03.10.2022
Recht und Gerechtigkeit
Was ist Recht und ist das dann Gerechtigkeit? Grafik: dis:orient
Was ist Recht und ist das dann Gerechtigkeit? Grafik: dis:orient

Die globale Boycott, Divestment and Sanctions-Bewegung (BDS) wirft Fragen auf, findet Sophia Hoffinger. Was ist eine gerechte Verteilung von Rechten und wie bemisst sich politische Legitimität von politischem Widerstand in Deutschland?

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers „BDS im deutschsprachigen Raum“. Mit den Beiträgen wollen wir verschiedenen Zugängen zur Debatte um BDS in Deutschland Raum geben. Im Editorial gehen wir auf den Hintergrund des Dossiers ein und stellen euch die Beiträge vor.

„Ich sehe mich in Deutschland nicht auf der Anklagebank.“ So beginnt Prof. Achille Mbembe seinen „Brief an die Deutschen“, welchen er im Mai 2020 als Antwort auf die Kontroverse der „Causa Mbembe“, die sich in den mitunter sehr rassistischen Feuilletonspalten zutrug, verfasste. Vorgeworfen wurde dem kamerunischen Professor für politische Philosophie, dass er das südafrikanische Apartheidregime mit der Besatzungspolitik Israels vergleiche und der Boycott, Divestment, and Sanctions-Bewegung (BDS) nahestünde.

Der Bundesbeauftragte für Antisemitismus Felix Klein und der FDP-Politiker Lorenz Deutsch, Vorreiter derer, die sich gegen die Einladung Achille Mbembes zum internationalen Kunstfestival Ruhrtriennale aussprachen, argumentierten mit einer rechtlich nicht bindenden und umstrittenen Bundestagsresolution zu BDS, die jedoch laut Klein nicht mit der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in Deutschland kollidieren würde. Lediglich ginge es darum, die Normen der deutschen Erinnerungskultur auf deutschem Boden zu wahren und beides vor „Israel-bezogenem Antisemitismus“ zu schützen.

Die „Anklagebank“-Metapher, der sich Mbembe bedient, bietet einen Einblick in eine komplexe Dynamik der Rechteverteilung und scheinbar unversöhnlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit, wenn es um die BDS-Bewegung in Deutschland geht. Jedoch reiht sich die „Causa“ lediglich in eine Vielzahl von Fällen ein, in der vermeintliche Sympathisant:innen der BDS-Bewegung des öffentlichen Raumes verwiesen und als antisemitisch diffamiert wurden. Vorwiegend betroffen sind palästinensische und jüdische Aktivist:innen, Kulturschaffende, und Akademiker:innen, welche sich auch vermehrt über den Rechtsweg gegen den BDS-Beschluss des Bundestags und seine diskriminierenden Effekte stellen.

„Deutsche“ Verantwortung

Im deutschen Kontext, besonders auf politischer Ebene, wird die Legitimität der BDS-Bewegung primär durch eine deutsche Verantwortung, die aus dem Holocaust hervorgeht, geprüft. Diese limitierte geschichtliche Perspektive lässt jedoch keinen Raum für die komplexen Anliegen, Identitäten und Geschichten der Migrationsgesellschaft. Anstelle dessen wird eine oft weiße, deutsche Deutungshoheit mit Täter:innenhintergrund universal geltend gemacht. Essayist Max Czollek nennt diese Form der Deutungshoheit – bezogen auf diverse Kontexte – „deutsch“: eine Position der Dominanzkultur, in der diese „deutsche“ Perspektive auf Erinnerung und Verantwortung als einzig gilt.

Auch wenn Czollek diese Aussagen nicht mit BDS oder der Position von Palästinenser:innen in Deutschland in Verbindung brachte, sind seine Überlegungen wichtig, um zu verstehen, wie Macht und Deutungshoheit im Kontext deutscher Erinnerungskultur verteilt werden. Ebenjene Dominanz vermindert den Raum, vor allem für Palästinenser:innen sowie Jüdinnen und Juden in Deutschland, in dem Verantwortungen gegenüber dem Holocaust, Israel und Palästina, weiter verhandelt werden können. Eine tiefere Auseinandersetzung mit den Ursprüngen, politischen Allianzen und Forderungen der BDS-Bewegung bleibt durch den daraus entstehenden diskursiven als auch politischen Druck meistens aus.

Um die Motive der BDS-Bewegung nachvollziehen zu können, sind verschiedene historische und politische Bezüge von Bedeutung: der Boykott als Mittel des politischen Widerstandes wurde zum Beispiel von historischen Boykotten aus dem globalen Süden und der postkolonialen Welt inspiriert. Dazu zählen etwa der Steuer-Boykott von palästinensischen Arbeiter:innen in Beit Sahur während der ersten palästinensischen Intifada 1989, der Busboykott von Montgomery in Alabama 1955 und natürlich die südafrikanische Anti-Apartheid-Boykottkampagne der 1960er- und 1970er-Jahre. Historisch stellt sich BDS somit in eine Tradition antirassistischer, antikolonialer und unbewaffneter Widerstände, die versuchen, in die materiellen Grundlagen, welche gewaltvolle Systeme aufrechterhalten, zu intervenieren.

