Mohamed Amjahid ist als Journalist und Buchautor eine wichtige antirassistische Stimme in der deutschen Öffentlichkeit. Im Interview spricht er über das Aufwachsen und seine Arbeit zwischen Deutschland und Marokko.
Mohamed Amjahid, du hast in Deutschland eine gewisse Bekanntheit erreicht, aber in Marokko kennen dich nur Wenige. Kannst du uns einen Einblick in deinen Werdegang geben?
Ich bin 1988 in Frankfurt geboren, als Kind von Eltern, die als Arbeiter:innen aus Marokko nach Deutschland gekommen sind. Mein Vater war ein einfacher Arbeiter und meine Mutter hat den Haushalt gemacht. Sie gehören zu der Generation, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit aufgebaut hat. Sie haben dreißig Jahre in Deutschland gearbeitet, bis sie 1995 nach Marokko zurückgegangen sind, müde von Rassismus, sozialem Ausschluss und Geldnöten. Um in Deutschland gut leben zu können, braucht man eine akademische oder professionelle Karriere, und die hatten sie nicht.
Ich habe bei mehreren deutschen Medien gearbeitet, als Berichterstatter über die arabischen Revolutionen und die Situation von Migrant:innen in Deutschland, aber dann auch als Redakteur [u.a. bei DIE ZEIT, Anm. d. Red.]. Heute bin ich freier Journalist und arbeite an meinen eigenen Projekten. Das empfinde ich schon als Privileg.
Kannst du uns etwas mehr über die Zeit erzählen, in der du in Marokko gelebt hast?
Ich habe zwölf Jahre in Marokko gelebt. Ich erinnere mich noch daran, wie wir mit Royal Air Maroc von Frankfurt nach Casablanca geflogen sind. Das war 1995. Damals war ich sieben Jahre alt. Ich war wirklich jung und habe kein Wort Arabisch verstanden. Schon im Flugzeug hatte ich Probleme, mich mit dem Flugbegleiter zu verständigen und da wurde mir klar, dass ich Arabisch lernen muss, um in diesem neuen Land zu überleben. Wir sind nach Meknès gezogen, eine mittelgroße Stadt im Landesinneren.
Meine Mutter hat mir später erzählt, dass ich in nur drei Monaten Arabisch gelernt habe, weil ich so gesprächig war. Ehrlich gesagt ist es mir am Anfang aber ganz schön schwer gefallen, mich in der Schule zu integrieren. Das marokkanische Schulsystem ist ganz anders als das deutsche. Aber dadurch, dass ich noch so klein war als ich nach Marokko kam, konnte ich doch recht leicht Arabisch lernen und mich in die marokkanische Kultur einfinden. Ich bin bis zum Abitur in Marokko geblieben. Als Jugendlicher habe ich mich sehr für politische Angelegenheiten interessiert. Meine Mutter denkt das kommt daher, dass sie viele Politsendungen gesehen hat als sie mit mir schwanger war. Vielleicht bin ich ja deshalb Journalist geworden.
Wie kamst du zum Journalismus?
Schon mit 14 Jahren war ich Journalismus-begeistert und habe versucht, bei verschiedenen marokkanischen Zeitungen ein Praktikum zu bekommen. Ich habe meine Anfragen an einige Lokalzeitungen in verschiedenen Städten geschickt. Ich hatte das Glück an einer Schulzeitung mitzuwirken, die ein Lehrer aus eigener Tasche aufgebaut hatte. Ich dachte, dass ich da ein paar Wochen bleiben würde – schlussendlich waren es zwei Jahre. Das waren meine ersten Schritte im Journalismus.
Danach habe ich einen Blog gestartet und dort meine Artikel auf Arabisch, Französisch, Deutsch und Englisch veröffentlicht. Einmal hatte ich einen Artikel, der 5000 Mal gelesen wurde. Darauf war ich stolz. Grundsätzlich hat mir diese Zeit in Marokko sehr für meine späteren Recherchen über das Land geholfen.
