamadi ist ein Beispiel dafür. Die Aktivistin verbüßt derzeit eine fünfjährige Haftstrafe, nur weil sie kurdische Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet hat.
Dieser Fall reicht, um die Entfremdung der Kurd:innen zu erklären. Doch Unterdrückung und Diskriminierung richten sich nicht nur gegen den Ausdruck der kulturellen und sprachlichen Identität.
Aufgrund der extremen Vernachlässigung Kurdistan-Irans durch den Staat ist die Alphabetisierungsrate kurdischer Frauen und Mädchen, insbesondere in ländlichen Gebieten, eine der niedrigsten in Iran. Viele Kurdinnen, insbesondere die ältere Generation, sprechen oder verstehen überhaupt kein Persisch. Die Provinzen, die Kurdistan-Iran bilden, gehören zu den ärmsten in Iran mit einer der höchsten Arbeitslosenquoten des Landes.
Schaffen es Mädchen, eine Grundbildung zu erhalten, kämpfen sie gegen weitere Hürden, um dann noch das Recht auf höhere Bildung und Beschäftigung zu erlangen. Das Gozinesch-Gesetz von 1985 verbietet bestimmten religiösen und ethnischen Gruppen die uneingeschränkte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Der Staat überwacht nicht nur, welchem Glauben und welcher Ethnizität seine Bürger:innen angehören, sondern auch, ob Familienmitglieder politisch aktiv sind oder ob ein Verwandter jemals inhaftiert wurde. Die Familien werden entweder als Anhänger:innen oder als Feind:innen der „Islamischen Revolution“ eingestuft.
Arbeitsmöglichkeiten sind daher äußerst schwer zu finden. Das Angebot einer staatlichen Anstellung setzt oft voraus, dass junge Frauen die kurdischen Städte verlassen - ein riskanter Schritt, den nicht jede Frau bereit ist (oder von ihrer Familie erlaubt wird) zu tun. Die Frauen, mit denen wir gesprochen haben, beklagten, dass sie sich in nicht-kurdischen Städten nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund ihres ethnischen und religiösen Hintergrunds schutzlos ausgeliefert fühlen. Das bedeutet nicht, dass die Privatsphäre zwangsläufig immer ein sicherer Ort ist – im Gegenteil, es gibt auch häusliche Gewalt, Morde im Namen der „Ehre“[1], Genitalverstümmelung und Selbstverbrennung.
In den letzten Jahren hatten viele Frauen keine andere Wahl, außer als „Kolbar“ die Hauptfinanziers für ihre Familien zu werden. Dabei tragen sie als (illegale) „Kuriere“ schwere Waren auf dem Rücken nach Kurdistan-Irak. Die Kolbars arbeiten unter extremen Bedingungen für wenig Geld und laufen Gefahr, von Bergkanten zu stürzen, zu erfrieren oder von iranischen Sicherheitskräften erschossen zu werden.
AZADÎ – FREIHEIT
Historisch betrachtet haben sich viele kurdische Frauen den bewaffneten Kräften der kurdischen Oppositionsparteien angeschlossen, welche der Islamischen Republik seit der Machtübernahme durch Ayatollah Khomeini Widerstand leisten. Für diese Frauen ist der bewaffnete Kampf zum einen ein Ausweg aus der willkürlichen Gewalt der Islamischen Republik gegen Frauen und Kurd:innen. Zum anderen ist er auch eine Chance, sich von der patriarchalen Unterdrückung auf der familiären und gesellschaftlichen Ebene zu befreien.
Krieg und Waffen haben nichts romantisches an sich. Diese Frauen wachsen in einem von Konflikt und Gewalt geprägten Umfeld auf. Sie tragen seit Generationen ein kurdisches Trauma in sich, das sie an ihre Kinder weitergeben. Sie sind Mütter, Schwestern, Töchter, Freundinnen und Ehefrauen von geliebten Menschen, die sie aufgrund des iranischen Staates verloren haben. Dass sie keine andere Wahl haben, als sich selbst und ihre Gemeinschaft mit ihrem Leben zu verteidigen, ist bezeichnend für die Umstände, unter denen sie als Individuum und Gesellschaft existieren.
Trotz der Unterschiede kann eine Parallele zwischen diesen Kämpferinnen und den friedlich protestierenden Frauen während der laufenden Revolution gezogen werden. Jedes Mal wenn sie vor die Tür gehen, riskieren Frauen, die kämpfen, und Frauen, die protestieren, ihr Leben. Sie sind zu sterben bereit, für das Recht als freie Menschen zu leben – ohne dass der Staat oder das Patriarchat ihnen vorschreibt, wie sie zu leben haben und wer sie (nicht) sein dürfen.
Und vielleicht kann dieser kleinste gemeinsame Nenner dem Rest Irans Einblicke in den mehr als 40 Jahre währenden Kampf der kurdischen Frauen gegen die Islamische Republik geben.
Um auf Jîna Amini zurückzukommen: In ihr manifestierte sich der ultimative Feind des Staates. Sie war eine Frau, eine Kurdin und eine sunnitische Muslimin.
Kurdische Frauen möchten sich frei auf der Straße bewegen können, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen. Sie wollen das Recht auf ihre eigenen Lebensentscheidungen, auf ihre Kultur, ihre Muttersprache, ihre Literatur und Kunst, ihre selbst geschriebene Geschichte und ihr Erbe. Sie wollen in ihren Heimatländern leben, ohne ständig zu hören, sie seien Eindringlinge. Sie wollen körperliche Autonomie und ein Ende von Praktiken wie der Genitalverstümmelung. Sie wollen über ihre Sexualität bestimmen. Sie wollen ein Leben frei von Krieg, Trauma und Gewalt führen – ohne die Notwendigkeit, zu den Waffen zu greifen oder zur Selbstverteidigung auf die Straße zu gehen.
Als kurdische Frauen haben wir uns darauf konzentriert, was den Kampf unserer Gemeinschaft auszeichnet. Ebenso wichtig ist es, dass unsere belutschischen, afghanischen, arabischen, Bahá’í und weitere Schwestern dringend Plattformen und Foren erhalten, in denen sie die vielen Ebenen der Diskriminierung von ihrer besonderen Notlage problematisieren und darstellen können.
Wenn es um Frauen in Iran und ihre Forderungen und Wünsche geht, kann es nicht die eine Analyse geben. Es handelt sich um ein Land mit einem komplexen Geflecht diskriminierender Praktiken und „otherification“ nicht nur in Bezug auf das Geschlecht, sondern auch auf die Ethnizität und die Religion. Die Realität entfaltet sich in diesen Überschneidungen. Repräsentation ist deshalb in allen Kontexten und Situationen hinsichtlich der Frauen in Iran von Bedeutung.
Kurdish Peace Institute“ in englischer Sprache und wurde von dis:orient ins Deutsche übersetzt und zweitveröffentlicht. Der Originalbeitrag ist auf Englisch hier einsehbar: Uprising in Iran: What Do Kurdish Women Demand?
Dieser Artikel erschien zuerst im „[1] Im deutschen Diskurs ist der Begriff „Ehrenmord“ problematisch, da er das Problem der Femizide auf eine „nicht-deutsche“ Gruppe auslagert und als spezifisch muslimisches Problem kulturalisiert.