Reisen bieten Einblicke in neue Lebensrealitäten. Manchmal sind sie auch der Beginn von sexuellen und romantischen Beziehungen. Diese Begegnungen können globale Ungleichheit und Rassismen, aber auch Offenheit und Verständnis in sich tragen.
Zwischen Berlin und Agadir liegen 3838.9 Kilometer. Verbunden sind Berlin und Agadir durch Geschichten und Erlebnisse, und denen wollen wir hier nachgehen. Es sind Geschichten über Begegnungen, Gesprächen und Freundschaften. Manchmal handeln sie aber auch von Ausbeutung. Einige dieser Geschichten stören im öffentlichen Diskurs, über andere spricht man nicht laut.
Dieser Artikel will Menschen aus Agadir und Berlin erzählen lassen. Menschen, die sich oft im Urlaubskontext begegnen und dabei mal mehr, mal weniger Zeit miteinander verbringen. Dabei wird aus kulturellem Dialog zuweilen sexuelle Ausbeutung.
Yuri*, 28, Faux-Guide[1]: „Du kannst ihm stundenlang erklären, dass du Amazigh bist, aber für ihn bleibst du ein Araber.“
Der junge Agadiri Yuri ist arbeitslos, verdient manchmal Geld als Faux-Guide und ab und zu als Sexarbeiter. Yuri ist homosexuell. Alle seine Partner kommen aus dem Ausland. Obwohl er mit ihnen seine Sexualität voll ausleben kann, ist er nicht zufrieden. Beziehungen mit Ausländern sind oft unausgeglichen, sagt er, und erzählt von kultureller Dominanz an Stelle von Dialog.
„Das Dominazgehabe zeigt sich in kleinen Gesten, überall bis hin zu komplexen Diskussionen. Ohne verallgemeinern zu wollen: kulturelle Dominanz geht häufig von weißen, etwas älteren Franzosen aus. Du kannst ihnen stundenlang erklären, dass du Amazigh bist, aber für sie bleibst du ein Araber. Sie erklären dir, wie man richtig isst. Das hat mein Ex-Partner gemacht. Er hat sich immer aufgeregt, wenn ich mit den Händen esse. Dann hat er darauf bestanden, dass ich Besteck benutze, weil es die einzig richtige Art zu essen sei.
Ein anderer Freund fand die Art wie ich mich auf den Boden setze sehr ‚exotisch‘. Das würde ich so machen, weil meine Vorfahren in Zelten gelebt hätten, hat er mir erklärt. Und das sei ja auch ganz bestimmt nichts Schlechtes. Er wisse, dass unser Prophet Mohamed das auch so gemacht hat.
Solche Sachen habe ich schon hundert Mal zu hören bekommen. Ich bin dann immer hin- und hergerissen zwischen einem Lachanfall und Wut, die manchmal angesichts so viel Dummheit und Überheblichkeit in mir aufsteigt. Mein derzeitiger Freund findet meine Art zu küssen zu wild und will mir unbedingt French Kissing beibringen, weil er das feinfühliger findet. Und das anhand von Porno-Videos mit weißen Männern!“
Mariama*, 25, Studentin: „Ich treffe in Taghazout und Imsouane zunehmend junge Leute, die respektvoll sind und auf die Leute in ihrem Umfeld achten.“
Die 25-jährige Mariama ist Agadirerin, liebt Fremdsprachen und studiert englische Literatur. Seit fünf Jahren trifft sie sich regelmäßig mit Karl, einem jungen Mann aus Deutschland, der für sein Leben gerne surft und in diesem Zusammenhang regelmäßig nach Agadir kommt. Neben seiner Leidenschaft fürs Surfen, schätzt Mariama an Karl den Respekt, den er für ihre Kultur aufbringt. Sie erklärt mir, dass Karl anders sei, als alle Ausländer:innen die sie zuvor kennengelernt habe.
„Karl interessiert sich sehr für meine Kultur. Er liebt es, meine ganz normalen Alltagsorte zu besuchen. Er passt sich an meinen Kontext an. Er ist diskret, wenn es sich gehört und besonders, wenn ich ihn darum bitte, weil er versteht, dass ich als marokkanische Frau in Agadir auf mein Verhalten in der Öffentlichkeit achten muss. Kein Küssen am Strand, kein Händchenhalten beim Spazierengehen und kein offizielles Vorstellen bei meinen Eltern. Auch wenn ich weiß, dass ihn das frustriert, macht er mir keine Vorwürfe und versteht meine Situation. Karl ist sich seiner Privilegien als weißer Mann in der marokkanischen Gesellschaft bewusst, ohne sie mir ständig unter die Nase zu reiben.“
Mariama, die in Agadir viel mit Ausländer:innen zu tun hat, denkt, dass junge Männer wie Karl selten sind. „Das liegt vor allem daran, dass er Surfer ist. Von denen lerne ich in Taghazout* und Imsouane* immer mehr kennen. Junge Leute, die respektvoll sind und auf die Menschen in ihrem Umfeld achten.“
Von klein auf hat Mariama gelernt, dass der Tourismus für die Stadt Agadir ein Geldsegen ist, ohne den die Stadt nicht überleben könnte. Heute sieht sie das differenzierter und meint: „Die Tourist:innen haben ein ganz besonderes Verhältnis zu Geld. Sogar Karl achtet ganz genau auf seine Ausgaben. Manchmal verzichtet er auf bestimmte Dinge, um Geld zu sparen. Nicht, dass ich das verurteile, aber ich habe weniger und trotzdem Spaß mit dem bisschen Geld, das ich ausgeben kann. Ich gehe zwei bis drei Mal die Woche aus und bin zufrieden damit.“
Mohamed, 29, Autor und Journalist, „Agadir ist weit davon entfernt Tel Aviv zu sein.“
Mohamed ist Marokko-Deutscher. Der Aktivist lebt in Berlin und wirft von dort einen Blick auf den Sextourismus in Agadir. Was er dabei zu sehen bekommt, ist für Mohamed ein Ausdruck von „klarer, organisierter sexueller Ausbeutung“.
Mohamed ist auch der Meinung, dass das Thema sexuelle Ausbeutung in Marokko sowie in Deutschland tabuisiert wird: „Das Problem wird in Deutschland und Marokko komplett ignoriert oder sogar bewusst unter den Teppich gekehrt.“
Er erzählt davon, wie er eine Unterhaltung von Deutschen über die „Sexparadiese“ Marrakesch und Agadir gehört hat. Paradies für die einen –sicher die Hölle für die anderen. Etwa für diejenigen, die sich prostituieren müssen, um zu (über)leben.
Mohamed erzählt von der Billig-Flugverbindung zwischen Agadir und Berlin, die für nur wenig Geld eine Illusion vom Sex-Paradies anbietet. Er ist sich sicher: Manche Tourist:innen nutzen die prekäre Situation der jungen Sex-Arbeiter:innen und deren Vulnerabilität wissentlich aus und bezahlen kaum Geld dafür: „Die Armut in Marokko führt dazu, dass Marrakesch oder gar Agadir trotz allem Bling-Bling weit davon entfernt sind Ibiza, Mykonos oder Tel Aviv zu sein.“
Inès*, 23, queere Aktivistin aus Agadir: „Die Macht von Ausländer:innen hat oft mit Geld zu tun.“
Inès* aus Agadir ist 23 Jahre alt, definiert sich als nicht-binär und kämpft als LGBTQI-Aktivistin in einem regionalen Kollektiv. Ein Ziel der Gruppe ist es, das Selbstwertgefühl unter Sexarbeiter:innen zu stärken. Für die Gruppe schließen sich das unverhandelbare Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Sexarbeit nicht aus.
Die Aktivist:innen wollen das Dominanzverhältnis angreifen, welches Prostituierte ihren Klient:innen unterwirft – unabhängig davon, ob diese nun aus Marokko oder aus dem Ausland kommen. Inès sieht diese Machtposition bei marokkanischen wie bei ausländischen Kund:innen gegeben, auch wenn die beiden Gruppen sich in anderen Punkten voneinander unterscheiden.
„Die Macht von Ausländern hat häufig mit Geld zu tun. Manche Europäer glauben, sich alles erlauben zu können, weil sie als weiße reiche Männer so privilegiert sind“, sagt Inès.
Hamza, in seinen Zwanzigern, Sexarbeiter: „Die restriktiven Gesetze sind selten Anlass zur Sorge für europäische Tourist:innen.“
Während er den feinkörnigen Sandstrand entlanggeht, wirft sich Hamza in Pose. Hartnäckig lässt er seinen Blick über einige Touristen schweifen, die sich in der Sonne bräunen, und bleibt dann bei Frank hängen, einem Deutschen um die 60, der sich gut gehalten hat.
„Die Deutschen bezahlen besser, Franzosen sind geizig und anspruchsvoll – aber um ehrlich zu sein, sind wir denen allen komplett egal. Für die sind wir nur Körper. Der ‚arabische Körper‘ ist gefragt und trotzdem unterbezahlt. Manche Ausländer:innen kennen die marokkanischen Gesetze und wissen daher, dass wir keinerlei Schutz haben und keine Möglichkeit uns rechtlich zu wehren.“
Hamza erzählt von seinen schlechten Erfahrungen. „Die Europäer sind lang nicht so anständig und respektvoll, wie man denkt. Einmal bin ich mit einem Gawri (ein Weißer aus dem globalen Norden) mitgegangen. Er hat mir einen guten Preis versprochen, aber als wir fertig waren, wollte er mich nicht bezahlen. Ich habe mich vergewaltigt gefühlt und wollte ihm drohen. Er hat nur spöttisch gegrinst und meinte, ich soll mich doch bei der Polizei beschweren. Ich war den Tränen nahe.“
Tatsächlich stehen in Marokko Homosexualität und Prostitution gesetzlich unter Strafe. So wird Sexarbeit, genauso wie alles „widernatürliches Verhalten“ - inklusive Prostitution – mit zwei Monaten bis zu drei Jahre Gefängnis und Geldstrafen von 200 bis 20 000 Dirham (20 - 2000 Euro) geahndet. Diese restriktiven Gesetze sind selten Anlass zur Sorge für europäische Tourist:innen, sehr wohl aber für die Bürger:innen des Landes. Hamza hatte also wirklich keine Chance sich zu wehren.