Wie hilft dir deine Rolle als Journalist, in Deutschland Vorurteile über Marokkaner:innen abzubauen?
Als ich 2007 nach Deutschland zurückkam, ist mir klar geworden, wie sehr es an korrekter und unvoreingenommener Berichterstattung über Nordafrika und Westasien fehlt und wie wichtig diese ist. Als Korrespondent war ich überall in dieser Region unterwegs, um von den demokratischen Revolutionen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und auch den Demonstrationen rund um den 20. Februar in Marokko[1] zu berichten.
Mein Studium der Anthropologie und Politikwissenschaft hat mir dabei sehr geholfen und ich habe diese Erfahrung sehr genossen, die mir ein besseres Verständnis von Rassismus und „Weißsein“ in Deutschland ermöglicht hat.
2017 habe ich dann ein Buch über das institutionalisierte „Weißsein“ in Deutschland geschrieben. Im Kampf gegen Rassismus sind es bis heute meine Kindheits- und Alltagserfahrungen als PoC; die mir dabei helfen, weißes Denken und Weißsein zu dekonstruieren. Auch mit den Büchern, die ich heute schreibe[2] und in der freiberuflichen Projektarbeit suche ich weiter nach Wahrheiten. Der Vorteil an meiner heutigen Arbeit ist, mehr Zeit zu haben und sich mit den Themen tiefgründiger auseinandersetzen zu können.
Meine Perspektive ist weder deutsch noch marokkanisch. Ich versuche so objektiv wie möglich zu bleiben, obwohl mich die Anliegen meiner Gesellschaft und meines Herkunftslandes sehr beschäftigen. Geschichten von queeren, Schwarzen und migrantischen Menschen sind sehr wichtig, um das wahre Wesen unserer Gesellschaften zu verstehen, sei es in Marokko oder in Deutschland.
Was bedeutet dir die Stadt Agadir?
Als ich 14 war, wäre ich gerne losgereist, um die Welt zu entdecken. Aber wir waren nicht reich und ich hätte niemals ein Visum bekommen. Sogar Deutschland, das Land, in dem ich geboren wurde und in dem meine Schwester weiterhin lebte, verwehrte mir den Einlass.
Also bin ich in ganz Marokko herumgereist. 2005 habe ich mit den Küstenstädten angefangen. Und so habe ich die Großstadt Agadir kennengelernt. Weil ich aus Meknès war, kam mir Agadir sehr weit weg vor und selbst die Leute waren für mich anders, vor allem die Ausländer:innen. Ich erinnere mich an die Reise in einem klapprigen Bus. Und als wir ankamen dachte ich, ich sei in Deutschland, so viele deutsche Tourist:innen waren da. Es gab sogar deutsche Zeitungen in Agadir!
Einmal war ich auch mit meiner Schwester, ihrem Mann und einer ihrer Freundinnen da. Im Hotel hat der Rezeptionist uns einfach auf die Zimmer aufgeteilt: Männer in eines, Frauen in das andere. Wenn zwei unverheiratete Menschen verschiedenen Geschlechts in einem Zimmer übernachten, ist das für das Hotel das Gleiche wie Prostitution.
Woran liegt das?
Ich habe schnell bemerkt, dass Prostitution in der Stadt allgegenwärtig ist. Die meisten Klient:innen sind ausländische Tourist:innen, deutsche und andere. Prostitution von Frauen, Männern, Minderjährigen. Bis heute hat sich nichts verändert. Man verschließt immer noch die Augen davor. Ich erinnere mich, wie ich einmal am Flughafen zwei deutsche Männer über ihre Erfahrungen mit kleinen Jungen habe sprechen hören. Sie haben sehr frei darüber geredet und dachten wohl, ich verstehe kein Deutsch. Ich war absolut schockiert.
