29.04.2022
Vergiftete Solidarität
Fliegende Bomben auf die Ukraine - in Israel und Palästina wird darüber vor allem mit Bezug auf den eigenen Konflikt gesprochen. Grafik: Zaide Kutay
Fliegende Bomben auf die Ukraine - in Israel und Palästina wird darüber vor allem mit Bezug auf den eigenen Konflikt gesprochen. Grafik: Zaide Kutay

Israelis als auch Palästinenser:innen sehen den Ukraine-Krieg als Abbild ihres eigenen Opfernarratives. Aber wo verläuft die Trennlinie zwischen Solidarität und politischer Instrumentalisierung für die eigene Sache?, fragt sich Marina Klimchuk.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Letzte Woche leitete ich eine politische Studienreise durch Israel und Palästina. Nach fast zwei Monaten Krieg in der Ukraine, meinem Geburtsland, und den täglichen Geschichten des Grauens von meinen geflüchteten ukrainischen Freund:innen und ihren Familien landete ich in Tel Aviv. Willkommen zu Hause. Alles hier wie immer, nur etwas aufgeheizter.  Am Tag vor meiner Ankunft waren zwei Israelis bei einem Terroranschlag gestorben. Wenige Tage später verloren innerhalb von 24 Stunden sechs palästinensische Menschen ihr Leben. Die israelische Armee verletzte bei Zusammenstößen Hunderte Palästinenser:innen in der Al-Aqsa Moschee.

Israelis und Palästinenser:innen suhlen sich so leidenschaftlich in ihrem eigenen politischen Elend, dass sie verpassen, was in der Welt um sie herum geschieht, denke ich mir und bin mir meines eigenen Zynismus bewusst. Aber in neun Tagen politischer Studienreise erwähnt nur eine einzige Gesprächspartnerin vor Ort den Ukraine-Krieg. Der Krieg ist bereits völlig normalisiert, obwohl er gerade über das gesamte Weltgeschehen bestimmt. Zwar berichten die Medien nach wie vor darüber, aber die Aufregung ist bei den Menschen in Israel und Palästina schon vollständig abgeklungen. Das macht mich wütend. Das Paradox: Hand in Hand mit dieser Gleichgültigkeit geht auf beiden Seiten, sowohl bei Israelis als auch Palästinenser:innen, eine Identifikation mit der Ukraine als Abbild ihres eigenen Opfernarratives einher.

Wettbewerb um das „größte“ Opfer

So veröffentlichte das Magazin The Middle East Eye vor einigen Tagen einen Artikel zur Ukraine und Palästina, in dem die Doppelmoral des „Westens“ zu den beiden Widerstandskämpfen kritisiert wurde. Während der ukrainische Kampf gegen die russische Aggression heroisiert wird, würde der palästinensische Widerstand dämonisiert und erfahre keinerlei Unterstützung, so der Autor.

Für viele Palästinenser:innen bedeutet Russland gleich Israel gleich Aggressor. Israel kontrolliert seit Jahrzehnten ihr Leben, ihre Träume, ihre Wirtschaft. Traumatisiert ihre Kinder und bombardiert alle paar Jahre den Gazastreifen in Schutt und Asche. Jede Woche schießt die israelische Armee auf Palästinenser:innen. Aber palästinensische Solidaritätsposts mit der Ukraine sehe ich auf meinem Social Media Feed fast keine.

Ich spreche einen palästinensischen Freund darauf an und frage ihn, wo denn die Empathie der Palästinenser:innen für die Menschen in der Ukraine bleibt? Er antwortet „Israel tut uns seit 70 Jahren das Gleiche an. Das, was heute in Gaza passiert, ist de facto auch Genozid. Aber das interessiert niemanden, die Welt will uns nicht hören. Jetzt greift Russland die Ukraine an und innerhalb weniger Tage gibt es Sanktionen. Das ist frustrierend. Wann wird endlich jemand Israel sanktionieren?“