Von Widerstand zu „Recht“

Warum dreht es sich aber bei der BDS-Bewegung um Rechtsfragen für Palästinenser:innen? Und wieso führt die Forderung nach der Wahrung völkerrechtlicher Prinzipien zu Problemen in Deutschland? Um die unterschiedlichen Rechtsansprüche der Palästinenser:innen in der Diaspora mit denen im besetztem Gebiet und in Israel zu vereinen, bezieht sich die BDS-Bewegung auf Prinzipien von Völkerrecht, internationalen Menschenrechten und der Genfer Konvention.

Von besonderer Bedeutung sind hierbei drei Rechtsprechungen: das Rückkehrrecht für palästinensische Geflüchtete, welches gesondert von dem allgemeinen Menschenrecht auf Rückkehr (Artikel 13 (2), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) in UN-Resolution 194 festgelegt wurde; die Definition von Apartheid des Internationalen Strafgerichtshof im Römischen Statut von 1998; und das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag von 2004, welches die Sperranlagen, die während der zweiten Intifada 2002 vom israelischen Staat entlang der Grünen Linie (und darüber hinaus) gebaut wurden, als völkerrechtswidrig erklärte. Die Aneignung des Apartheidbegriffs zeigt dabei nicht nur die Tradition von antikolonialem Widerstand, in der sich BDS sieht, auf, sondern stellt eine Forderung dar: Einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss internationaler Widerstand folgen.

Basierend auf diesen Prinzipien erschließen sich drei Hauptforderungen der BDS-Bewegung: das Recht auf Rückkehr, gleiche Rechte für palästinensische Staatsbürger:innen Israels sowie das Ende der Besatzungspolitik. Gerade die erste Forderung wird von Kritiker:innen oft als Angriff auf das Existenzrecht Israels als jüdischen Staat gesehen, da mit der Rückkehr von Palästinenser:innen aus der Diaspora eine jüdische Mehrheit nicht mehr wahrscheinlich wäre. Eine Vision, wie so eine Rückkehr konkret aussehen und wie mit dem Staatskonstrukt als solchem zukünftig umgegangen werden sollte, hat die BDS-Bewegung bis dato nicht vorgegeben.

Wichtiger für die Bewegung ist es, dass anerkannt wird, dass Palästinenser:innen unter internationalem Recht Rechte zustehen und dass sich der Globale Norden einer daraus entstehenden Verantwortung stellt. Abgesehen von Rechten bedarf es nämlich politischem Willen, um diese Rechte mobilisieren zu können. Wenn die Sicherheit Israels, so wie vom Bundestag definiert, deutsche Staatsräson ist, dann zeigt der Bezug auf internationale Abkommen und völkerrechtliche Prinzipien auf, dass eben jene Rechte nicht universal und nicht in Deutschland geltend gemacht werden.

Ein „Recht“ auf Boykotte?

Im Juli 2020 verkündete der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Urteil über den Fall Baldassi u.A. gegen Frankreich, in dem neun Jahre lang elf französische BDS-Aktivist:innen vor Gericht standen, die unter anderem mit Flugblättern zum Boykott israelischer Waren in zwei französischen Supermärkten aufgerufen hatten und dafür in Frankreich verurteilt wurden.

In letzter Instanz entschied der EGMR, dass es sich bei der Protestform der Angeklagten, also dem Aufruf zum Boykott, nicht um einen Aufruf zur Diskriminierung, sondern um einen Ausdruck der politischen Meinung und einen Aufruf der Andersbehandlung handelte. Somit wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung der Aktivist:innen in Frankreich durch das vorherige Urteil ungerechtfertigt eingeschränkt. In diesem Prozess geht es also primär darum, dass es ein Recht auf BDS als Form einer politischen Meinungsäußerung gibt.

In Deutschland stehen ähnliche Fragen nach dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit von BDS-Aktivist:innen im Raum. 2017 stellten sich die Stadträte in München und Frankfurt gegen die BDS-Bewegung. Im Sommer 2019 wurde dann auch auf Bundesebene eine Resolution verabschiedet, die es sich zum Ziel machte, „der BDS-Bewegung entschlossen entgegen [zu] treten.“ Jene kontroverse Bundestagsresolution stuft BDS explizit als antisemitisch ein und fordert, dass der Bewegung keine öffentlichen Gelder und Räume zur Verfügung gestellt werden sollen. Gegen diesen Platzverweis klagte unter anderem die Gruppe Bundestag 3 für Palästina (BT3P). Sie sah in der Bundestagsresolution einen klaren Verstoß gegen ihre im Grundgesetz verankerten Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit.

Obgleich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages im Dezember 2020 der Gruppe recht gab, dass eine Auslegung des Bundestagsbeschluss als Gesetz im Widerspruch zum Grundgesetz steht, werden Zusammenkünfte, die in direkter oder indirekter Beziehung mit BDS stehen, regelmäßig unter Druck abgesagt. Während die Klage gegen die Bundestagsresolution im Oktober 2021 vom Berliner Verwaltungsgericht abgewiesen wurde, mit dem Hinweis, dass diese unbegründet sei, entschied das Bundesverwaltungsgericht im Januar 2022, dass die Stadt München der BDS-Bewegung Räumlichkeiten zur Verfügung stellen müsse und ein Verbot die Meinungsfreiheit unzulässig einschränke.

In diesem Spannungsfeld wird die Frage ausgehandelt, ob Menschen in Deutschland ein Recht darauf haben, sich an Boykottkampagnen zu beteiligen und ob diesem Recht die nötige Legitimität eingeräumt wird, um es ausüben zu können. Dass so flächendeckend gegen BDS vorgegangen wird, öffnet auch Diskussionen über die spezifischen Formen von Diskriminierung, die Palästinenser:innen in Deutschland erfahren.

Boykott – Gegenboykott

Solche Fälle von Ausschluss, gegen die BT3P klagte, legen eine Dynamik von Boykott und Gegenboykott dar: Wer sich nicht von BDS distanziert, wird boykottiert. Mitunter betraf das auch jüdische Personen und Gruppen, wie die jüdisch-deutsche Sängerin und Schauspielerin Nirit Sommerfeld und das Kunstprojekt „School for Unlearning Zionism“, denen von deutschen Institutionen Antisemitismus vorgeworfen wurde. Letztere antwortete mit einem Social Media-Post und beklagte die deutsche Diskurshoheit über Antisemitismus, worunter nur „gute Juden und Jüdinnen“ als vollwertig genommen werden. Antizionistische Pluralität und Antagonismus, welche die Praxis der  deutschen Erinnerungspolitik kritisieren oder versuchen, neu zu denken, werden ebenso ausgeschlossen.

Das Spannungsfeld um die Nähe zum Boykott erreichte einen bisherigen Höhepunkt in der sogenannten „Causa Mbembe“. Als auch hier die Bundestagsresolution zu BDS herbeigezogen wurde, um den Ausschluss von Mbembe zu rechtfertigen, wurden national und international Stimmen laut, die Deutschlands Strategie, BDS als „politischen Lackmustest“ zu benutzen, scharf kritisierten.

Hinzu kam im Spätherbst 2020 die von zahlreichen öffentlichen Kultur- und Wirtschaftseinrichtungen Deutschlands veröffentlichte Initiative GG. 5.3 Weltoffenheit, welche aus einer institutionellen Machtposition heraus versucht, dem näherkommenden BDS-Verbot entgegenzuhalten. Indem aufgezeigt wurde, was für Folgen eine de jure-Anwendung der Bundestagsresolution auf die Arbeit von Kulturschaffenden und Wissenschaft hätte, wurde die Debatte um BDS ausgeweitet auf eine, welche die wissenschaftliche und künstlerische Freiheit in Deutschland zum Gegenstand hatte.

Die Gegenklage

Achille Mbembe beugt sich zwar nicht der deutschen Anklagebank, aber die Aushandlung, ob es ein „Recht auf BDS“ in Deutschland gibt, macht deutlich, dass es eben um eine christlich-deutsch geprägte Deutungshoheit im Streit um BDS geht. Boykotte im Sinne von BDS werden in dieser Lesart nicht als legitime Widerstandsstrategie gegen systematische Unterdrückung verstanden, sondern als weitere Form von Antisemitismus eingestuft. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft und ihre (nicht-jüdischen) Antisemitismusbeauftragten dürfen somit über die Köpfe von Betroffenen hinweg bestimmen, welche Gruppen und Personen antisemitisch sind und wie Palästinenser:innen ihre Rechte einfordern können.

Solidaritäten zwischen migrantischen, jüdischen und palästinensischen Gruppen, wie dem Jewish Bund, der Jüdischen Stimme und Palästina Spricht, sowie deren kritischen Interventionen in die gegenwärtige Erinnerungspolitik, stören solche Dynamiken und zeigen genau auf, wo und bei wem die Grenzen der freien Meinungsäußerung gelegt werden, wenn es um Palästina in Deutschland geht.

 

 

Sophia Hoffinger ist Doktorandin in Rechts- und Sozialanthropologie an der University of Edinburgh (auf Teilzeit). Seit 2018 beschäftigt sich ihre Forschung mit deutschen Diskursen zur Palästina-Solidarität  – insbesondere in rechtlichen Kontexten  – und geht dabei der Frage nach, wie Recht, Rassismus und Gerechtigkeit in aktivistischen und...
Redigiert von dis:orient-Team