In Marokko gibt es ein großes Problem mit Sextourismus. Es gibt Deutsche, die das ganze Jahr sparen, um nach Marokko zu kommen und „für wenig Geld einen drauf zu machen“. Auch wenn Sexarbeit in Marokko kriminalisiert wird, ist sie - wie in vielen anderen Ländern auch – eine wichtige Treibkraft für die Tourismusbranche.
Dazu kommt, dass es selten die Tourist:innen sind, die sich Sorgen machen müssen wenn es zu Problemen oder Verhaftungen kommt. Im schlimmsten Fall werden sie des Landes verwiesen, während Sexarbeiter:innen riskieren ins Gefängnis zu kommen. Auch das gehört zu den weißen Privilegien: Der oder die Weiße kann immer bezahlen, um davon zu kommen, während das schwächere Gegenüber im Gefängnis landet. Ich bin der Überzeugung, dass im Falle eines Missbrauchs allein die Person verantwortlich ist, die missbraucht. Während die Armen und Verletzlichen sich prostituieren um zu überleben, nutzen die, die missbrauchen, einfach nur ihre Privilegien aus.
Sind das neue Phänomene?
Missbrauch von weißen Privilegien in Agadir gibt es nicht erst seit Kurzem. Deutsche Mit-Sechziger erzählen mir von der Hippie-Zeit, als Weiße für Gras, Sex und Sonne nach Agadir gekommen sind. All diese „Freuden“ waren der lokalen Bevölkerung natürlich strikt verboten.
Apropos Agadir: Das erinnert mich an diese berühmten Flüge von Berlin nach Agadir. Viele meiner Freund:innen und Bekannten reden ständig darüber. Dazu muss man wissen, dass die deutsche Tourismusbranche Pauschalreisen anbietet, was bedeutet, dass Deutsche einen vom Hinflug bis zum Rückflug durchorganisierten Urlaubsaufenthalt in Marokko buchen können. Den Kund:innen geht es in erster Linie darum sich zu entspannen und die Sonne und die schöne Landschaft des Landes zu genießen.
Verwerflich ist jedoch, dass diese Art von Billigurlaub auf Kosten schlecht bezahlter lokaler Arbeitskräfte möglich gemacht wird. Außerdem kommt es im Rahmen solcher Reisen auch zu Übergriffen durch die Urlauber:innen, zu Missbrauch an Kindern und Sexarbeiter:innen. Ich denke schon lange, dass sich das Thema für eine Studie anbietet.
2015/2016 wollte die deutsche Regierung Marokko zu einem „sicheren Herkunftsstaat“ erklären. Was hältst du davon?
Marokko ist für Frauen, Minderheiten und Migrant:innen kein sicheres Land. Glücklicherweise konnten einige Abgeordnete der Grünen in Deutschland diese Entscheidung damals abwenden. 2016 habe ich einen Artikel zur Frage geschrieben, ob Marokko für Marokkaner:innen wirklich sicher ist. Ich hatte mit Wissenschaftler:innen und Betroffenen gesprochen. Heraus kam, dass Marokko kein sicheres Land ist, schon gar nicht für queere Menschen. Vielleicht ist es für einige queere Tourist:innen sicher, die nach Marrakesch oder Agadir kommen. Wie gesagt, wenn ein sexuelles Verhältnis zwischen einer marokkanischen und einer ausländischen Person zu Problemen führt, ist es immer der Mensch mit marokkanischem Pass, dem das teuer zu stehen kommt, während die Leute aus dem Ausland im schlimmsten Fall in ihr Land zurückgeschickt werden.
Deshalb kann man Marokko für ausländische Tourist:innen als sicheres Land sehen, nicht aber für Marokkaner:innen selbst. Vor allem für Menschen, die in diesem Sektor sehr aktiv sind, wie Sexarbeiter:innen und insbesondere queere Sexarbeiter:innen, ist es nicht sicher. Marokko als sicheres Land zu betrachten, kann zudem schwere Folgen für Marokkaner:innen haben, die als Asylsuchende nach Deutschland gekommen sind.[3]
Wie denken die Deutschen deiner Meinung nach über Marokko?
