Von der Türkei lernen, um das Schlimmste zu verhindern – so der Appell der Schriftstellerin Ece Temelkuran. In ihrem neuen Buch fordert sie, die richtigen Schlüsse aus dem Aufstieg der AKP zu ziehen, um weltweit auf den Rechtspopulismus zu reagieren. Eine Rezension von Bodo Weissenborn.
Als die türkische Wahlkommission Anfang Mai bekanntgab, dass die Istanbuler Kommunalwahlen annulliert und wiederholt würden, sprachen Beobachter*innen von einer Zäsur. „Ein Machtwechsel ist in der Türkei nicht mehr auf demokratischem Weg möglich“, schrieb Spiegel Online-Korrespondent Maximilian Popp, Erdogan nehme den „letzten Schritt zum Diktator“.
Wie es so weit kommen konnte, damit beschäftigt sich die türkische Journalistin und Schriftstellerin Ece Temelkuran („Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?“) in ihrem nun auf Deutsch erschienen Buch. Entsprechend lautet der Titel: „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder sieben Schritte in die Diktatur.“
Allerdings geht es Temelkuran nicht um ein Nacherzählen der Ereignisse. Das Buch solle „nicht schildern, wie wir unsere Demokratie verloren, sondern dem Rest der Welt helfen, Lehren aus dem Geschehen zu ziehen“. Sie will die Leser*innen vorbereiten „auf die wiederkehrenden Muster des Populismus“, indem sie die „auffälligen Ähnlichkeiten“ herausarbeitet „zwischen dem, was die Türkei erlebt hat, und dem was kurz darauf in der westlichen Welt begann“.
Eine Sammlung von Anekdoten und Geschichten
Der Fokus des Buchs liegt dabei auf den Unterstützer*innen und Mitläufer*innen der Bewegungen. Denn „nicht der Kaiser drängt dich an den Rand der Arena und degradiert dich zum distanzierten Beobachter, sondern seine Untertanen“. An der Basis entstehe der neue populistische Zeitgeist, den Temelkuran in Abwandlung von Hannah Arendt „das Böse der Banalität“ nennt. Ausgehend von den Ereignissen in der Türkei, die sie als Präzedenzfall begreift, schlägt sie immer wieder die Brücke zur Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, zum Brexit-Referendum, zum Umgang mit der AfD im Bundestag, zu Szenen aus Argentinien, aus Ungarn und vielen weiteren Ländern, in denen sie entsprechende Muster erkennt.
Entsprechend ist „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist“ keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein – sprachlich stellenweise sehr pointiertes – Mosaik von Anekdoten und Geschichten. Denn Temelkuran ist eben vor allem Journalistin und Schriftstellerin. Ihre anekdotische Erzählweise begründet sie damit, dass die politische Theorie „für den neuen Kampf noch nicht gerüstet“ sei. Sie begreift Populismus also als ein so noch nicht dagewesenes Phänomen – ein etwas simpler Ausweg, wenn man bedenkt, dass der Begriff bereits im 19. Jahrhundert diskutiert wurde und auch derzeit wieder eine Vielzahl sozialwissenschaftlicher Literatur hervorbringt. Dem Buch hätte es an der Stelle gutgetan, sie hätte ihren Populismusbegriff präziser definiert und so schärfer vom wissenschaftlichen Diskurs abgegrenzt.
Da nicht greifbar wird, wovon Temelkuran tatsächlich spricht, wenn sie Populismus sagt, wirken ihre Beispiele mitunter etwas beliebig, ebenso wie ihre Quellen – zu denen auch „ein Leserbrief an die New York Times“ oder aber die Website des „Deutschen Instituts für Argumentationstechnik“ zählen. Auch ihre Analyse selbst ist stellenweise plakativ, wenn sie etwa von einer – nicht näher definierten – „Masse“ schreibt, „die sich jedem neuen Narrativ anpasst.“
„Ich fühle mich wie ein Pandababy“
Nichtsdestoweniger ist „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist“ eine leidenschaftliche und unterhaltsame Abrechnung vor allem mit den Menschen in Erdogans Türkei. Sie kritisiert aber auch die „sich an die jahrhundertealten Säulen des Staates klammernden Amerikaner und Briten“ und alle anderen Menschen im Globalen Westen und teilweise auch im Süden, die meinen, es werde schon alles nicht so schlimm kommen.
Beispielhaft illustriert Temelkuran diese Ignoranz an einer Szene kurz nach dem Brexit-Votum in Großbritannien, als eine Frau sie auf der Bühne fragt: „Wie können wir Ihnen helfen?“ Temelkuran schreibt: „Offensichtlich bin ich in den Augen dieser Frau ein bedürftiges Opfer, und offensichtlich hat sie großes Vertrauen in die Immunität ihres Landes gegen die politische Misere, die mein Land ruiniert hat. (…) Ihre fehlende Einsicht in die Tatsache, dass wir alle im gleichen politischen Irrsinn versinken, provoziert mich.“ Schließlich antwortet sie der Frau: „Jetzt fühle ich mich wie ein Pandababy, das auf einen Internetpaten wartet.“
Die Lösung lautet: weniger Paartherapie
Überraschende, aber treffende Sprachbilder wie dieses und der stete Perspektivwechsel von der Betroffenen zur Beobachterin zur Teilnehmerin machen „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist“ lesenswert. Zumal Temelkuran sich zwar eindeutig positioniert, aber dennoch ohne Schaum vor dem Mund auch von denjenigen Journalist*innen berichtet, die sich in der Türkei entschieden haben, mit der AKP zusammenzuarbeiten. Sie selbst lebt nun schon seit mehreren Jahren im kroatischen Exil, aus Angst vor Verfolgung.
Die angekündigten Lehren allerdings müssen die Leser*innen letztlich selbst ziehen, denn Temelkuran rät ihnen lediglich: Menschen müssten „sich nur zusammenreißen, ihr überschüssiges emotionales Gepäck abwerfen und dafür sorgen, dass sie ihr Land nicht verlieren“.
Ihr Lösungsansatz orientiert sich an der Abgrenzung zu Populist*innen. So schlägt sie vor, weniger „Paartherapie“ zu betreiben: „Hätte man nicht so viel Energie bei der Anstrengung vergeudet, Verständnis für die Anhänger von populistischen Anführern aufzubringen, sondern diese für das Gespräch mit dem anderen Lager, also dem eigenen, genutzt, wäre vielleicht alles anders gekommen.“ An die Anhänger der Populisten sei dagegen vor allem eine Frage zu richten: „Und wodurch wollt Ihr das Establishment ersetzen?“
Diese Frage hat sich in der Zwischenzeit für die Türkei schon weitgehend beantwortet. Als bekannt wurde, dass die Wahlen in Istanbul wiederholt würden, schrieb Temelkuran auf Twitter: Sie habe immer gesagt, die Opposition werde den Tiger am Schwanz packen. „Jetzt antwortet der Tiger, indem er die Wahlen annulliert. Doch die Türkei wird ihre Demokratie gegen den Angreifer verteidigen.“ Es scheint, als habe Temelkuran selbst die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Die sieben Schritte in die Diktatur wären demnach keine Einbahnstraße.
Ece Temelkuran (2019): Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur. Übersetzung: Michaela Grabinger. Hoffmann und Campe, 272 Seiten.