Seine Logik kann ich nachvollziehen, sympathisiere aber nicht mit ihr. Welch Absurdität, dass die einen Leidtragenden gegen die anderen konkurrieren! Als ob wir uns in einem Wettbewerb dazu befinden, wer den Preis für die größte Opferrolle bekommen soll und die vermeintlichen „Gewinner“ – also die Ukrainer:innen – keine Empathie verdient hätten, weil ihr Leid ja am meisten anerkannt würde und der Aggressor international geächtet wird. Ja, Russland wird sanktioniert – aber wie hilft das den Millionen Menschen, die gerade in wochenlangen Odysseen aus ihrer Heimat fliehen oder unter Beschuss, ohne Essen und Wasser, im Kellern kauern? Wir sind mitten in einem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Russlands Krieg in der Ukraine mit dem Konflikt zwischen Israel und Palästinenser:innen gleichzusetzen, wäre eine unsaubere Übersimplifizierung und ein Verwischen historischer, politischer und soziologischer Prozesse. Und doch gibt es wie in jedem Krieg neben all den Unterschieden auch Parallelen: Etwa die, dass sowohl Israel als auch Russland nach internationalem Völkerrecht als Besatzungsmacht gelten und wissentlich Zivilist:innen bombardierten: etwa im Gazakrieg 2021, der sich im Mai zum ersten Mal jährt. Bei den elftägigen Auseinandersetzungen waren mindestens 256 ­Pa­lästi­nenser:innen, darunter 66 Kinder, getötet worden; auf israelischer Seite starben 13 Menschen, darunter zwei Kinder.

Hauptsache, es passt ins eigene Narrativ

Gerade deshalb kommt es absurd daher, dass Israel sich zwar symbolpolitisch mit der Ukraine solidarisiert, aber Parallelen zum Konflikt zu Hause so verzerrt werden, dass sie rhetorisch ins Narrativ passen. Das klingt dann in etwa so: „Das jüdische Volk wurde Jahrhunderte lang unterdrückt. Nun sind wir ein kleines Land, umgeben von feindlichen Mächten, die uns von der Landkarte tilgen wollen. Wir kämpfen für demokratische Werte und Zivilisation. Genau wie die Ukraine.“Arye Sharuz Shalicar, der deutsche Sprecher der israelischen Streitkräfte, fasst diese Wahrnehmung in einem einzigen Tweet zusammen:

 „Am Ende kämpft die Ukraine ALLEINE. Genau DAS macht Israel seit über 70 Jahren auch. In beiden Fällen ist das Gefühl der Existenzbedrohung kein theoretisches Blabla, sondern bittere Realität.

Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass Israel über eine der schlagkräftigsten Armeen der Welt verfügt, die seit Jahrzehnten auch auf politische und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland zählen kann, nicht zuletzt auf Waffenlieferungen aus Deutschland. Auch die regelmäßigen Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee an der palästinensischen Bevölkerung und der kontinuierliche Völkerrechtsbruch haben wenig mit Shalicars merkwürdiger Auffassung von Einzelkampf gemein.  Aber auch in der ukrainischen Auffassung wird Israel im Konflikt mit den Palästinenser:innen häufig als Underdog präsentiert, also als alleingelassene, unterlegene Macht, die sich dann doch heroisch verteidigen und gewinnen kann. Der ukrainische Präsident Selenskij trug zu dieser Verwirrung bei, indem er kürzlich ankündigte, nach dem Krieg werde die Ukraine sicherheitspolitisch wie Israel werden, mit einer Armee, die sich zu verteidigen wisse.

Wer wie Israelis und Palästinenser:innen in einer Konfliktzone lebt, wird bei einem Krieg in der Fremde unweigerlich versuchen, Verbindungen zum eigenen Konflikt herzustellen und diese mit Bedeutung für die eigene, subjektive Seite zu schwängern. Insofern mag die Reaktion beider Seiten auf den Krieg in der Ukraine wenig überraschen. Aber wo verblasst die Trennlinie zwischen solidarischer Identifikation und politischer Instrumentalisierung für die eigene Sache? In dem Moment, wo Gleichgültigkeit für das Schicksal der Anderen die Bühne betritt.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy