Das neue grundlegende Dokument der Hamas wird als Fortschritt und Mäßigung der Extremisten gefeiert – dabei zeigt es nur, wie gespalten die Gruppe wirklich ist.
Download this text in English: Don't hold your breath for the new Hamas charter (PDF)
„Hamas akzeptiert Palästinenser-Staat in den Grenzen von 1967“. „Hamas will Israel bekämpfen, nicht die Juden ausrotten“. „Hamas-Anführer Khaled Meshal wandte sich direkt an Präsident Trump mit der Bitte, eine ,historische Gelegenheit' zu ergreifen“. Das waren die Schlagzeilen internationaler Medien. Sie alle klingen vielversprechend und nach etwas Neuem. Der Hintergrund war die neue Hamas-Charta: „A document of general principles and policies”, die am Montagabend vorgestellt wurde.
Nachdem ich das Dokument gelesen habe, muss ich eins klarstellen: Hamas akzeptiert nicht die Grenzen von 1967, genauso wenig wie die extreme Rechte in Israel diese Grenzen akzeptiert.
Konsens - aber nicht für die Hamas
Artikel 20 hebt lediglich hervor, dass diese Grenzen nationaler Konsens sind, weist aber ihre Legitimität zurück. „Ohne die Ablehnung der Zionistischen Entität zu beeinträchtigen und ohne irgendwelche palästinensischen Rechte aufzugeben, betrachtet Hamas das Errichten eines vollkommen souveränen und unabhängigen palästinensischen Staates, mit Jerusalem als Hauptstadt, entlang der Grenzen vom 4. Juni 1967, mit der Rückkehr der Flüchtlinge und der Vertriebenen in ihre Heimat, von der sie vertrieben wurden, als Begriff des nationalen Konsens.“
Entschuldigung, aber: Na und? Die Rechten in Israel sagen ebenfalls, dass die Zweistaatenlösung nationaler Konsens ist, aber ebenso wie die Hamas lehnen sie diesen Konsens ab. Im November 2015 sagte der Vorsitzende der extrem rechten Partei „Jüdisches Heim“, dass „leider die meisten Parteien in Israel die Erschaffung eines Palästinenserstaates im Herzen des Landes Israels unterstützen“, aber er bekräftigte – wie die Hamas –, dass er das für einen historischen Fehler halte.
Alles eine Pflichterfüllung
Allerdings, im Gegensatz zur israelischen Rechten, gelobt die Hamas, Israel militärisch „Widerstand zu leisten“, bis ganz Palästina „befreit“ ist (nachdem sie Palästina als das gesamte Land von Rosh Hanikra bis Eilat definiert hat). In den Artikeln 24 bis 26 heißt es, die „Befreiung Palästinas“ sei die „Pflicht des palästinensischen Volkes im Besonderen und die Pflicht der arabischen und islamischen Ummah (Gemeinschaft) im Allgemeinen“, und dass „im Herzen (der Mittel des Widerstands gegen die Besatzung) der bewaffnete Widerstand liegt“. Raketen auf Zivilisten schießen, Menschen durch Tunnel entführen und Selbstmordanschläge verüben – alles eine Pflichterfüllung also.
Die Hamas betreibt auch eine Menge Aufwand, ihren Judenhass zu entschuldigen, anstatt ihn einfach sein zu lassen. In Artikel 16 steht: „Die Hamas führt einen Kampf gegen die Zionisten, die Palästina besetzen. Allerdings sind es die Zionisten, die den Judaismus und die Juden mit ihrem eigenen kolonialen Projekt und ihrem illegalen Gebilde gleich setzen.“ Scheint so, als sei es Israels Schuld, dass die Hamas-Mitglieder sich genötigt sehen, bei ihren Demonstrationen „Itbah el-Yahud“ (Schlachtet die Juden) zu rufen.
Allein ein Blick darauf, wie die Hamas in Gaza regiert, zeigt, wie irrelevant dieses Dokument ist. Da ist die Rede von „Demokratie“ (Artikel 28) und „freien und fairen Wahlen“ (Artikel 30). Was genau hält denn die Hamas-Regierung davon ab, demokratische Wahlen abzuhalten – die sie nun seit sieben Jahren vor sich her schiebt? Was hält sie davon ab, die Rechte von Minderheiten in Gaza zu verteidigen, einschließlich der Rechte von LGBTs oder Christen, oder das Recht auf freie Meinungsäußerung ihrer politischen Gegner? Die Charta spricht von „Mäßigung“ und „Toleranz“ (Artikel 8), aber was ist denn gemäßigt daran, das Recht des jüdischen Volkes auf einen eigenen Staat komplett zu missachten, und was ist so tolerant daran, sämtliche Oppositionsbewegungen in Gaza mit willkürlichen Verhaftungen und Schüssen in die Kniescheiben von Demonstranten zu maßregeln? Die Charta spricht sogar von internationalem Recht (Artikel 12 und 21), aber sieht wiederholt über die Tatsache hinweg, dass der Referenzrahmen für das Land westlich des Jordans in unzähligen internationalen Resolutionen und Foren Israels Rechte innerhalb der Grenzen von 1967 bekräftigt, neben einem palästinensischen Staat – nicht anstelle.
Warum verwendet das Dokument mehrdeutige und unklare Referenzen bei den Grenzen von 1967? Das Dokument ist Ausdruck der Spaltung innerhalb der Hamas über den weiteren Weg. Das war seit Jahren bekannt. Die Ambivalenz gegenüber den Grenzen von 1967 ist nicht neu. Mashal hat bereits 2012 in einem Interview gesagt: „Ich akzeptiere einen palästinensischen Staat entlang der Grenzen von 1967, mit Jerusalem als Hauptstadt, mit dem Recht auf Rückkehr“ - eine Aussage, die der militärische Flügel der Partei umgehend zurückwies.
Unklarheiten, Widersprüche, Scheinheiligkeit
Das gleiche gilt für die mehrdeutigen Referenzen der Hamas, was die Juden betrifft. Die Ambivalenz wurde bereits 2014 in der Charlie Rose Show deutlich, als Mashal sagte: „Wir sind keine Fanatiker. Wir sind keine Fundamentalisten. Wir bekämpfen nicht die Juden, weil sie Juden sind, per se... Wir bekämpfen die Besatzer“; gleichzeitig vermied er es, das Schicksal der Juden im von der Hamas gewollten Staat zu beschreiben, indem er sagte: „Fragen Sie mich nichts über die Zukunft.“
Die Unklarheiten, Widersprüche und Scheinheiligkeit der Hamas sind nicht neu, aber sie werden nun zu einer Zeit deutlich, da die Gruppe zunehmend an den Rand gedrängt ist und einer Vielzahl von internen und externen Spannungen ausgesetzt ist. Möglicherweise wurde das Dokument nun veröffentlicht, um die Neugierde der internationalen Unterstützer zu wecken, die sich vermutlich nicht die Mühe machen, das ganze Dokument zu lesen – oder die Hamas mit der Realität ihrer eigenen Regierung in Gaza zu konfrontieren.
All das soll nicht heißen, dass die Hamas nicht eines Tages ihre Wandlung abschließen kann, von einer Organisation fanatischer Fundamentalisten hin zu einem legitimen politischen Akteur. Das verdient, beobachtet zu werden. Der Weg dorthin ist allerdings lang und erfordert einen Paradigmenwechsel, ähnlich wie bei der PLO im Jahr 1988, und eine klare Akzeptanz der Prinzipien des Nahost-Quartetts (USA, EU, Russland und UN), die in der Resolution 1850 des UN-Sicherheitsrats formuliert wurden:
- Ein palästinensischer Staat muss den Staat Israel anerkennen, ohne im Voraus zu beurteilen, welche Missstände oder Ansprüche angemessen sind
- Ein palästinensischer Staat muss vorherigen diplomatischen Übereinkünften entsprechend handeln
- Ein palästinensischer Staat muss auf Gewalt als Mittel zum Erreichen seiner Ziele verzichten.
Palästinenser und Israelis verdienen Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit. Bis aber Hamas und andere faschistische Gruppen ihre Wandlung abgeschlossen haben, kann es noch dauern. Bis dahin sind sie nicht die Lösung – sie sind das Problem.
Tal Harris promoviert an der Goethe Universität Frankfurt. Er ist aktives Mitglied der Israeli Labor Party.