09.06.2021
Zwangsräumungen, Proteste und Gewalt: Stimmen aus Israel und Palästina
Der ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, der im Zentrum der Proteste steht. Foto: dis:orient
Der ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, der im Zentrum der Proteste steht. Foto: dis:orient

Ausgehend von der drohenden Zwangsräumung palästinensischer Wohnungen im ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah kam es in Israel und Palästina zu gewaltsamen Übergriffen, Protesten und Bombardierungen. Vier junge Menschen geben einen Einblick.

Mit Beginn des Ramadans im April 2021 begann eine neue Protestwelle von Palästinenser:innen. Auslöser waren die Zwangsumsiedlungen von palästinensischen Einwohner:innen im ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah sowie die Sperrung des Vorplatzes am Damaskustor – ein beliebter Ort für das Fastenbrechen. Die Situation eskalierte, bis schließlich die israelische Luftwaffe den Gaza-Streifen bombardierte, während die Hamas Raketen auf Israel abfeuerte. Am 21. Mai trat eine Waffenruhe in Kraft.

Doch die drohende Zwangsumsiedlung der Familien in Skeikh Jarrah und in Silwan stehen noch aus: Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit hat diese Woche den Fall zurück an das oberste Gericht Israels gegeben. Mit einer Entscheidung wird in den kommenden Wochen gerechnet. Eine politische Lösung der Situation in Jerusalem, von der grundsätzlichen ganz zu schweigen, ist weiterhin nicht in Sicht. Auch wenn sich die Situation im Vergleich zum Mai stabilisiert, kommt es noch immer zu Demonstrationen, Gewalt und einer Verhaftungswelle von palästinensischen Demonstrant:innen. dis:orient sprach mit vier jungen Menschen in Israel und Palästina darüber, wie sie die Situation vor Ort wahrnehmen:

Khalil*, 25 Jahre, nördlicher Gazastreifen

Mein Name ist Khalil, ich bin 25 Jahre alt und unterrichte Englisch an einer weiterführenden palästinensischen Schule. Nebenbei mache ich meinen Master in postkolonialer Theorie und Übersetzung. Ich wohne im nördlichen Teil des belagerten Gazastreifens. Vor neun Jahren warnten die Vereinten Nationen, dass der Gazastreifen bis 2020 unbewohnbar sein wird. Inzwischen leben wir im Jahr 2021. Gaza ist mittlerweile nicht nur für Menschen unbewohnbar, sondern auch für die Toten. Denn auch unsere Friedhöfe sind Ziele der israelischen Armee. Ein Besuch bei unseren Verstorbenen ist für uns kaum möglich.

Während der jüngsten israelischen Aggression gegen Gaza in diesem Frühjahr haben wir massive, lang anhaltende und tödliche Bombardierungen ertragen müssen. Für uns ist der Krieg noch nicht zu Ende. Israelische Kampfflugzeuge überziehen immer noch den Himmel über Gaza. Sie schwirren in unseren Köpfen und erinnern uns daran, dass wir beobachtet und jede Minute angegriffen werden können. Wir haben nur zwei Stunden Strom pro Tag und kaum Wasser, denn um das hochzupumpen, benötigen wir Strom. Diese Situation ist unglaublich frustrierend. Ich frage mich ständig, wie viele Palästinenser:innen noch getötet werden müssen, damit die internationale Gemeinschaft sich endlich für unsere Rechte einsetzt.

Es gibt immer Unterschiede zwischen den einzelnen Konfrontationen der letzten Jahre. Dieses Mal fanden vermehrt internationale und zivilgesellschaftliche Kampagnen vor Ort statt, die mit der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionen-Bewegung (BDS) verbunden sind. So schafften es die Aktivisten:innen, digital wie analog viele Menschen zu mobilisieren.

Ich glaube, dass wir mehr auf das Potenzial der einzelnen Menschen setzen müssen. Im Sinne von Edward Said bin ich überzeugt davon, der Kultur der Macht die Macht der Kultur entgegenzusetzen. Wir glauben, dass unsere Existenz Widerstand ist. Wir werden dieses Land nicht verlassen und werden weiterkämpfen. Beispiele für einen erfolgreichen Widerstand, wie in Südafrika, Irland, Australien und vielen anderen Orten motivieren und lehren uns etwas. Für mich ist eine geeignete und gerechte Lösung ein Staat für alle Bürger:innen, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Hautfarbe. Das erreichten die Menschen in Südafrika und wir können es genauso in Palästina schaffen.

Danni, 29 Jahre, Haifa

Mein Name ist Danni, ich bin 29 Jahre und lebe seit fünf Jahren in Haifa. Derzeit mache ich meinen Doktor in Migrationsstudien an der Universität Haifa. Nebenbei engagiere ich mich in friedensfördernden Projekten, darunter ein Dialogprogramm mit jüdischen und palästinensischen Frauen, die sich gegenseitig im Kontext des Konflikts stärken. Mit meinem Partner, einem israelischen Soldaten, lebe ich in der Stadt, die oft bezeichnet wird als „Stadt der Koexistenz“. Araber:innen/Palästinenser:innen und Juden und Jüdinnen studieren und arbeiten hier zusammen, abends trifft man einander oft in Bars.