Ayoub, 30, Student: „Mein geliebtes Berlin.“
Ayoub ist 30 Jahre alt. Er lebt seit einem Jahr in Berlin und bereitet sich auf seinen Soziologie-Master vor.
„Am Anfang bin ich mir vorgekommen wie die Heldin der Serie „Unorthodox“. Mein Leben war ein bisschen wie ihres. Ich habe Berlin entdeckt, mit all seinen Allüren, Freiheiten, diese große Orgie an Kunst und Kultur. Ich hatte enormen Spaß daran, einfach in den Straßen spazieren zu gehen. An jeder Ecke gab es ein Kunstwerk zu bewundern. Und gleichzeitig war da diese unglaubliche Sicherheit. Sogar spät nachts sind die Straßen sicher.
Der einzige Nachteil war vielleicht meine Einsamkeit. Aber mein Leben ist viel leichter geworden, als ich angefangen habe Vereine und kollektive Räume zu entdecken. Ich passe mich überall leicht an, aber trotzdem lerne ich gerne Leute kennen, die mir ähnlich sind und mit denen ich über gemeinsame Anliegen sprechen kann. Mit meinen neuen Freund:innen konnte ich mich über die Schwierigkeiten des Daseins als ausländische Studierende austauschen, und auch Themen wie Rassismus diskutieren.
In Deutschland wird Rassismus immer wieder thematisiert und ist nicht so tabuisiert wie in Frankreich. Als ich dort gelebt habe, habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Thema ganz grundsätzlich und systematisch abgeblockt wird. Statt über Rassismus zu sprechen, redet man lieber über Integrations- und Anpassungsschwierigkeiten von Ausländer:innen.
Ich bin schwul, Atheist und in einer muslimischen Kultur großgeworden. Ganz ehrlich: Berlin ist der perfekte Ort, um diese dreifache Identität auszuleben. Was man aber noch dazu sagen muss: Wenn du ‚arabisch‘ aussiehst und keine Papiere hast, sieht das ganz anders aus.“
Soufiane, 28, Aktivist, „Was es heißt, als Mensch aus dem globalen Süden in Berlin zu sein“
„Ich war im Juli 2017 in Berlin. In der schwulen Szene der Stadt wurde ich ständig mit Stereotypen und Verallgemeinerungen über LGBTQI-Personen aus dem globalen Süden konfrontiert.
Die Leute dachten oft über mich (Nordafrikaner, Marokkaner, Amazigh), ich käme aus WANA. Ich sei Libanese. Syrer, oder sogar Israeli. Araber sind gut im Bett“‘, haben manche anzüglich zu mir gesagt. Hallo Fantasma, hallo Tausend-und-eine-Nacht, hallo Exotisierung!
Mir hat es immer Spaß gemacht, mit diesem Klischee zu brechen. Nein, ich komme nicht aus Bagdad, und auch nicht aus Damaskus. Nein, ich bin kein Araber. Nein, ich habe keine Lust auf Sex. Nein, ich bin nicht eben einer Geschichte aus Tausend-und-eine-Nacht entsprungen.
An einem Samstagabend zog ich neugierig los,um einen Sex Club auszuprobieren. Ich war kaum durch die Tür, da spürte ich schon wandernde Hände auf meinem Körper. Ich drehe mich um, um der Person höflich klar zu machen, dass die bloße Tatsache, dass ich in einen Sex Club gehe, keine Einladung ist, mich anzugrapschen. Ohne sich zu entschuldigen, erwiderte die Person nur ruppig, dass Männer wie ich selten nein sagen würden, und für ein paar Zehner immer dabei wären. ‚Männer wie ich?‘ – ‚Ja, Flüchtlinge‘, sagte er.
Ich will das nicht verallgemeinern. Ich habe auch sehr angenehme Menschen kennengelernt, die offen und an meiner Kultur interessiert waren. Manche kennen von Marokko eben nur die Strandbilder aus Agadir, die die Reiseanbieter ihnen um jeden Preis verkaufen wollen.
Trotz einiger schlechter Erfahrungen muss ich sagen, dass ich von meiner Reise nach Berlin wunderbare Erinnerungen an die Lebensqualität der Stadt und die Freundlichkeit ihrer Bewohner:innen mitnehme. In dieser Hinsicht bin ich ganz wie Frank, der seine Verbundenheit mit der Stadt Agadir, ihren Bewohner:innen und mit Mariama in sich trägt.“
* Die Namen wurden vom Autoren geändert.
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[1]Als sogenannte „Faux-Guides“ werden Menschen bezeichnet, die ohne staatliche Lizenz im Tourismussektor arbeiten. Während die wörtliche deutsche Übersetzung „falsche (Reise-)Führer:innen” zu kurz greift – Faux-Guides können fachlich durchaus sehr qualifiziert sein – , variiert die Arbeitsweise sowie die Bandbreite an angebotenen Dienstleistungen stark.