Es ist eine Tatsache, dass manche Deutsche marokkanische Einwanderer:innen als Menschen zweiter Klasse betrachten. Ich habe vor einigen Jahren viel dazu gearbeitet, mit welchem Blick die Deutschen Geflüchtete und Migrant:innen betrachten. Was deutsche und marokkanische Medien in Bezug auf Berichterstattung über Marokko gemeinsam haben: Sie stellen die Fortschritte, die es in manchen Bereichen wie dem Tourismussektor gibt, in den Vordergrund, ohne jemals über die Probleme der Beschäftigten oder deren Arbeitsbedingungen zu sprechen.
Das lässt sich nicht bestreiten. Manche Weißen halten marokkanische Männer – und überhaupt alle Migranten – für gefährlich, besonders für weiße Frauen. Das bringt mich auf einen Artikel, den ich geschrieben habe. Darin geht es um die Erfahrungen einer Prostituierten, die in Marokko missbraucht wurde, und ihres Bruders, der in Deutschland verhaftet und nach Marokko abgeschoben worden ist.
Viele Menschen waren von dem Artikel schockiert. Zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung in Deutschland war der Junge minderjährig. Es war mir ein Anliegen, seine Geschichte und die seiner Schwester festzuhalten, um zu zeigen, dass Gewalt nicht einseitig ist. Leider gibt es in den deutschen Medien kaum Perspektiven wie diese.
Wenn mich ein:e deutsche:r Freund:in nach Tipps für einen Marokko-Urlaub fragt, sage ich: Du hast zwei Optionen. Entweder du buchst eine Pauschalreise mit Hotel. Dann wirst du deutsche Landsleute und andere Tourist:innen kennenlernen. Oder du suchst dir einen Platz zum Couchsurfen. Dann erlebst du Marokko von seiner alltäglichen Seite und lernst Land und Leute richtig kennen.
Wie stehst du zum heutigen Marokko?
Es ist klar, dass Marokko es schafft, sich in den internationalen Medien zu profilieren, indem es den Tourismus und seine Position zu erneuerbaren Energien hervorhebt. Aber die Realität im Land ist eine andere.
Manchmal, wenn ich die Lage mancher Bevölkerungsgruppen im Land und die schweren Schicksale einiger Menschen sehe, kann ich nicht umhin mich zu fragen: Wohin fließt das ganze Geld aus dem Tourismus? Selbst die Angestellten der Tourismusbranche leben teilweise unter widrigen Bedingungen.
Außerdem muss ich mehr über die Situation in Marokko recherchieren. Ich denke ernsthaft darüber nach, als Journalist nach Marokko zurückzukehren, um mit Marokkaner:innen in Kontakt zu sein, um sie nach ihren Erfahrungen zu fragen, nach ihren Schwierigkeiten als Schwarze, queere, arme Menschen und nach den Erfahrungen von unterdrückten Menschen im Allgemeinen. Ich bin immer noch an alldem interessiert und werde eines Tages nach Marokko zurückkommen, um diese Arbeit zu machen.
[1]Im Zuge der Proteste 2011 kam es in ganz Marokko zu großen Demonstrationen, die am 20. Februar einen ersten Höhepunkt erreichten und die Bewegung Mouvement du 20 Février hervorbrachten.
[2] Sein aktuelles Buch „Der weiße Fleck“ erschien am 01.03.2021 im Piper Verlag,
[3]„Als „sicherer Herkunftsstaat“ gilt ein Land, „[…] wenn dort generell keine staatliche Verfolgung zu befürchten ist und [...] der jeweilige Staat grundsätzlich vor nichtstaatlicher Verfolgung schützen kann […]“ (Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Angehörige dieser Staaten haben weiterhin die Möglichkeit, in Deutschland Asyl zu beantragen, sind rechtlich aber schlechter gestellt als andere Asylsuchende und die Chancen auf Bewilligung ihrer Anträge sind weitaus geringer.