In Haifa haben wir keine Sirenen gehört. Dennoch wurde unsere Stadt von einer Welle der Gewalt erschüttert. Einer Gewalt, die nicht von einer Armee oder einer terroristischen Organisation ausging, sondern von Bürger:innen. Das ist der größte Unterschied zu früheren Eskalationen: In arabisch-jüdischen Städten sind nun Bürger:innen die Urheber:innen von Gewalt und Zerstörung. Zumindest für mich kam das unerwartet.

Gegen die Zwangsumsiedlung palästinensischer Bewohner:innen im ostjerusalemer Viertel Sheikh al-Jarrah organisierte die arabische Gemeinde in Haifa friedliche Proteste. Seit dem Raketenbeschuss sind diese Proteste eskaliert. Zum einen, weil sich Menschen von auswärts anschlossen, die aktiv Ärger machen wollten. Zum anderen auch durch die Art und Weise, wie israelische Polizeikräfte auf die Demonstrationen reagierten. Ich muss hier sagen, dass in der vergangenen Woche Lynchmorde auf beiden Seiten passiert sind. Das machte den Menschen in Haifa Angst, auch meinen Freund:innen und mir. Sie fürchten sich nun, allein nach draußen zu gehen, aus Angst, von einem solchen Mob angegriffen zu werden. Da beide Seiten der Polizei nicht trauen, fühlen sich alle ungeschützt. Es gibt aber auch positive Nachrichten: Freund:innen von mir protestierten friedlich mit Araber:innen und Juden und Jüdinnen gegen die anhaltende Gewalt. Ich glaube, dass die Mehrheit der Menschen hier zusammenleben will, ohne dass sich jemand ausgegrenzt oder als Bürger:innen zweiter Klasse fühlt. Das stimmt mich hoffnungsvoll, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Denn die gewalttätigen Ausschreitungen verursachten viel Furcht und sie werden die Art und Weise, wie wir leben, noch eine Weile beeinflussen.

Ich persönlich kann mir dieses Land nur mit all seinen Bewohner:innen vorstellen. Wir können weder die eine noch die andere Seite loswerden, noch sollten wir das wollen. Wir müssen zusammenleben und wir müssen einen Weg finden, damit es funktioniert. Dazu gehört, dass wir staatsbürgerliche statt ethnische Identitäten in den Fokus rücken, dass wir Extremist:innen auf allen Seiten verurteilen und zurückdrängen, dass wir mit Bildung die Geschichte und die Erfahrungen der anderen verstehen, dass Minderheiten in staatlichen Institutionen auf allen Ebenen angemessen vertreten sind und dass wir vor allem Frauen ermöglichen, in ihren jeweiligen Gemeinschaften Räume zu schaffen, die frei von Gewalt und Kriminalität sind.

Das sind Maßnahmen, die eine Zivilgesellschaft umsetzen kann. Und da die Politiker:innen aktuell bereits daran scheitern, Friedensgespräche aufzunehmen, sollten wir damit beginnen.

Sara, 26 Jahre, Beit Sahour

Mein Name ist Sara*, ich bin 26 Jahre alt und Doktorandin an einer Universität in Südkorea. Derzeit wohne ich östlich von Bethlehem, in der Stadt Beit Sahour.

Im Mai haben wir Palästinenser:innen das bisher größte Ausmaß einer gemeinschaftlichen Bewegung erlebt. Alles begann mit den angekündigten Zwangsräumungen palästinensischer Häuser im ostjerusalemer Stadtviertel Sheikh Jarrah. Kurz danach bildeten sich rund um die Städte Lod und Jerusalem und überall in den 1948 von Israel eroberten Gebieten Lynchmobs, die „Tod den Arabern" riefen.

Natürlich waren die Ereignisse im Frühjahr 2021 anders. Während der ersten und zweiten Intifada gab es nicht diese massiven Proteste von Menschen aus ganz Palästina. Denn die meisten Palästinenser:innen leben in ganz unterschiedlichen Gebieten und sind untereinander oftmals gespalten. Doch dieses Mal protestierten Menschen aus Ramallah, aus Nablus und den umliegenden Städten sowie Bethlehem und vielen anderen Bezirken und Kleinstädten, um die Bewohner:innen von Sheikh Jarrah zu unterstützen und um gegen den israelischen Siedlerkolonialismus zu kämpfen. Zum ersten Mal in der Geschichte waren sich alle einig, dass sie geschlossen vorgehen sollten gegen den israelischen Siedlerkolonialismus und gegen solche ethnischen Vertreibungen. Die Ereignisse im Mai waren daher eine Art Wiedervereinigung. Sie waren eine Ablehnung der Grenzen und der erzwungenen Trennung im Sinne der Redewendung divide et impera! – Teile und herrsche! Ich würde sagen, das waren keine organisierten Proteste. Gemeinsam zu protestieren, war vielmehr die einzig richtige Entscheidung in einer solchen Situation. Auch unterstützte eine riesige, weltweite Solidaritätsbewegung die Proteste der Palästinenser:innen. Prominente aus der ganzen Welt posteten beispielsweise über die Ereignisse und der Hashtag #SaveSheikhJarrah ging in den sozialen Medien viral.

Natürlich protestierten viele friedlich. Aber friedlicher Widerstand findet selten Resonanz in den Medien und wird letztendlich immer als gewalttätig dargestellt. Die Demonstrationen in Sheikh Jarrah und vielen anderen palästinensischen Städten beantworteten israelische Sicherheitskräfte mit Tränengas, scharfer Munition und Gummigeschossen – und mit Stinkwasser [Eine chemische, stark stinkende Flüssigkeit, die auf Demonstrant:innen gesprüht wird, Anm. d. Red.]. Das ist für die Palästinenser:innen schlimmer als jede andere Waffe. Die Chemikalien sind einfach ekelhaft und es ist unmöglich, sie von der Haut zu bekommen, selbst nach mehrmaligem Waschen. Dieser Art von brutaler und gewalttätiger Unterdrückung sind Palästinenser:innen permanent ausgesetzt. Ich würde die gegenwärtige Situation daher als eine andauernde Nakba [Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der israelischen Unabhängigkeit 1948, Anm. d. Red.] beschreiben. 

Meine Vision für die Zukunft ist, dass Palästina frei sein wird. Die Palästinenser:innen sind bereit, in einem Staat mit gleichen Rechten zu leben. Sie sind bereit, in ihre Häuser zurückzukehren, die ihnen gestohlen wurden, zurück in ihr Land, an die Orte, die sie nicht erreichen können. Wir hoffen, dass sich die Situation für die Palästinenser:innen bessert. Wir hoffen, dass die Leute, die uns hören, die Kraft unserer Stimmen verstärken und nicht versuchen werden, uns Diplomatie beizubringen. Das funktioniert nicht. Das hier ist kein Konflikt zwischen zwei gleichen Seiten. Es geht um die Befreiung von einer Struktur, die von Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. Wir haben immer wieder betont, dass wir uns davon befreien wollen. Wir wollen Gerechtigkeit, und wir wollen das Recht auf Rückkehr und Gleichheit. So würde ich den palästinensischen Traum formulieren.

Tomer, 31 Jahre, Tel Aviv

Mein Name ist Tomer, ich bin 31 Jahre alt und lebe mit meiner Frau und meinem eineinhalb Jahre alten Sohn in Tel Aviv.

Tel Aviv ist eine pulsierende Stadt. Aber während der Raketenangriffe waren die Straßen leer und die Menschen hielten sich nur für die nötigsten Besorgungen draußen auf. Das unterscheidet die jetzigen von früheren Gewaltausbrüchen. Erschreckend war auch, dass auf uns Tel Aviver:innen dieses Mal mehr Raketen geschossen wurden.

Die vergangenen Wochen waren für meine Familie und mich sehr herausfordernd und beängstigend. Unsere Kindertagesstätte war geschlossen und meine Frau und ich mussten uns mit der Betreuung unseres Sohnes abwechseln. Das ließ sich nur schwer mit unseren Jobs vereinbaren. Nachts wachten wir manchmal um ein oder drei Uhr auf, um uns vor den Raketen in Sicherheit zu bringen. Wir leben in einer alten Nachbarschaft, wo die Gebäude aus den 1940er-Jahren stammen. Schutzräume wie in anderen modernen israelischen Häusern fehlen meistens. In unserem Haus ist der sicherste Ort zum Beispiel unter der Treppe.

Ich habe an den Solidaritätsbewegungen teilgenommen, die überall im Land stattfanden. Während der Pandemie hatte ich das Gefühl, dass Muslim:innen und Juden und Jüdinnen näher zusammenrückten. Es kam ein Gefühl des Zusammenhalts auf – ein Gefühl, dass wir miteinander verbunden sind und die Zeit der sozialen und politischen Distanz vorbei ist. Natürlich hoffe ich jetzt, dass der Waffenstillstand halten wird, aber es gibt viele Faktoren und Gruppen mit unterschiedlichen Interessen, die den Frieden stören wollen. Beispielsweise teilen die Hamas und Benjamin Netanjahu einige Interessen und beide gewinnen durch den Konflikt an politischer Macht. Ihn zu verlängern, ist für sie lukrativ.

Ich persönlich halte an der Zwei-Staaten-Lösung fest und glaube, dass diese auf lange Sicht der einzige Weg ist, den Konflikt zu beenden. Wir, als Bürger:innen Israels, sollten die gemäßigteren palästinensischen Gruppen stärken. So könnte sich eine Regierung bilden, mit der wir zusammenarbeiten könnten.

 

*Name auf Wunsch geändert

 

 

dis:orient – das sind viele Menschen. Manchmal posten wir aber auch als Team – meist in eigener Sache.
Redigiert von Jennifer Kleemann, Dominik Winkler, Filiz Yildirim